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Im Zweifel für den Angeklagten

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11.01.2002
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Im Zweifel für den Angeklagten

Ich ging am späten Abend durch den Stadtpark nach Hause, als vor mir ein dünner Mann auf den Weg sprang. “Hey du. Wenn du hier vorbei willst, kostet das 10 Euro.”
“Warum?” Ich blickte mich um, bis zur Straße waren es 40 Meter und keiner sah uns.
“Jetzt kostet es 20.” Ein Zweiter stand plötzlich hinter mir im fahlen Licht einer Laterne. “Bearbeitungsgebühr für dumme Fragen.”
Er hob die Faust und ich reichte ihm meine Brieftasche. Meiner Meinung nach gibt der Klügere nach, vor allem wenn sein Gegenüber zwei Meter groß ist und sich verfassungsfeindliche Symbole auf die Knöchel tätowiert hat.
“Halt, Polizei!” Eine Taschenlampe blendete mich, dann stürmten Polizisten auf uns zu. Hier in unserem Land wacht das Auge des Gesetzes also auch Nachts, triumphierte ich, während die tapferen Beamten den beiden Schmarotzern Handschellen anlegten. Ein Mann in Zivil kam auf mich zu: “Gestatten, Kommissar Feske. Hier Ihre Brieftasche.”
“Kompliment.” Ich schüttelte ihm die Hand. “Aber wie konnten Sie so schnell hier sein?”
“Kameras.” Er wies nach oben, von einem Mast herab sah ich ein Objektiv auf uns gerichtet. “Für jeden sichtbar, aber heutzutage sind selbst die Verbrecher verblödet. Abführen.”
Als er Kameras hörte, stemmte der Dünne sich plötzlich gegen die Fesseln. “Moment, Herr Kommissar, verdeckte Überwachung ist in Deutschland nicht zulässig, habe ich gestern noch in der Zeitung gelesen.”
“Du kannst doch gar nicht lesen”, brummte Feske. “Außerdem steht hier ein Hinweisschild ... verdammt, wo ist es denn?” Er kratzte sich am Kopf.
Einer der Beamten räusperte sich. “Vandalen haben es angezündet, es wird morgen ersetzt.”
“Ich kenne meine Rechte.” Auf den Wangen des Dünnen leuchteten rote Flecken. “Niemand darf beobachtet werden, wenn er es nicht weiß. Die gewonnenen Informationen sind strafrechtlich sonst nicht verwertbar.”
“Ist doch jetzt egal”, sagte Feske.
“Okay. Dann schreiben Sie egal, wenn ich eine Dienstaufsichtsbeschwerde mache.”
Kommissar Feske wurde puterrot, dann grunzte er. “Lasst sie laufen.”
"Was?", rief ich und konnte es nicht fassen, "diese Leute sind schuldig. Wir wissen es beide!”
“Der Mann ist im Recht”, sagte Feske. “Außerdem sind wir in Deutschland – wenn die beiden publik machen, dass wir heimlich beobachtet haben, wird’s in der Presse heißen, die Polizei überwacht mit Big Brother Methoden. Eine Woche später wird die 20 000 Euro teure Anlage wieder abgerissen und niemand traut sich mehr, nachts durch den Park zu gehen.” Er drehte sich um und tippte an seine Mütze. “Wenn noch was ist, wählen Sie die 110.”
“Momentchen”, rief der Dünne, dessen hageres Gesicht immer mehr einer Ratte zu ähneln schien, “wir sind noch nicht fertig. Ich verlange die Wiederherstellung der Ausgangslage! Geben Sie die Brieftasche zurück, die Sie als Folge des illegitimen Zugriffs konfisziert haben – oder ich mache Sie persönlich haftbar.”
“Sonst müssen wir mal damit an die Öffentlichkeit”, sagte der Hüne, ein Grinsen erhellte sein bis dahin ausdrucksloses Mondgesicht. “Harmlose Bürger bespitzeln ...”
Der Kommissar seufzte, dann ging er auf mich zu und streckte die Hand aus.
“Nein,” röchelte ich, meine Knie zitterten.
“Na los, Mann, halten Sie mich nicht von der Erfüllung meiner Dienstpflicht ab. Tun Sie es im Interesse der Allgemeinheit.”

