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Aus den Augen, aus dem Sinn?
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Der erste Tag – der Tag danach
Ich erwache mit unheimlichen Kopfschmerzen und einem Ziehen zwischen Genick und Schultern. Mein Kopf hängt nach vorne, ich muss wohl die ganze Nacht so geschlafen haben. Warum liege ich nicht in meinem Bett? Ich richte mich ein wenig auf, was mit diesen Verspannungen höllisch weh tut; meine Augen gewöhnen sich langsam an die Helligkeit und ich erkenne, wo ich immer noch bin.
Erinnerungsfetzen an den gestrigen Abend formen sich langsam zu einem Ganzen. Wir sind einer Einladung unserer Freunde Daniela und Horstl gefolgt. Maria hat mich in ihr Auto geladen und fuhr ungefähr eine Stunde aus der Stadt hinaus, durch eine Gegend, in welcher der Wald aus dichten, hohen Tannen immer finsterer und die Straße nach jeder Abzweigung schmäler und holpriger wurde. Am Ende des Weges standen wir vor diesem »Gasthaus zur einsamen Witwe«. Hier wollten unsere Freunde sich verloben. Sinn fürs Makabre war immer schon ihr Markenzeichen, der Klebstoff ihrer Beziehung.
Wir waren die ersten und stellten fest, dass wir auf die anderen warten mussten, um mich in den oberen Stock des Hauses zu tragen. Soweit ich mich erinnere, befinden sich unten nur die Küche, eine kleine Bar und zwei Türen, eine mit der Aufschrift »Privat«, auf der anderen las ich »WC«. Die Gaststube, in der ich hier sitze, kann man nur über eine schmiedeeiserne, wunderschön verzierte Wendeltreppe erreichen…
Eine rotwangige alte Frau mit Kopftuch auf geknotetem grauen Haar begrüßte uns freundlich und stellte sich als Wirtin vor. Ein langes blaues Kleid mit Schürze und Puffärmeln gab ihrer hageren Figur ein wenig Volumen. Noch während sie mit uns sprach, fuhr sie damit fort, die Teller aus dem Spülwasser zu holen und fein säuberlich abzutrocknen. Von dem mit Holz beheizten Ofen strömte uns eine Wolke aus Braten- und Kräuterduft entgegen.
»Es kommt nur noch selten jemand hierher, da wasche ich jedes Mal alles frisch. Seit mein Mann gestorben ist, beschränke ich mich auf die Bewirtung geschlossener Gesellschaften. Das ist mehr sowas wie ein Hobby und macht Spaß«, erklärte sie uns, zog die Mundwinkel zu einem stolzen Lächeln auseinander und setzte nach: »Wollen die Herrschaften vielleicht schon mal was trinken?«
Wir verneinten, um sie nicht aufzuhalten, und zogen es vor, draußen auf die anderen zu warten.
Es dauerte nicht lange, da kamen Ernst, Frank und Herbert im Konvoi angefahren; natürlich mit ihren Frauen, die werden jedoch nie namentlich genannt. Wahrscheinlich weil sie nichts zu sagen haben. Dann kam noch das zu feiernde Pärchen und wir waren komplett.
Herbert, dessen Anblick mich immer wieder aufs Neue an Hagrid aus der Harry Potter-Verfilmung erinnert, nahm mich auf seine Arme, Ernst und Frank, die beiden schlanken Sportskanonen, trugen gemeinsam meinen Rollstuhl. Oben setzte mich Herbert mit Schwung zurück in mein Gefährt und schob mich an den mit rosa Blumenarrangements wundervoll gedeckten Tisch in der Gaststube.
Wenig später stießen wir auf Horstl und Daniela an. Ich hielt mich mit dem Trinken ganz bewusst zurück, weshalb in meinem Sekt-Orange fast nur Orangensaft war. Auch nach dem Essen beließ ich es bei zwei Achterl Wein. Warum zum Teufel war ich trotzdem so besoffen, dass mir heute der Schädel brummt?
Maria verließ uns recht bald. Sie hatte Bereitschaftsdienst und wurde zu einem Einsatz gerufen, vergewisserte sich aber noch bei den anderen: »Ihr könnt Stefan doch auch nach Hause bringen, oder?«, worauf zumindest Frank und Herbert nickten.
Sie machten sich sogar noch lustig darüber, dass sie mich in den kleinen Lastenaufzug stecken und hinunterschicken würden, mit dem die Wirtin zuvor das Essen herauffahren ließ. Offenbar die einzige moderne Einrichtung in diesem Haus. Ich fand das prinzipiell keine schlechte Idee, jederzeit würde ich mich in einen Lastenaufzug setzen lassen, schließlich bin ich ja auch eine Last, allerdings hätte ich hier nur in mehreren Teilen hineingepasst.
Später bekam ich nichts mehr mit. Die beiden Achterl hatten eine Wirkung, als wären es zwei Liter gewesen. Sie müssen mich doch gesehen haben, wie können sie mich einfach zurücklassen, vergessen? Warum wache ich hier auf, in meinem Rollstuhl und mit Kopfschmerzen und Verspannungen? – Naja, vermutlich waren sie alle selbst schon zu betrunken, um an mehr als sich selbst zu denken. – Hoffentlich hatten sie unterwegs keinen Autounfall…
Der Schmerz hat bereits etwas nachgelassen und ich nehme endlich meine Umgebung genauer wahr; wundere mich, dass alles an Geschirr, Getränken und Essensresten noch auf der Tafel steht. Ergo muss die Wirtin noch anwesend sein.
