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Als das Eis zerbrach
Heftiger Wind zerrte an den Wolken. Riss sie auseinander.
Die Sonne drängte ihre heißen Strahlen dazwischen und ließ die letzten Regentropfen schon fast in der Luft verdampfen.
Hilde hatte zu diesem Zeitpunkt nicht viel Sinn für das Schauspiel der Natur.
Sie sah zwar den Kampf zwischen Licht und Schatten. Sah den Dampf, den der feuchte Waldboden zum Himmel schickte, damit er sich dort wieder mit den Wolken vereinen konnte.
Doch sie sah auch das silberfarbene Auto, das sich auf erschreckende Weise, mit einem Baum verbunden hatte.
Um ihr aufgewühltes Inneres zu beruhigen, schloss Hilde für einen Moment die Augen und sog ihren Atem tief in sich hinein.
Nein, es ging nicht um den zertrümmerten Wagen. Sie dankte Gott, dass sie mit ihrem Mann dort lebend herausgekommen war. Erkannte das Glück, in dieser gottverlassenen Gegend, nur einige Schritte vom Unfallplatz entfernt, das kleine Gasthaus gefunden zu haben.
Hilde drückte ihre Fingerspitzen an die Schläfen, um die aufkommenden Kopfschmerzen zu verbannen.
Wie hatte Karl sich nur so verfahren können? Und dann dieser plötzliche Regen. Als hätten die Bewohner des Himmels, alle auf einmal das Wasser ihrer gefüllten Badewannen über sie ergossen. Nichts hatten sie mehr sehen können. Fast im gleichen Augenblick war es passiert.
Ihr Magen krampfte sich zusammen, als sie an den Aufprall gegen den Baum und den entsetzlichen Laut, der ihr fast das Trommelfell hatte platzen lassen zurückdachte.
Es grenzte an ein Wunder, dass außer ein paar Prellungen, die ihr Körper ihr später signalisiert hatte, nichts weiter geschehen war. Karl hatte nur eine leichte Verstauchung an der linken Hand. Gott sei Dank.
Doch ... Ein tiefer Seufzer löste sich zitternd aus ihrer Brust ... Doch wie sollten sie jetzt zum Flughafen kommen?
Hildes Züge wurden weich, als sie an ihre Tochter dachte. Zwei Jahre hatten sie sich nicht gesehen. Jetzt kam sie aus Kanada zu Besuch und brachte ihren sechs Monate alten Sohn mit.
“Mein Enkelkind”, dachte Hilde und ein wohliger Schauer rieselte durch ihren Körper.
Plötzlich kam ihr ein Gedanke. Abrupt kehrte sie dem Fenster, vor dem sie bisher gestanden hatte, den Rücken zu.
“Wir brauchen einen Leihwagen ... Karl, hast du gehört was ich gesagt habe?”
Karl, der an einem Tisch vor dem Fenster saß, schaute mit einem vielsagendem Blick auf seine Frau.
“Aber ja Schatz, das habe ich mit dem Wirt längst besprochen. Es wird allerdings dauern, der nächste Ort ist einige Kilometer entfernt. Polizei, Abschleppwagen, Leihwagen, alles organisiert. Und nun setz dich endlich mal hin und warte es ab.” Karl führte ein frischgezapftes Bier an seine Lippen und trank mit gierigen Schlucken. Damit war das Gespräch für ihn beendet.
Hilde verdrehte genervt die Augen und zog sich wieder ans Fenster zurück.
Zum erstenmal, seit sie die Gaststätte betreten hatten, schaute sie sich bewusst um.
Schon als sie draußen das Haus zwischen den Bäumen entdeckt hatten, war es ihr alt und verwunschen vorgekommen. Wie ein Hexenhäuschen, hatte sie gedacht. Obwohl, da war noch ein anderes Gefühl in ihr gewesen. Auch jetzt konnte sie es noch nicht in Worte kleiden. Ihr Körper hatte sich geschüttelt, als hätte er sich weigern wollen, das Gasthaus zu betreten.
