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Learning to fly
Lindsay Allen stand abseits am Rand des Gehsteigs und spähte durch die Menge der vorbeiströmenden Schüler. Die Teenager waren allein oder in Gruppen unterwegs, zu Fuß, als wilde Horde auf Fahrrädern, die ganze Breite der schmalen Straße in Besitz nehmend. Die Luft war erfüllt von ihrem Stimmengewirr, von vereinzelten Rufen und dem Gejohle, das wie Kampfgeschrei in Lindsays Ohren klang.
Im Pulk der Radfahrer erblickte sie Megan Carrs widerspenstigen, blonden Haarschopf.
Feine Strähnen wehten um die mit schwarzem Samt bespannte Reiterkappe, die sie anstelle eines Helms trug. Lindsay wandte sich ab und fischte eine Zigarette aus der zerdrückten Schachtel in ihrer Jackentasche. Sie schirmte ihr Gesicht mit einer Hand ab, zündete das Ding an und wünschte sich, sie könne in der Menge untergehen.
„Hey Lindy. Lindy Allen!“ Megan brachte das Fahrrad neben der Klassenkameradin zum Stehen. „Hat dein Typ dich versetzt, oder wartet er diesmal an ner anderen Ecke? Ist doch dein Lover, oder?“
„Hi Meg.“ Lindsay füllte sich den Mund mit Rauch und blies ihn in die Luft. Mit dem Inhalieren klappte es noch nicht so, und Lindsay wusste auch nicht, ob sie das überhaupt wollte.
Sie trug die gleiche Schuluniform wie Megan, nur waren die Ärmel von Megans dunkelroter Wolljacke hochgeschoben, und die weiße Bluse soweit aufgeknöpft, dass man das Tal zwischen ihren Brüsten sehen konnte. Sie sieht darin aus wie eine Diva, dachte Lindsay, deren eigene Uniform sie einschnürte wie ein Korsett. Sie nahm die Tasche auf, die zwischen ihren Beinen stand, und setzte sich in Bewegung.
„He! Warte doch!“ Megan ließ sich auf ihrem Rad langsam neben Lindsay herrollen. „Kannst es doch sagen. Ich find’s toll. Bist ja ein ziemliches Mauerblümchen, und jetzt holt dein Typ dich mit dem Auto ab. Ich meine, WOW, das ist doch was!“
„Hast du Lucy gesehen?“
„Lucy Talwin?“, fragte Megan spöttisch.
Genausogut hätte sie "Scheiße" sagen können, dachte Lindsay.
Sie bewegten sich die Straße entlang, trieben mit dem Strom.
„Also sag schon. Wie alt ist der Typ? Hat er Erfahrung? Macht ihr’s schon zusammen?“
Da war sie wieder beim Thema, dachte Lindsay.
„Thommy braucht sich gar nicht einfallen lassen, aufzuhören, bevor er’s mir richtig besorgt hat; das schwör ich dir, Lindy.“
Lindsay schwieg. Sie ging mit gesenktem Kopf weiter und drückte ihre Schultasche an sich, als enthielte sie einen wertvollen Schatz.
„Ich bekomm’s sowieso raus“, bohrte Megan weiter, „ich mein, wer er ist. Kannst es ruhig sagen. Er ist nicht von hier, stimmt’s? Ich seh sowas. Ich hab den Aufkleber gesehen. Auf seinem Auto.“
Sie erreichten Southwold Park. Eine niedrige Mauer aus Natursteinen grenzte ihn von der Straße ab, dahinter Rosensträucher, eine flach abfallende Rasenfläche, in einiger Entfernung ein Kiesweg. Lindsay stieg auf die Mauer, so wie sie als Kind auf fast jede Mauer gestiegen war. Sie balancierte auf ihr, nur dass sie dieses Mal nicht die Arme ausbreiten und sich so frei wie ein Vogel fühlen konnte. Ihre Tasche hinderte sie daran. „Windermere“, sagte sie und biss sich auf die Lippe.