»Frau …«, rufe ich los und weiß ihren Namen gar nicht. »Frau Wirtin!«
Eine Weile warte ich auf Reaktion, doch ich höre nichts. Ich fahre ganz zur Wendeltreppe, rufe noch einmal, ein wenig lauter – erfolglos.
Naja, zumindest im Lauf des Tages wird sie bestimmt kommen. Sie hat ja die Unordnung zu beseitigen. Bestimmt ist sie bald da. Ich muss einfach nur warten, davon bin ich überzeugt und mache mich, trotz eines leicht üblen Gefühls, über die Essensreste her. Die schmecken auch als Frühstück noch gut, besonders die Semmelknödel mit Kräutersauce. Gemeinsam mit zwei Gläsern Orangensaft und einigen Bratenresten ist das sogar ein herrliches Morgenmahl.
Mein Magen ist mit der Füllung zufrieden, und so steigt auch meine Zufriedenheit. Deshalb werde ich nun für einen längeren Moment die Ruhe genießen, die ich sonst so oft suche. Ich rolle rücklings an eine Wand und lehne den Kopf daran. Meine Schmerzen lassen durch die Entspannung weiter nach. Ich vernehme Vogelgezwitscher und einige mir nicht geläufige Tierlaute. Leider höre ich sie nur sehr leise, da alle Fenster geschlossen sind.
Ich versuche, sie zu öffnen, jedoch sind die Griffe eine Spur zu hoch für mich. Durch meine Lippen pfeife ich den »Bad Feeling«-Blues. Draußen ist ein sonniger, warmer Tag und ich sitze im ersten Stock des ausgestorbenen Gasthauses »zur einsamen Witwe«, von allen guten Seelen verlassen, kann die Fenster nicht öffnen und muss obendrein aufs Klo. Zum Glück bin ich ja darauf trainiert, nur alle zwei Tage »groß« zu müssen, und ich war erst gestern Nachmittag. Jedoch ist meine Blase zum Platzen voll, was mir ein weiteres Genießen der Ruhe nun erheblich erschwert. Und das Klo ist natürlich unten, im Erdgeschoß. Die einzige Tür hier oben führt offenbar in eine zweite Gaststube und ist verschlossen. Allerdings würde es mir ohne einen Helfer gar nichts bringen, wenn da noch ein Klo wäre… Ich meine, es ist sonst nicht meine Art, in Getränkepackungen zu pinkeln, aber was bleibt mir denn anderes übrig?
Die Tafel besteht aus vier kleineren Tischen, die durch eine lange Tischdecke zu einer optischen Einheit verbunden sind. Ich ziehe einen hervor und schiebe ihn in eine Ecke. Darauf stelle ich die von mir frisch befüllte Apfelsaftpackung; am Boden wäre die Gefahr zu groß, dass ich sie umfahre und alles auf den Holzboden rinnt.
Ich gehe dazu über, die Essensreste von den einzelnen Tellern auf einen einzigen zu geben. Die anderen Teller staple ich, lege das Besteck darauf und stelle alles an jenes Ende der Tafel, welches näher zur Treppe ist. Ich fahre dabei immer um die Tische herum, so vergeht schön die Zeit. Die Gläser sammle ich ebenfalls ein, nur eines stelle ich für mich zu dem vollgefüllten Teller, sowie zwei halbleere Weinflaschen und die noch vollen Saftpackungen. Die Blumen stelle ich zum Fenster, damit sie sich freuen, und gieße sie mit Mineralwasser. Zwei Stück Nusstorte gibt es auch noch, eines esse ich jetzt gleich. Hmm, das tröstet…
Langsam werde ich nervös. Ich habe keine Uhr bei mir, es muss wohl schon ziemlich spät sein. Wieso hab ich mich eigentlich immer gegen ein Mobiltelefon gewehrt?
Und warum kommt die Alte nicht, um sauber zu machen? Lässt sie am Ende gar alles so stehen, bis die nächsten Gäste angesagt sind? Ich sehe sie wieder vor mir, wie sie Geschirr wusch als wir kamen; versuche, es zu verdrängen, doch es beherrscht mein Denken und gräbt sich in meinen Magen. Hat sie irgendwas manipuliert? Wahrscheinlich werd ich hier verhungern, und das in meiner eigenen Scheiße sitzend!
Ich behalte trotzdem die Ruhe. Eigentlich könnte ich vor Wut ja alles kurz und klein schlagen, aber die Vernunft rät mir, lieber morgen noch einmal meine Lage zu überdenken und dann Nägel mit Köpfen zu machen. Irgendwie muss ich hier raus, und die Wendeltreppe ist das größte Hindernis.
Draußen wird es langsam finster. Ich muss mich gezwungenermaßen mit den Tatsachen anfreunden, so gut es geht. Heute wird wohl niemand mehr kommen. Ein paar Tränen kann ich nicht zurückhalten, wische sie mit dem Ärmel fort. Es tut verdammt weh, vergessen worden zu sein. Ich entschließe mich dennoch, zu schlafen.
