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Die Nummer gegen Kummer
Es war einer dieser besonders ekelhaften Mittwochabende. Der Himmel war pechschwarz, ein Gewitter gigantischen Ausmaßes zog über die Stadt. Ein Sturm peitschte, wie ich ihn noch nie zuvor erlebt hatte. Ich hatte es mir mit einer Kanne Kakao auf dem Sofa bequem gemacht, als plötzlich das Telefon klingelte.
Ich wußte nicht, wer anrief. Ich wußte nur, daß es jemand war, der seelischen Beistand brauchte. Vor einem Jahr hatte ich bei der Telefonseelsorge als fürsorglicher Tröster und Retter in der Not angefangen. Ich hatte immer die Nachtschicht, so auch heute. Nachts erzählen dir die Menschen viel mehr als tagsüber. Sie kehren ihr innerstes nach außen, ihre Seele wird ein offenes Buch. Es ist nicht der Voyeurismus, der mich das machen läßt. Es ist aber auch nicht das Bedürfnis, Menschen helfen zu wollen. Es ist auch nicht das Geld, da dieser Job ehrenamtlich ist. Ich weiß nicht, was es ist, aber ich bin gern der einsame Tröster in der Nacht.
Wer bei der Telefonseelsorge zu dieser Nachtzeit anrief, wurde automatisch zu meinem Apparat umgeleitet. Ich war auf das übliche Programm gefaßt: Trennung, Vergewaltigung, Tod eines Bekannten, Suizidversuch. Doch was dann folgte, hatte ich beim besten Willen nicht erwartet.
Nachdem das Telefon ein paar Mal gebimmelt hatte, hob ich den Hörer ab und meldete mich mit der üblichen Floskel.
"Telefonseelsorge, schönen guten Abend. Dieser Anruf ist kostenfrei. Sollten Sie Schwierigkeiten haben, die sich innerhalb dieses Gespräches nicht klären lassen, werden wir Ihnen Adressen von Organisationen durchgeben, bei denen Sie persönliche Hilfe erhalten. Mein Name ist Maike, wie kann ich Ihnen helfen?"
Mittlerweile kann ich diesen Satz abspulen wie ein Tonband. Ich bemerkte erst jetzt ein leises Zischen in der Leitung, das mir unangenehm auffiel.
"Ich hab das Gas aufgedreht." Die Stimme klang männlich, vielleicht Ende Zwanzig. Sie war warm, freundlich, ein bißchen verzweifelt, aber nicht hoffnungslos.
"Seit wann läuft es schon?" fragte ich leise.
"Seit einer Stunde." Das Zischen in der Leitung verstummte. "Jetzt habe ich es abgedreht."
"Wo sind Sie gerade?" wollte ich wissen.
"In der Küche", antwortete er. Wieder in diesem freundlichen Tonfall - es war die Tonart, die wildfremde Menschen schlagartig zu Freunden machen kann.
Ich erkannte die Situation. Er stand in seiner Küche, mit großer Wahrscheinlichkeit war nun die ganze Wohnung voll mit Gas. Nur der Kühlschrank mußte anspringen, und er flog mitsamt seiner Habe in die Luft. Grausam.
"Wie heißt du?", fragte er mich plötzlich.
"Ich bin Maike. Ich kann dir helfen", antwortete ich routiniert. "Und wer bist du?"
"Tommy. Aber mir kann keiner mehr helfen. Sie hat mich verlassen."
Mein anfängliches Erstaunen wich allmählich. Nur eine Beziehungskrise. Ich befand mich jetzt wieder in gewohnten Gewässern, wußte, was zu tun war.
"Wer hat dich verlassen?", fragte ich weiter.
"Na, sie. Acht Jahre waren wir zusammen. Und jetzt - alles ist wie weggewischt. Tot."
Er hustete, behielt aber die ganze Zeit über seine liebevolle Stimme.
"Wie hieß sie denn?" Ich begann wie schon tausendmal zuvor, alles zu erfahren, was wichtig war.
"Katja."