Nun, als sie in den Raum blickte, spürte sie wieder etwas, das sie nicht erklären konnte.
Große dunkle Balken an der Decke fielen ihr auf, kleine Sprossenfenster, die kaum das Tageslicht durchließen.
Die Wände steinbelassen. Dunkel auch die Möbel und die Theke.
Gedämpftes gelbes Licht, aus altmodischen Lampen, verliehen dem Raum eine unwirkliche, dichte Aura.
Die schwere Atmosphäre legte sich wie ein dicker Brokatmantel um Hilde.
Sie schien plötzlich alles auf einmal wahrzunehmen.
Barhocker, die besetzt waren. Männer und Frauen, die keinen Platz mehr gefunden hatten, standen dahinter, oder drängten sich dazwischen, um an ihre Getränke zu kommen.
Die meisten unterhielten sich, mal leise, mal laut. Eine junge Frau lachte schallend auf. Zwei Männer hatten den Kopf auf die Theke gelegt. Völlig fertig schienen sie ihren Rausch auszuschlafen.
Andere saßen schweigend, mit hochgezogenen Schultern. Sie starrten in ihre Gläser, als gäbe es eine besondere Weisheit darin zu finden.
Jemand murmelte unverständliche Worte, bewegte seine Hand auf und nieder, als würde er einen imaginären Chor dirigieren.
Hilde sog die Bilder in sich auf, was faszinierte sie so?
Ihr Blick glitt zu dem Tisch gegenüber der Theke.
Dort saß eine Gruppe junger Pfadfinder. Sie hatten Rucksäcke umgeschnallt und es schien, als wollten sie gleich aufbrechen. Ein Erwachsener, der Hilde den Rücken kehrte, stand bei ihnen. Er hatte seinen Oberkörper über den Tisch gebeugt und sich mit den Armen darauf abgestützt.
Er redete leise, aber eindringlich zu den Pfadfindern. Hilde erkannte konzentrierte Aufmerksamkeit, aber auch Unverständnis in den jungen Gesichtern.
Vor einer breiten Schiebetür, hinter der Hilde den Festsaal vermutete, hatte sich eine Anzahl von Leuten versammelt, die sich angeregt unterhielten.
Eine dunkelhaarige Schönheit, deren rotes Kleid unter den sonst tristen Kleidungsstücken der anderen Gäste hervorstach, hatte ihr Gesicht an die Brust eines Mannes gelehnt. Ihre Schultern zuckten.
Obwohl der Mann sanft ihren Rücken streichelte, begann ihr Körper zu beben und ihr hemmungsloses Schluchzen drang durch den Raum.
Die umstehenden Gäste warfen einen kurzen Blick auf die Frau und schauten dann betreten zu Boden.
Eine Welle des Mitleids erfasste Hilde. Was mochte die Arme so erschüttert haben?
Doch dann fiel Hildes Blick auf den Wirt, der alle Hände voll zu tun hatte. Ein Südländer, erste graue Strähnen bahnten sich ihren Weg durch dunkles, gewelltes Haar.
“Ein gutaussehender Typ”, stellte Hilde fest.
Als hätte der Mann ihre Gedanken gelesen, blickte er abrupt auf und schaute sie an.
Der warmherzige Ausdruck seiner Augen irritierte Hilde.
Ihr Herz vergaß einen Atemzug lang zu schlagen. Eine Gänsehaut legte sich auf ihren Körper.
“Was für ein merkwürdiges Lokal, was für seltsame Menschen,” dachte Hilde.
Sie hatte das Gefühl, dass die meisten Gäste in diesem Lokal, rein zufällig aufeinander getroffen waren und trotzdem schienen sie etwas gemeinsam zu haben, aber was?
Ein unbestimmter Verdacht, eine vage Ahnung keimte in Hilde.
Noch einmal schaute sie in die Runde.