Die Tischdecke könnte ich zusammengelegt gut als Kopfpolster verwenden, deshalb rücke ich noch einmal das Geschirr herum, lege den langen weißen Stoff einige Male zusammen und schiebe ihn erschöpft zwischen meinen Kopf und die harte Wand. »Gute Nacht, Stefan«, sage ich zu mir selbst.
Zweiter Tag – Das Fenster
Beim Munterwerden fühle ich mich zwar nicht unbedingt entspannt, jedoch wesentlich besser als gestern. Ein paar schwungvolle Bewegungen mit den Armen regen meinen Kreislauf an und mein Gehirn bekommt Sauerstoff.
Ich betrachte die Essensreste. Das Fleisch scheint noch gut zu sein, die Sauce, in der die Knödel liegen, riecht hingegen nicht mehr besonders verlockend. Ich rette jeweils die obere Hälfte der drei Knödel, welche nicht in der Sauce liegt, indem ich quer durchschneide und die guten Hälften auf einen frischen Teller lege, den ich in der alten Kredenz finde, die gleich neben dem Lastenaufzug steht. Ein schönes Stück mit feinsten Schnitzereien und Einlegearbeiten, das heutzutage wohl ein Vermögen wert ist. Den Teller mit der stinkenden Sauce stelle ich auf den Tisch in der Ecke, der auch mein Ein-Liter-Zimmerklo beherbergt.
Liebend gern würde ich jetzt gleich das letzte Stück Torte essen, bei dessen Anblick mir das Wasser im Mund zusammenläuft. Und mit dem ich angenehme Gefühle verbinde, die ich jetzt gut brauchen könnte. Nein, ich muss haushalten. Die Torte hält am längsten, deshalb sollte ich sie wie die letzte Notration behandeln und nicht essen – wer weiß, wie lange ich noch hiermit auskommen muss…
Ich merke, dass die Gier ein verdammter Hund ist, der sich nicht so leicht unterkriegen lässt. Sie ficht einen erbitterten Kampf gegen die Vernunft aus, bis die Vernunft hinterhältig das schlechte Gewissen aus dem Halfter zieht. Ein schüchtern bettelndes »Vielleicht ein ganz, ganz kleiner Bissen…?« wird geschlagen von einem harten und bestimmten: »Nein, verdammt nochmal! Willst du jetzt die Torte essen und dir morgen mit dem Fleisch eine Salmonellenvergiftung zuziehen?«
»Warum ist das Stück eigentlich nicht größer…?«
»Schluss jetzt, ich stelle es hinter die Saftpackungen in den toten Winkel. Vielleicht funktioniert es ja mit ›Aus den Augen, aus dem Sinn‹.«
Also frühstücke ich heute dasselbe wie gestern, nur ohne Sauce, und überlege mir, wie ich hier raus komme.
Ich muss das Fenster öffnen, und dann um Hilfe rufen. »Wird mich jemand hören, in dieser Gegend?« Vielleicht habe ich Glück und ein paar Wanderer kommen vorbei, oder der Förster. Oder der Jäger. Oder am Ende gar die Wirtin? Ich werde es auf jeden Fall versuchen. Immerhin ist das weniger riskant, als mich an das Hindernis Wendeltreppe zu wagen. Und wenn mich wirklich niemand hört, bleibt mir sowieso nichts anderes übrig, als mich in die Tiefe zu stürzen… Verdammt, warum bin ich bloß hier? Warum haben sie mich nicht mit nach Hause genommen? Und warum fällt es ihnen nicht einmal auf? Geh ich denen überhaupt nicht ab? War am Ende vielleicht Absicht dahinter? – »Nein, das will ich nicht glauben. Das trau ich meinen Freunden nicht zu.«
Ich bemerke, dass ich Selbstgespräche zu führen beginne, und versuche sie zu unterdrücken. Als wäre jemand da, der mich dabei hören könnte; obwohl ich natürlich weiß, dass Selbstgespräche ein Zeichen für Intelligenz sind. »Wissen das die anderen auch immer?« Wo ist das Vorhängeschloss für meine Lippen?
Ich sollte langsam aufpassen, dass ich nicht überschnappe, mich nicht verrückt machen lasse von dieser giftigen Mischung aus Angst und Einsamkeit. Und Ungewissheit. Was ist, wenn ich hier nicht lebend rauskomme? Wenn sie mich vielleicht erst in drei Monaten finden? »Das genaue Todesdatum konnte nicht mehr festgestellt werden«, haha. Tolle Aussichten. Vielleicht sollte ich mit der Sauce mein Testament auf die Tischdecke schreiben? Oder mit dem Rotwein? Andererseits hab ich ja sowieso nichts zu vererben, und den Rest teilen sie sich dann schon irgendwie, oder schmeißen alles in den Mist, was sie an mich erinnern könnte. »Allerdings nur, wenn ich es nicht schaffe, hier raus zu kommen!«
Ich würge eine Knödelhälfte auf drei Bissen hinunter, ein wenig Orangensaft ist noch da, ich trinke ihn direkt aus der Packung. Danach prüfe ich die Differenz zwischen mir und dem Fenstergriff: gute fünfzehn Zentimeter, schätzungsweise.
Außer den Tischen und Stühlen, sowie der Kredenz gibt es in diesem Raum nur ein paar Blumentöpfe und Bilder, die mir kaum helfen können.