Bevor ich etwas entgegnen konnte, fuhr er fort. "Ich hab mich nicht immer ganz astrein benommen, aber deswegen hätte sie doch nicht gehen müssen..." Dieser Satz klang verständnislos, trotzig, beinah beleidigt. Das Gespräch begann interessant zu werden. Ich lehnte mich zurück, zündete mir eine Zigarette an und war gespannt auf seine Geschichte.
"Inwiefern hast du dich nicht ganz astrein benommen?" hakte ich nach.
Ich hörte ein leises Prusten, das vor Überheblichkeit nur so strotzte. Die Antwort ertönte trotzdem ich der runden, weichen, sympathischen Stimme.
"Ihr Frauen habt ein Problem: Ihr seht alles viel zu eng. Ihr laßt den Männern nicht die Freiheiten, die sie haben und brauchen. Es ist für uns nun mal ein Unterschied, ob wir Pils oder Weizen trinken. Ob wir Borussia Fulda oder Borussia Dortmund mögen. Ob wir die WM gucken oder die EM. Das ist für euch Weiber alles das gleiche. Das merkt ihr nicht mal mehr. Nur brauchen wir Männer mehr, als ihr es uns geben könnt."
"Aha", machte ich. Der Regen donnerte gegen die Scheiben. "Und wie hast du dir das besorgt, was du gebraucht hast?"
"Ich habe es mir genommen."
"Was hast du dir genommen?"
"Was Männer halt so brauchen ab und zu."
"Wir reden aber nicht von Fußball, oder?"
"Nein."
"Sondern?"
Stille.
Schließlich preßte Tommy es raus. Zögerlich, aber bestimmt: "Das Körperliche eben."
Langsam wurde mir klar, was ich da für einen Kerl in der Leitung hatte.
"Und wie hast du dir das Körperliche genommen, was du so dringend gebraucht hast?", forschte ich nach.
"Ich habe Katja gezwungen. Zwei-, dreimal", sagte Tommy.
Ich atmete tief durch. Meine schlimmsten Befürchtungen wurden soeben bestätigt.
"Was hast du ihr angetan?", fragte ich weiter.
"Ich habe sie geschlagen! Nicht nur einmal! Weil sie nicht akzeptieren konnte, daß auch ich Bedürfnisse habe! Was hätte ich tun sollen? Ich hatte ein Recht darauf, wie es jeder Mann hat!" polterte Tommy los.
Ich mußte mich schwer zusammenreißen bei dem, was ich da hörte.
"Wie schwer hast du sie verletzt?" fragte ich, langsam wütend werdend.
"Keine Ahnung. Nichts wildes. Schürfwunden. Blaue Augen, vielleicht ein Jochbeinbruch. Ein, zweimal ein gebrochener Arm." Er klang ruhig und gefaßt, als wären solche Gewalttaten in einer Beziehung völlig normal.
"Und diese Schlampe hat mich jetzt einfach verlassen! Was bildet sich diese dumme Kuh eigentlich ein?" brüllte er los. Seine Stimme klang auf einmal gar nicht mehr warm und freundlich.
Ich erinnerte mich an damals. Ich entschied mich zu etwas, das ich seitdem nie bereut habe.
"Beruhige dich erstmal", sagte ich.
"Ich versuchs ja!" rief Tommy. "Aber diese dämliche Tussi hat mich wegen nichts und wieder nichts verlassen!"
"Ich weiß. Wir versuchen jetzt gemeinsam eine Lösung zu finden, OK? Steck dir erstmal eine Zigarette an, dann wirkt gleich alles viel entspannter", schlug ich vor.
"Ja... ja, du hast recht." gab er zu.
Ich vernahm durch die Muschel das typische Geräusch, das entsteht, wenn man mit einem Feuerzeug eine Flamme entzündet. Dann für einen Sekundenbruchteil einen infernalischen Lärm. Nicht lange. Einen Wimpernschlag lang etwa. Dann war in der Leitung nur noch Rauschen.
Er war genau so ein Schwein wie Frank. Der Frank, dem ich es zu verdanken hatte, daß ich auf dem rechten Auge blind war. Es hatte Frank nicht mehr gereicht, mich zu verprügeln. Und ich bin mir sicher, auch Tommy hätte das Verprügeln irgendwann nicht mehr gereicht.
Unaufhörlich raste das Unwetter über die Stadt hinweg.