All ihre Sinne versammelten sich auf einen Punkt in ihrem Gehirn. Gleich, gleich würde sie es wissen ...
“Wir werden es nicht schaffen!”
Karls Worte rissen Hilde aus ihrem tranceähnlichen Zustand. Als hätte sie eine schmerzhafte Ohrfeige bekommen, zuckte sie zusammen.
Der schwere Mantel fiel von ihr ab.
Karl hatte sich von seinem Platz erhoben und war vor seine Frau getreten.
“He, Schatz, was ist los mit dir? Was stehst du hier wie eine Statue und stierst ins Leere?”
“Was, was tue ich?” Hilde schaute ihren Mann verständnislos an.
“Hör zu”, redete Karl weiter und zeigte mit ausgestrecktem Arm auf das Telefon, das hinter dem Tresen an der Wand hing.
“Ich werde jetzt den Flughafen anrufen und für Katja eine Nachricht hinterlassen. Sie soll sich ein Taxi nehmen und zu deiner Mutter fahren, denn wer weiß, wann wir hier wegkommen, okay?”
“Ja, tu das!” Hilde hatte sich zum Fenster gedreht. Die Aussicht hatte sich nicht verändert. Keine Polizei, kein Abschleppwagen.
Hilde seufzte, wo blieben sie denn nur? Warum dauerte das so lange?
Doch diese kurze Überlegung huschte nur an ihr vorbei.
Die Worte ihres Mannes drängten sich in ihren Kopf und ließen keinen Platz mehr für andere Gedanken.
“Wer weiß wann wir hier wegkommen?”
Plötzlich kräuselten sich ihre Nackenhaare.
Ihr war, als hätte sich eine schreckliche Präsenz hinter ihr aufgebaut.
Stille, Grabesstille , ließ Hilde ihren eigenen Pulsschlag hören.
Langsam, mit rasendem Herzen, drehte sie sich um.
Wie angewurzelt standen die Gäste im Raum. Manche hatten den Kopf gesenkt, doch die Meisten starrten auf Hilde. Trauer und Mitgefühl strömte ihr entgegen.
Ohne es zu merken, schüttelte Hilde den Kopf.
Ein Lavastrom schien durch ihren Körper zu jagen. Mit weitaufgerissenen Augen, suchte sie ihren Mann. Er stand angelehnt an der Theke, die Hände bedeckten sein Gesicht.
Neiiiiiin ... schrie es in Hilde.
Katja, der Kleine!
Hilde wankte.
Karl kam auf sie zu, Tränen in den Augen.
Und Hilde wusste, sie würde ihre Tochter nie wiedersehen, ihr Enkelkind nie kennen lernen.
“Komm”, sagte Karl und legte seinen Arm um ihre Schulter.
Hilde setzte automatisch einen Schritt vor den Anderen. Eisige Kälte hatte das Feuer in ihrem Körper gelöscht.
Die Menschen im Raum hatten eine Gasse gebildet, durch die Karl seine Frau führte.
Vor der großen Schiebetür stand der Wirt.
Schweigend, mit dem Ausdruck unendlicher Anteilnahme in seinen Augen, öffnete er die Tür.
Hilde fühlte nichts mehr, ihr Herz schien still zu stehen.
Als würde sie das alles nichts angehen, betrat sie den leeren hellen Raum.
Die anderen Gäste folgten ihnen.
Hilde nahm es kaum wahr.
“Ich bin so müde”, nur ein Flüstern verließ ihre Lippen.
Karl zog sie noch fester an sich.
Der Wirt trat an ihre Seite, fixierte Karls Augen.
“Sind Sie bereit?” fragte er.
Karl nickte.
Hilde begriff nicht.
Plötzlich bemerkte sie Lichtreflexe an der vor ihnen liegenden Wand. Ein Szenario entstand. Bilder, deren Tragweite Hilde kaum erfassen konnte. Denn immer noch hielt der Eisblock in ihrem Körper, ihre Sinne gefangen.