Megan stieß einen Pfiff aus. „Lake District, alle Achtung. Ist ja ne ganze Ecke weg. Wo hast du ihn kennengelernt?“
Megan würde sie nicht verstehen. Reden konnte sie nur mit Lucy, und die war nicht da. Lindsay flog solo. Sie setzte zu einem Sprung über das Rosenbeet an und landete sicher auf der anderen Seite. „Ich muss los“, rief sie, „bye, Meg.“ Sie warf ihre Zigarette weg und lief los, ehe Megan sie mit weiteren Fragen löchern konnte. Eigentlich hätte sie gleich zu dem Haus in der Whitechapel Street gehen sollen, in dem ihre Wohnung, nicht aber ihr Zuhause war. Stattdessen rannte sie den Kiesweg runter, bis zu einem künstlich angelegtem Teich, an dessen Ufer eine Bank neben einem windschiefen Papierkorb stand. Außer Atem setzte sie sich. Sie musste nachdenken. Sie erinnerte sich an das Gespräch vom Sonntag, mit ihrer Mutter. Es war in ihrem Zimmer, in der sterilen Londoner Stadtwohnung, die so gar nicht wie das Haus am Windermere war, von dessen Terrasse aus man bei klarem Wetter bis zum anderen Ufer des Sees sehen konnte. In ihrem neuen Zimmer hingen keine Poster an den Wänden, das einzige Bild an der Wand war ein Foto, das sie mit ihrem Vater zeigte, im Hintergrund der See.
„Du musst dich eben anpassen“, sagte ihre Mutter in dem trockenen, warnenden Ton, den sie bei solchen Gesprächen stets anschlug. „Das muss ich auch. Glaub bloß nicht, dass für mich alles leicht ist.“ Sie stand am Fenster. Das helle Mittagslicht schien durch den Stoff ihrer Bluse; Lindsay konnte die Silhouette ihres Körpers sehen und bemerkte zum ersten Mal, wie dünn sie seit dem Umzug geworden war. Wenn sie jetzt ihren Plan in die Tat umsetzte, wäre ihre Mutter traurig, und das wollte Lindsay nicht. Sie öffnete ihre Schultasche und nahm die kleine Dose heraus, die ihr Spargeld enthielt. Sie öffnete die Dose, nahm das aufgerollte Bündel mit den Fünf- und Zehn Pfund Noten heraus und verstaute es in ihrer Hosentasche. Lindsay musste das Geld nicht zählen, sie wusste, wieviel es war. Für eine Zugfahrt würde es reichen.
Whitechapel Street oder King’s Cross Station? Sie blickte auf den Teich mit dem Brackwasser, dachte an Windermere und ihren Vater, der einen Stein so werfen konnte, dass er drei- oder viermal von der Oberfläche des glasklaren Seewassers abprallte, ehe er versank. Du musst dich eben anpassen, das hatte ihre Mutter auch zu ihm gesagt. Lindsay hatte es von ihrem Zimmer aus mit anhören müssen, in den unzähligen Streitgesprächen, bei denen es immer darum ging, dass ihr Vater keinen neuen Job fand und sein Atem schon am Nachmittag nach Bier roch. Und weil er sich nicht anpassen wollte, war ihre Mutter schließlich mit ihr nach London gezogen. Lindsay zog die Zigarettenschachtel aus ihrer Jacke, drehte sie zwischen den Händen und betrachtete das Logo: zwei Löwen, die einen Schild hielten, in der Mitte ein Stern. Es war die Marke, die ihr Vater rauchte. In hoc signo vinces stand darunter, in diesem Zeichen wirst du siegen. Nicht ganz, dachte Lindsay und warf die halbvolle Packung in den Papierkorb. Leider nicht ganz.
Der gellende Schrei eines Adlers erklang, und Lindsay blickte zu dem Vogel auf, der am wolkenlosen Himmel stolz seine Kreise zog. Sein Schatten glitt über sie hinweg. King’s Cross oder Whitechapel Street? Sie stand auf, streifte ihre Uniformjacke ab und warf sie achtlos zu ihrer Tasche auf die Bank. Sie war ihr zu eng. Lindsay rannte los. Sie hob ab und flog.