Ich betrachte die Kredenz genauer. Die vier Schubladen würden sich, flach auf den Boden gelegt, mit den beiden Einlegeböden darauf gut als Podest machen. Diese Idee lasse ich mir durch den Kopf gehen, während ich die spezielle Apfelsaftpackung weiter befülle… Werde ich die Höhendifferenz mit dem Rollstuhl überwinden können? »Es wird mir gelingen. Die Freiheit naht!«
Ich muss es nur noch schaffen, meine geistige Konstruktion real zu bauen. Noch ein halber Knödel und ein paar Schluck Apfelsaft, zwei Bissen reiße ich von der Kruste des Bratens ab, den Rest stelle ich nun doch auf den Entsorgungstisch in der Ecke. Ich bin da heikel und werde misstrauisch, wenn etwas nicht mehr so schmeckt wie ursprünglich. Und wenn ich nichts anderes mehr habe, darf ich endlich auch die Torte essen… »Aus den Augen, aus dem Sinn« funktioniert doch nicht so gut. Oder nur bei den anderen. Möglicherweise liegt es ja auch daran, dass ein toter Winkel zu leben beginnt, sobald man den Blickwinkel verändert.
Noch ein Schluck Apfelsaft, dann fahre ich wieder zur Kredenz und beginne mit den Umbauarbeiten. Ich nehme die Schubladen einzeln heraus, stelle sie auf meinen Schoß, fahre ein Stück zurück und leere den Inhalt – Besteck, Servietten, Kerzen, sowie Malbücher und -farben – in die Ecke neben der Kredenz. Die Podestbauteile bringe ich der Reihe nach zu dem Fenster, das ich öffnen will, und trinke beim Hin- und Herfahren langsam die Apfelsaftpackung leer. Ich schwitze, und das umso mehr, wenn ich daran denke, dass heute Nachmittag mein Darm das Bedürfnis haben wird, sich zu entleeren. Wenn ich mich beeile und Glück habe, komme ich vorher hier raus; wenn nicht … »Scheiße.«
Die Salatschüsseln, Saucieren und Dessertteller, stelle ich von den Einlegeböden auf die Anrichtefläche der Kredenz und nehme das erste Brett heraus, was mir so gerade noch gelingt, da ich durch den Rollstuhl und die offenstehenden Türen nicht gut hinkomme. Doch ich schaffe es, lege das erste Brett auf zwei der Schubladen und stelle kurz danach mit dem zweiten mein Podest fertig.
Dem Ziel immer näher, gönne ich mir einen kleinen Schluck Rotwein.
Vor meiner Konstruktion sitzend, konzentriere ich mich und schaffe es, die Vorderräder mit viel Schwung soweit anzuheben und dabei vorzurollen, dass ich sie oben absetzen kann. Es kostet mich enorm an Kraft, die hinteren Räder über die Stufe hinaufzudrehen. Ich darf dabei nicht locker lassen, sonst würde ich nach hinten kippen. Schließlich feiere ich doch wieder einen kleinen Sieg.
Ich strecke mich zu dem Fenstergriff, erreiche ihn, allerdings nur mit den Fingerspitzen. Es ist ein Geduldspiel, das mir aber auf Anhieb gelingt. Frische Waldluft strömt mir entgegen. Die akustische Untermalung wird lauter. Ich lehne mich kurz zurück und sammle neue Kräfte, lasse die Natur auf mich wirken, atme ein paar Mal kräftig ein und aus. Dann beuge ich mich möglichst weit vor und rufe so laut ich kann nach draußen: »HIL-FE!«
Dieses Wort kommt mir zu kurz vor, so ist es viel zu leicht zu überhören. Oder nicht zu orten. Ohne lange nachzudenken, rufe ich verzweifelt: »WA-RUM KOMMT DENN HIER NIE-MAND?!« Dabei verbrauche ich viel Kraft und lasse mich wieder zurück in meinen Sitz gleiten, schließe die Augen für einige Minuten. Irgendwie habe ich das Gefühl, nicht alleine in diesem Haus zu sein.
Plötzlich höre ich etwas rascheln. Ich weiß, das ist kein Tierlaut, reiße meine Augen auf und drehe mich um, in Erwartung, jemanden über die Wendeltreppe kommen zu sehen. Doch nichts. Jetzt kann ich die Quelle des Geräusches ermitteln: Ein Zettel tanzt vor dem Fenster in der Luft, schüttelt sich, um mich mit seinen Geräuschen auf sich aufmerksam zu machen. Durch seine heftigen Bewegungen kann ich erst nichts erkennen, dann hält er still und ich lese: »weil Die Jury das nicht Will«
Die Worte sind aus Zeitungsüberschriften ausgeschnitten.