An das folgende Geschehen kann ich mich nur vage erinnern. Die Anklage lautete auf Widerstand gegen die Staatsgewalt und Beleidigung eines Polizeibeamten einschließlich seiner Familie bis ins vierte Glied. Ich leugnete, aber sie hatten alles auf Video.

 

Hehe. Gefällt mir sehr gut. Wunderbar lakonischer Stil, flüssig zu lesen, inhaltlich stimmig.

“Halt, Polizei.”
Hier fände ich ein Ausrufezeichen ausnahmsweise angebrachter.

Ginny

 

Zwar hätte der Brieftaschenbesitzer seinerseits die selben Rechte wie die zwei Ganoven für sich geltend machen können,
aber das trübt nicht den Genuss.
Andererseits - zu dem Zeitpunkt, als er ausgerastet ist, wusste er ja über die Videoüberwachung schon Bescheid (durch die Polizisten).
Vielleicht könnte man das noch in den Schlussabsatz einbauen, als zusätzliche Pointe - dass er versucht, die selbe Masche abzuziehen, und aus obigem Grund scheitert.
Ich glaube, damit würde mir diese schon jetzt lustige Story noch besser gefallen.

Gruß

Ben

 

Prima. Seit langem mal wieder was Anständiges zwischen die Äuglein gekriegt. Habe mich sehr amüsiert und musste sogar an zwei Stellen laut auflachen:

wir sind noch nicht fertig. Ich verlange die Wiederherstellung der Ausgangslage! Geben Sie die Brieftasche zurück, die Sie als Folge des illegitimen Zugriffs konfisziert haben – oder ich mache Sie persönlich haftbar.”
Die Anklage lautete auf Widerstand gegen die Staatsgewalt und Beleidigung eines Polizeibeamten einschließlich seiner Familie bis ins vierte Glied.
Fraglich ist nur, ob das Gelächter mehr durch Satz-Stil oder Inhalt verschuldet wurde...

 

“Halt, Polizei!” Eine Taschenlampe blendete mich, dann stürmten Polizisten auf uns zu.

Das Ausrufezeichen habe ich eingesetzt. Vielen Dank für eure Beiträge.

 

Hallo Quasimodo666!

Mir hat deine Geschichte auch sehr gut gefallen.
Ich verstehe jetzt, was du an meinen nicht so gut findest :-)
(nur mal so nebenbei, dumdidum...)

Gruß
Elbenherrin

 

Jau supergeile Geschichte!! Hat mich alles irgendwie an den Fall Kaplan erinnert. Der deutsche Rechtsstaat steht sich selbst durch seine Gesetze im weg. herrlich dargestellt an diesem Beispiel :thumbsup:

Wirklich schön zu lesen, kurz und knackig. und unwiderruflich eine Satire. Und alleine das will schon was heissen!

mfg Nightwatcher

 

Hach, dass ich das noch erleben darf, in meinem hohen Alter als Satiremod.

Eine Satire! :bounce:

*staun und glücklich bin*
Fein gemacht,sehr sinnig und gefällt mir so gut, dass ich sie höchstpersönliche in die Empfehlungen setzen werde, obgleich ich gestehe, dass mir das Genre aus bestimmten persönlichen Gründen, die ich hier unbedingt nicht erwähnen will, besonders am Herzen liegt. ;)

Die Frage, ob du am Ende der Story erwähnen solltest, dass dein Protagonist sich ansich auch auf Straffreiheit berufen kann, weil man auch ihm wegen der illegalen Überwachung nichts beweisen darf, er aber nun ja vor seiner Tat weiß, dass er beobachtet wird und somit mit dieser illegalen Überwachung vertraut war und sie inzidenter genehmigt hat, sollten vielleicht noch ein paar mehr Nichtjuristen hier beantworten. (Achtung :lakitanischer Bandwurmsatz!)
Für alle anderen ist es eher einsichtig , so wie es jetzt da steht und bedarf deshalb keiner Verbesserung.
Also, ich würde an der Geschichte jetzt nichts ändern.

Lieben Gruß
lakita

 

Die Frage, ob du am Ende der Story erwähnen solltest, dass dein Protagonist sich ansich auch auf Straffreiheit berufen kann,
Im Idealfall ergibt sich das aus dem Text; eine Erklärung würde hier nur das Tempo rausnehmen und wirkt besonders bei einer relativ kurzen Geschichte störend. Ich finde, man kann nur hoffen, dass alles verstanden wird, oder eine andere Geschichte schreiben, rumflicken mit Erklärungen hilft nicht.