Sie sah blinkende Lichter, Polizei und Unfallwagen.
Hilde dachte an ihre Tochter.
Sie erwartete gleich die Trümmer eines abgestürzten Flugzeuges zu sehen.
Doch die Szene veränderte sich.
Wald.
Kurzes, angstvolles Atmen.
Lange dunkle Haare, verfangen in einem Ast.
Ein Mann, nur schemenhaft zu erkennen.
Ein Messer.
Der kalte Schein des Mondes, aufblitzend in der gewaltigen Klinge.
Ein kurzer Schrei, Röcheln.
Rotes Blut auf blasser Haut, rann über den Hals, wurde aufgesogen von rotem Stoff.
Hilde hörte das gequälte Stöhnen hinter sich.
Langsam, ganz langsam, formte sich die Wahrheit in ihrem Kopf.
Neue Bilder auf die sie starrte, ohne die Macht zu haben, sich abzuwenden.
Da waren Ärzte auf einer Straße, die ihre Koffer schlossen. Nur einen Augenblick zu sehen, ohne Bezug, ohne erkennbaren Sinn.
Dann wieder mitten im Wald.
Zelte, Pfadpfinder.
Der ohrenbetäubende Knall einer Explosion.
Lebende Fackeln, strauchelnd, fallend.
Schreie ... Stille.
Fünf zugedeckte Körper.
Hilde hatte nicht die Kraft in die jungen Gesichter zu sehen.
Es war noch nicht vorbei, ohne Gnade führte die flimmernde Wand ihre Offenbarung fort.
Die Ärzte, die sie schon zuvor ihre Koffer hatte schließen sehen, bestiegen jetzt den Unfallwagen.
Ein Polizist winkte jemanden heran.
Sie sah zwei Zinksärge.
Zwei Personen, liegend am Waldrand, bedeckt mit Tüchern.
Ein silberfarbenes Auto, das sich um einen Baum geschlungen hatte.
Hilde begriff, Katja und ihr Enkel lebten.
Und endlich zerbrach das Eis in ihr, lösten sich die Tränen, die solange eingefroren waren.
Doch es war nicht nur Trauer in ihr. Vielmehr weinte sie, glücklich darüber, dass es nicht ihre Tochter und das Baby waren, die das Leben auf dieser Welt verlassen mußten.
Ohne Worte legte Karl ihren Kopf an seine Brust.
Die Rückführung war beendet.
Die Gäste wandten sich ab, um zurück in das Lokal zu gehen.
Karl und Hilde wollten ihnen folgen. Doch der Wirt hielt sie auf.
Hilde sah die Frau in dem roten Kleid, die jungen Pfadfinder, Verbündete im Tod.
Auch sie wurden jeweils von dem Mann aufgehalten, der vorher schon bei ihnen gewesen war.
Hilde wandte sich an den Wirt.
“Was geschieht mit uns?” Es war eine Frage ohne Not. Hilde verspürte keine Angst mehr.
“Ihr werdet jetzt woanders hingehen.”
Zum ersten Mal sah Hilde das Lächeln eines Engels.
Als sie sich mit der kleinen Gruppe, die im Raum zurück geblieben war, auf den Weg in das jenseitige Leben machte, blickte sie noch einmal über ihre Schulter.
Und so nahm nur sie wahr, was geschah, als die übrigen Gäste in das Lokal gingen.
Jeder einzelne verblasste, als er die Schwelle überschritt.
Mit jeder Person, die nur Statist in einem inszenierten Stück gewesen war und sich nun vor Hildes Augen auflöste, verschwand auch ein Teil der Einrichtung.
Bis am Ende nur noch eine verstaubte Theke, kahle Wände und festgenagelte Bretter, die nur spärliches Licht durch die zerschlagenen Fenster gleiten ließen, übrig blieb.
Und Hilde wusste, das Gasthaus im Wald war tot.
Solange, bis der Tod das Leben zurückbringen würde.