Mir gehen wirre Gedanken einer Entführung durch den Kopf, die ich sofort wieder vertreibe. »So ein Blödsinn, wer würde für mich schon Lösegeld bezahlen wollen? Nein, sie haben lediglich im Rausch auf mich vergessen. Kann ja mal vorkommen, oder? Ich meine, jeder vergisst mal irgendwas. Sie haben es ja auch nicht leicht mit mir. Ich kann nicht abstreiten, dass ich eine Behinderung bin.« Würden meine Freunde es tatsächlich fertigbringen, mich bewusst derart meinem Schicksal zu überlassen? Ein mulmiges Gefühl beschleicht mich, Begriffe wie »unwertes Leben« gehen mir durch den Kopf. Und was heißt überhaupt, die Jury will das nicht? – »Ich sollte keinen Tropfen mehr von diesem Wein trinken, der hat ja eine sagenhafte Wirkung.«
Eine Weile bleibe ich noch auf dem Podest, wiederhole im Abstand von wenigen Minuten meine Hilferufe, und horche auf Geräusche, die sich von der Tier- und Pflanzenwelt unterscheiden. Kurz meine ich, ein Lachen zu hören, mangels weiterer Stimmen werte ich es als Produkt meiner Fantasie. Es ist wohl eher selten, dass jemand vor einem Fenster voller Natur sitzt und sich Automotoren zu hören wünscht – ich wünsche mir jetzt nichts sehnlicher. Ein Auto, das auf dieses Haus zurast und diese quälende Stille mit einem kräftigen Quietschen der Bremsen durchschneidet. Oder das freundliche Klingeln zweier Fahrradglocken, Schritte, die sich der Tür nähern und sie öffnen. »Ganz egal, nur bitte findet mich endlich!«
Ich schaue vom Podest zum Boden, auf den ich nun zurück will, wovon mir leicht schwindlig wird. Von hier betrachtet sieht es etwas höher aus, als beim »Aufstieg«. Ich stehe am Rand meines Podestes und habe Angst, trau mich nicht mit den Hinterrädern über die Kante. Ich rufe noch ein verzweifeltes, lautes »Hilfe!« aus dem Fenster, das niemand hört, dann überkommt mich eine Tränenflut. Bäche der Hilflosigkeit rinnen an mir hinab, und ich kann sie nicht stoppen, kein Damm könnte sie halten und keine Staumauer. Ich fühle mich wie ein ausgesetztes, kleines Kind. Mein Magen verkrampft sich, wenn ich an morgen und die Wendeltreppe denke. Niemals werde ich das schaffen, wenn ich nicht einmal von diesem Podest runterkomme. Ich werde stürzen und mir den Kopf an den Stufen … Wie komme ich nur wieder zurück auf den Boden, wenn ich niemanden habe, der mir hilft? Warum bin ich so verwöhnt mit behindertengerechten Baumaßnahmen und Helfern, dass ich nicht einmal eine Stufe wie diese schaffe?
Die Ärmel meines Pullovers sind schon ganz nass vom Trocknen der Tränen, die immer noch nicht aufhören, zu rinnen. Meine Augen sind geschwollen, nur mehr kleine Schlitze, durch die ich um mich schaue, bis mein Blick am rechten Fensterflügel hängen bleibt. Ich habe die Idee zu einer Lösung und kann endlich den Tränenfluss stoppen, das Gefühl der Hilflosigkeit schwindet.
Ich lehne den rechten Fensterflügel zu, wende den Rollstuhl vorsichtig um neunzig Grad; die Fläche auf dem Podest ist nicht sehr groß und ich möchte nicht versehentlich abstürzen. Dann fahre ich mit den Hinterrädern an die Kante des Podests, nehme den Fensterflügel fest in die eine Hand, mit der Kraft der anderen halte ich eines der Räder und lasse mich langsam Richtung Boden gleiten. Schließlich setze ich auch die Vorderräder wieder am Boden ab und atme erleichtert auf. Ich könnte jetzt vor Freude heulen, aber wenn ich an morgen denke, verstecken sich sogar die Tränen vor Angst.
In Bezug auf meine Verdauung ist diese Angst allerdings sehr hilfreich. Ich sitze nämlich überhaupt nicht gern in meiner eigenen Scheiße, nur weil ich niemanden habe, der mich auf ein Klo heben kann. Im übertragenen Sinn sitze ich ja sowieso schon längst drin… Hier wird mir richtig bewusst, wie abhängig ich von allen bin.
Ich reiße die letzte Getränkepackung auf, Ananassaft, und erinne mich an dessen treibende Wirkung, die ich irgendwann einmal genossen hatte; stelle sie wieder weg. Kurz trauere ich dem Mineralwasser nach, welches ich den Blumen geschenkt habe, doch bei der Vorstellung, wie sie ihre Köpfe hängen ließen, hätte ich es ihnen vorenthalten, nehme ich selbstzufrieden eventuellen Dünnschiss in Kauf und begieße meine Menschlichkeit mit einem Schluck von dem sauren Saft. Ich philosophiere noch kurz über die Frage, ob ich nun gar ein Gutmensch bin oder schon nicht mehr zurechnungsfähig.
Draußen ist es bereits finster, also dürfte es schon ziemlich spät sein. Gegessen hab ich während der letzten Stunden auch nicht gerade viel. Vielleicht sind es ja diese Knödel, die mich verstopfen. Ich nehme das letzte Stück und esse es, nach kurzem Aufenthalt unter meiner Nase.
Endlich ist nur mehr die Torte da, ich werde mich bis zum Frühstück darauf freuen. Obwohl es eigentlich egal wäre: Wenn ich es nicht schaffe, hier raus zu kommen, und langsam verhungere oder mir bei der Wendeltreppe das Genick breche, kommt es auf einen Tag früher oder später auch nicht mehr an. Ich esse die Torte trotzdem noch nicht. Nüsse regen die Verdauung an, hat schon meine Oma immer gesagt. Damals hat sie das natürlich andersrum gemeint, als ich ihr Wissen heute nutze.