 

:thumbsup:

Ich habe mich ebenfalls sehr amüsiert; gut: die schnellen Wendungen - hier ist nichts Überflüssiges; den Schluss lass ruhig, er kommt präzise und als Punkt - alles andere würd ihm die Kraft nehmen.

 

Finde die Idee gut, was mich aber an der Basis der Geschicht zweifeln läßt, ist die Tatsache, daß die Polizisten eigentlich als Zeugen bei dem Diebstahl fungieren könnten. D.h. sie könnten bezeugen, daß der Dünne die Brieftasche des Opfers hatte.

Damit brauchen sie keine Kamera, oder? Oder sie rufen einen dritten, der "einfach in der Nähe war" und damit nicht wegen der Kamera und der ist dann Zeuge.
So hätte der Prot mindestens seine Brieftasche wieder zurück bekommen, wenn sie denn Dünnen auch nicht eingelocht hätten.

Insofern ergibt sich für mich eher ne gestellte Szene, die absurd ist, aber nicht vorkommen kann und das trübt die Stimmung ein bissl.
Vielleicht könnte man das irgendwie noch einbringen, sonst hätte ich das Gefühl, es ist die Blödheit des Prot, die die Geschichte so grotesk werden läßt und das wäre schade.
tschao mac

 

Ich bin selbst kein Jurist, habe aber mal gehört, Beweismittel dürfen nicht verwertet werden, wenn sie nicht rechtmäßig zur Kenntnisnahme der Beamten gelangten.

Nehmen wir an, die Polizei hat einen Durchsuchungsbefehl für die Wohnung des A. A ist nicht zuhause und sie brechen die Tür auf und finden Heroin. Dann kommt der Besitzer der Wohnung nach Hause und es stellt sich heraus, dass er B. heißt. Die Beamten haben die Wohnung verwechselt und aus Versehen die Tür von B aufgebrochen. Frage ist, ob sie dann die Beweismittel verwerten dürfen, sprich eine Anzeige wegen des Heroins machen dürfen.

Wenn ein Anwalt hier ist, bitte antworten, man lernt immer gern dazu. ;)

 

Als jemand, der tagtäglich in einer Behörde arbeitet und auch schon viele Straf- und Sozialgerichtsprozesse als Zeuge hinter sich hat, darf ich sagen: Die Satire trifft genau den Kern einer extremen Schwachstelle unseres Systems. Unabhängig davon, ob in diesem Fall die konkrete Rechtslage stimmt (und sie ist nicht so falsch, auch wenn ich hier kein Gutachten schreibe).

Schon so manche sachlich (für Juristen: "materiell") richtige und gerechte Entscheidung wurde aufgrund von Formfehlern, wo sich jeder (nichtjuristische) Mensch ans Hirn fassen würde, aufgehoben. Leute, die nicht nur eine kleine Strafe bekommen hätten, grinsen sich eins beim Zug aus dem Gerichtssaal, auch wenn sie manchmal nicht recht verstanden haben, warum sie eigentlich nicht bestraft wurden. Solche Fälle werden meist nicht an die große Glocke gehängt (man will ja nicht noch andere animieren), aber es gibt sie in Massen.

Ich hab die Geschichte mehreren Kollegen gezeigt und sie waren begeistert. Es ist ja auch eine Satire und kein Beitrag zur "Neuen juristischen Wochenzeitschrift", also ist sie so wie sie ist genau richtig. Ein reales Problem wird satirsch überspitzt lächerlich gemacht. Satire in Reinform und perfekt. Sollte im Jurastudium Pflichtlektüre werden, v.a. für zukünftige Richter.

 

Hallo Quasimodo666,

kurz, treffend, knackig!
Endlich mal eine Satire mit einem wichtigen Thema und Biss. (Leider ist die Kameraüberwachung eine Kleinigkeit gegenüber anderen technischen Möglichkeiten wie Handy und Internet).

Gut gemacht!

L G,

tschüß Woltochinon

 

Hallo Quasimodo666,

welch teuflischer Nick, aber auch ein teuflisch gute Geschichte. Eine der besten, die ich in letzter Zeit gelesen hab. Respekt!

lg

scribine

 

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