»Oma«, sage ich und wende meinen Blick instinktiv zum Fenster, in Richtung Himmel, »wenn ich hier wieder raus komme, werde ich immer brav Nüsse essen. Zumindest jeden zweiten Abend, wenn am nächsten Tag jemand kommt, der mir hilft… Weißt du noch, wie du zu mir gesagt hast: ›Wer sein Leben einmal gerettet hat, der weiß, was es wert ist, und gibt auf sich Acht‹? Ich hab es damals nicht verstanden, Oma. Vielleicht, weil ich mich nach dem Unfall nicht selbst gerettet hab. Andere haben das für mich getan. Mir blieb nur das Gefühl, wie schnell es aus sein kann und dass ich selbst nichts dagegen tun kann. Aber heute weiß ich es. In all der Angst und Einsamkeit spüre ich mich selbst mehr denn je, das pochende Leben in mir, das nach Freiheit schreit, raus aus dem Käfig! Jetzt weiß ich ganz genau, was du gemeint hast, Oma. Und siehst du: Du lebst immer noch. Zumindest in meinem Herzen. Halt mir morgen die Daumen, ja? Und falls es doch schief gehen sollte, einen Platz neben dir frei…«
Meine Blase entleere ich in die zweite Apfelsaftpackung – die erste ist schon zu voll, um sie schräg zu halten –, und stelle diese ebenfalls auf den Tisch in der Ecke, wo es bereits ziemlich stark riecht.
Für morgen kann ich noch nichts vorbereiten, also werde ich jetzt schlafen gehen.
Statt meinen Kopf wie gestern gegen die Wand zu lehnen, will ich ihn heute auf einen Tisch betten, den ich für diesen Zweck vor das Podest schiebe. Hier habe ich frische Luft und der Tisch kann mir während des Schlafens nicht wegrutschen, da er mit den Beinen ansteht.
Die Tischdecke knülle ich voluminös zusammen, lege meine Arme darunter und meinen Kopf darauf.
Dass nicht einmal Maria kommt, gibt mir doch stark zu denken… Immerhin ist sie meine Schwester und hat mich noch nie im Stich gelassen. Irgendwann müsste sie doch draufkommen, dass die andern mich vergessen haben? Sie schaut doch sonst jeden Tag bei mir vorbei… Wie lange wundert sie sich darüber, dass ich nicht da bin, bevor sie Nachforschungen anstellt?
Langsam glaube ich wirklich, dass es Absicht war.
Und was ist, wenn Maria es doch von Anfang an wusste? Warum sollte sie so etwas tun? Bin ich ihr über die Jahre schon zu viel an Belastung geworden? Hindere ich sie am Leben, an der Freiheit, tun und lassen zu können, was ihr gerade beliebt? Klar, sie hat mich als ihre laufende Verpflichtung – freiwillig übernommen zwar, aber doch Verpflichtung. Will sie am Ende gar nur deshalb noch keine Kinder, weil sie mit mir schon genug Verantwortung hat? Darüber könnten wir doch reden, es gibt ja auch andere Lösungen. Traut sie sich nicht, es auszusprechen?
Die Antworten werde ich wohl nicht hier herinnen finden… Morgen will ich da raus. Dafür werde ich mit all meiner Kraft kämpfen. Ich habe nicht vor, hier elend zugrunde zu gehen.
Ich bin so aufgeregt, dass ich gar nicht einschlafen kann. Stemme mich wieder in Sitzposition und bin direkt in der Stimmung, noch einen Schluck Wein zu trinken. Jetzt nur keine Diskussion gegen die Vernunft aufkommen lassen. Ich nehme die beiden Weinflaschen und bringe sie zum Lastenaufzug, drücke auf den Knopf, das rote Lämpchen geht tatsächlich an, die Motoren setzen sich in Bewegung und stoppen kurz darauf. Ein Piepston ertönt und das Lämpchen geht aus. Ich muss die Türen nach oben und unten auseinander schieben, stelle die Weinflaschen drinnen ab und sehe ein kleines braunes Fläschchen in der Ecke. Mir schwant Übles, mein Magen verkrampft sich, während ich danach greife, und noch mehr, als ich lese: »Apotheke zum Heiligen Geist – Weingeist 96 %«
Die Flasche ist noch ziemlich voll. Es fehlt nicht viel, aber es fehlt etwas. Ich stelle sie zurück, schließe wie ferngesteuert die Türen und drücke den Abwärts-Knopf. Die einzigen Fragen, die sich mir jetzt noch stellen, sind: »Wer?« und »Nur ich oder auch die andern?«
Nach einem Schluck Ananassaft beschließe ich, damit für heute überfordert zu sein und rolle zurück zu meinem Schlaftisch.
Die Wut, die sich in meinem Magen zusammenbraut, unterdrücke ich. Hebe sie auf, für den richtigen Adressaten. Stattdessen denke ich mich zur Beruhigung in eines meiner Kinderbücher, »Nicolas, wo warst du?«, und schlafe mit einem tiefen Seufzer ein, als der alte Raymond, ein Maus-Greis, sagt: »…wegen eines bösen Vogels sind nicht gleich alle böse.«
Dritter Tag – Aufbruch
Aufgeregtes Zwitschern dringt in meine Ohren und kitzelt mein Bewusstsein wach. Ich hebe den Kopf, meine Augen beginnen ihr Tagwerk und zeigen mir einen Spatz, der gegenüber auf einem Ast sitzt und abwechselnd zu mir hereinschaut, dann wieder nach unten. Er plustert sich auf, als wollte er mir sagen: »Los, los! Die Sonne ist längst aufgegangen! Vollbring deine Befreiung! Wie kannst du nur so eingesperrt daliegen und nichts tun?« Dann schüttelt er den Kopf und fliegt davon. Gern würde ich es ihm gleichtun, einfach meine Flügel ausbreiten…
Ich greife nach den Armlehnen meines Rollstuhls und ziehe mich in Sitzposition, rolle zu dem mit Torte und Ananassaft gedeckten Tisch, und schenke mir den restlichen Saft in mein Glas. Es ist noch knapp ein viertel Liter, die Hälfte davon rinnt eben meine Kehle hinunter, den Rest, samt der Torte, hebe ich für später auf. Als Henkersmahlzeit, sozusagen.
Angst lasse ich besser erst gar nicht aufkommen, auch entspannen werde ich mich nicht, denn beides regt meinen Dickdarm an. Euphorie und permanentes Tun bringen ihn zum Schweigen.
Also Augen zu und durch. Den Schalter „Go“ drücken und das Programm laufen lassen.
Erst habe ich noch ein paar Vorbereitungen zu treffen. Ich muss die Tischdecke in vier Streifen schneiden, um mich damit abseilen zu können.
Als Schneidwerkzeug wäre eine Schere praktisch, bisher konnte ich jedoch keine entdecken. Mit den Messern hatten wir schon beim Fleisch Probleme. Ich werde ein Glas zerschlagen, oder besser eine Flasche. Eine Weinflasche. Nach ein paar Umdrehungen meiner Räder bin ich beim Aufzug angelangt, drücke auf den Knopf, warum hab ich ihn eigentlich hinuntergeschickt?, das rote Lämpchen leuchtet, sonst tut sich nichts. Ich drücke nochmals, fester, der Aufzug setzt sich nicht in Bewegung.
Etwas verwirrt nehme ich nun doch eines der schmutzigen Gläser, halte es mit den Fingern um den Boden herum fest und möglichst weit von mir weg, schließe die Augen zu Schlitzen, und schlage schwungvoll mit dem Griff eines Messers darauf. Die Scherben springen meterweit. Ich suche eine Kante, mit der ich den Saum der Tischdecke durchtrennen kann. Etwas mühsam zwar, aber es geht. Danach reiße ich den Stoff der Länge nach durch. Nur beim mittleren Längsriss schneide ich den Saum auch am anderen Ende durch, sodaß je zwei der Stoffstücke noch zusammenhängen. Hier verknote ich sie gut, und habe dadurch zwei breite Bänder von rund acht Metern, das sollte reichen.
Um mich für die Anstrengung zu belohnen, hole ich mir einen Vorgeschmack auf die Torte, einen ersten Bissen, den ich mir wahrlich auf der Zunge zergehen lasse, während ich die Augen schließe und ein heimeliges Gefühl in mir wahrnehme. Die Energie und sich ausbreitende innere Wärme, die mir dieser eine Bissen gibt, kommt nicht nur aus seinen Bestandteilen. Es ist ein Gefühl des In-mir-zuhause-Seins und des Wissens, dass ich mich nur selbst befreien kann. Von hier und überhaupt. Ich bin der einzige, der mich nie verlässt.
Mit diesem inneren Antrieb überlege ich, wie ich die Stoffstreifen festbinden kann, um ein Umkippen des Rollstuhls möglichst zu vermeiden. Binde ich sie nur oben am Beginn des Geländers fest, wird es mich nach dem ersten Stück bereits zur Mitte hin ziehen, wo es am steilsten ist. Ich muss versuchen, die größtmögliche Runde zu fahren und verknote den ersten Streifen an der Wandbefestigung des Außengeländers, den zweiten an der Mittelstütze, um die sich die Treppe windet. Nachdem ich die Festigkeit überprüft habe, will ich mir nun endlich die Torte gönnen.
Ich lasse mir die letzten drei Tage nochmals durch den Kopf gehen, versuche, das Erlebte zu fassen, was mir immer noch nicht gelingt, erkenne den Blick zurück als Flucht vor der Auseinandersetzung mit dem Vorwärts und versuche, mir ein Wiedersehen mit den anderen vorzustellen, bringe aber keine vernünftige Situation zusammen. Was soll ich sagen, einfach »Hallo, da bin ich wieder«? Oder vielleicht: »Na, hab ich euch schon gefehlt? Ratet mal, wo ich war…«? Oder ein trockenes »Warum seid ihr eigentlich schon so früh gegangen?« …
Sie werden so tun, als wären sie vor lauter Stress nicht zum Denken gekommen und mein Verschwinden deshalb noch gar nicht aufgefallen, und den nächsten Tagesordnungspunkt anpeilen.
Ich sitze immer noch vor der Torte, starre Richtung Wendeltreppe. Vor lauter Denken kam ich bisher noch gar nicht zum Essen, doch jetzt verschwindet ein großes Stück in meinem Mund. Ich frage mich, ob es für Menschen, die sich fürs Fernsehen irgendwo aussetzen oder in prekäre Situationen bringen lassen, dasselbe Erlebnis sein kann, wie es das für mich in der Realität ist. Ich meine, da richtet man sich schon vorher geistig und seelisch darauf ein und kennt das Datum, an dem man sein Zuhause wieder betritt. Das kann doch nicht dasselbe sein? Wo bleibt die Angst, wenn man weiß, die Kamera ist mit dabei und notfalls kommt der Hubschrauber; wo die Hilflosigkeit, das wirkliche Auf-sich-selbst-gestellt-Sein? Hat man ohne diese Zutaten die inneren Erlebnisse und Erkenntnisse, die die Wirklichkeit mit sich bringt? Was haben die denn davon, wenn es nur das äußere Erlebnis ist, die Hülle, wie eine leere Einkaufstasche, ausgestopft mit Papier, damit sie nicht in sich zusammensackt.
Der Vergleich macht mich stolz auf das Erlebte. Das echte Erleben. Eigentlich ist es gar kein Stolz. Ich weiß nicht, was es ist, aber es macht mich viel stärker, als Stolz es jemals könnte. Und es ist nicht abhängig davon, dass andere es sehen. Es findet nur in meinem Inneren statt. Ich habe mein Leben selbst in die Hand genommen.
Jetzt muss ich nur mehr die letzte Hürde schaffen, dann kann ich meine innere Bereicherung in einen Anhänger packen und damit durchs Leben ziehen.
Der letzte Bissen Torte, der letzte Schluck aus dem Glas. Ein letztes Mal in die Apfelsaftpackung pinkeln, die ich anschließend gleich im Vorbeifahren neben die leere Ananassaftpackung stelle. Jetzt ist es ja schon egal.
Das Ende meines Darms meldet sich ebenfalls und bittet um Erleichterung. »Noch nicht…«, gebe ich ihm zu verstehen, »später.«
Ich binde die zweiten Enden der Bänder an den Armlehnen meines Rollstuhls fest, betrachte noch einmal den Raum – den werde ich so schnell nicht vergessen – und nehme die Stoffstreifen, rücklings zu den Stufen stehend, wie Zügel in die Hände. »Nein, so geht das nicht«, sage ich, denn ich fühle mich unsicher. Will in meiner Unsicherheit jemanden rufen, der mir helfen könnte – und schreibe es geistig zu den Abgewohnheiten.
Finale
Das von der Mittelstütze kommende Band knote ich am Griffring meines rechten Rades fest. Da dieser Ring an vier Stellen mit dem Rad verbunden ist, kann ich immer nur eine viertel Umdrehung weit rollen. Mit angezogener Bremse kann ich das Stoffband dann ins nächste Viertel binden, um wieder ein Stück weit zu rollen.
Links arbeite ich mich am Außengeländer entlang, wickle das Band darum und um die Armlehne meines Rollstuhls, lasse einen Meter Spiel und verknote es. Abwechselnd lasse ich einmal links und einmal rechts locker. Leicht nach vorn gebeugt, mit den Händen an Stoff und Geländer, fühle ich mich sicher und komme Stück für Stück voran.
Ich zweifle nicht mehr am Gelingen meines Unternehmens, weiß, ich muss nur bis unten durchhalten, dann lacht mich die Freiheit an. Selbst eine versperrte Tür wird mir dann kein Hindernis mehr sein.
Ich schwitze vor Anstrengung und bekomme Durst, doch ich weiß, es ist nicht mehr weit. Ich kann den Treppenabsatz schon sehen und habe Energien, die ich bisher nicht kannte. Das letzte Stück wird zur Routine und schließlich treffen meine Hinterräder auf sicheren Boden. Ich knote die Bänder nicht mehr fest, halte nur das linke noch sicher in der Hand. Die Vorderräder holpern die letzten zwei Stufen hinab, ich kann mich wieder zurücklehnen, den Stoff loslassen.
Mit Schwung drehe ich den Rollstuhl herum, in Richtung Ausgang, bleibe aber noch einen Augenblick stehen.
Irgendwie erwarte ich, dass nun doch die Tür mit der Aufschrift »Privat« aufgeht und ein Filmteam herauskommt, samt meinen Freunden; dass alles nur ein schlechter Scherz war. Ich öffne die Tür. Dahinter verbirgt sich eine Treppe, die in den Keller führt. Ich rufe »Hallo?«, bekomme aber keine Antwort.
Das Gefühl, dass jemand außer mir hier ist, werde ich trotzdem nicht los.
Auch die Küche ist menschenleer.
Ich trinke ein Glas Wasser, wasche mein Gesicht und meine Hände, und fühle mich wie neu geboren.
Die Tür nach draußen ist nicht versperrt. Ich öffne sie.
Leichter Wind bläst mir ins Gesicht. Ich atme tief durch und gebe meinen Rädern Schwung. Freiheit!
Aus dem Haus dringen Geräusche. Ein Poltern findet darin statt. Jemand läuft die Treppen hinauf. Zwei sind es, sie lachen. Lachen darüber, was sie glauben, mir angetan zu haben. Doch in Wirklichkeit war es ein Geschenk.
Ich erkenne das Lachen. Es berührt mich nicht mehr.
Aus dem von mir geöffneten Fenster höre ich Franks Stimme: »Da ist noch Apfelsaft übrig, Herbert!«
Vor Lachen kann ich nicht mehr auf meinen Darm achten … Egal.