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Ich bin bereit
Luz zitterte am ganzem Körper, als ich sie an einen Tisch führte. Ihre Hand war eisig und ließ mich selber schaudern. Ich spürte, dass Álvaro uns von seinem Platz am Tresen aus beobachtete, mit dem gleichen verächtlichen Blick, mit dem er mich zwei Tage zuvor schon angesehen hatte. Wir waren nicht willkommen, das war offensichtlich. Das Geld, das wir hierlassen würden, dafür mehr.
„Ist dir kalt?“ Nach dem langen Schweigen kam mir meine eigene Stimme fremd vor und auch Luz schaute mich an, als hätte sie mich noch nie gesehen. Sie schüttelte den Kopf und setzte sich, fiel mehr auf den Stuhl, den ich ihr anbot. Ihre Beine, die mir schon den ganzen Abend über gefährlich wackelig vorgekommen waren, schienen jetzt völlig nachgegeben zu haben.
Das war die dümmste Frage, die ich je gestellt habe. Es war Hochsommer und die Hitze war auch nachts noch so drückend, dass ich ernsthaft bezweifelte, Gott könne noch ruhigen Gewissens auf die Erde niedersehen. Luz konnte gar nicht frieren, sie zitterte vor Angst.
Ich entdeckte Gonzales am gleichen Platz, an dem ich ihn nach unserem Gespräch zurückgelassen hatte. In der selben Runde diskutierender Männer. Aus irgendeinem Grund hatte ich gehofft, dass sich etwas verändert hätte. Dass Gonzales inzwischen seriöser aussähe, vielleicht. Aber dieser Mann hatte noch immer mehr von einem Schlachter als von einem Arzt.
Er saß vor seinem mit Hauswein gefüllten Becher, in den er ein Stück Brot nach dem anderen tunkte und schüttelte ununterbrochen den Kopf, während sein Tischnachbar von seinem Bruder erzählte, der es in Argentinien zu einem reichem Mann gebracht hatte.
„Solche Geschichten hört man doch an jeder Straßenecke“, unterbrach Gonzales ihn mit vollem Mund. „Dein Bruder hat es geschafft, ja und? Dafür hat er seine Heimat und seine Familie vergessen. Du sitzt hier fest und weißt nicht, wie du deine Kinder ernähren sollst. Interessiert ihn das überhaupt?“
Ich betete, dass ich mir das Lallen in seiner Stimme nur eingebildet hatte und konzentrierte mich wieder auf Luz, die unruhig auf ihrem Stuhl hin- und herrutschte.
Worauf hatte ich mich bloß eingelassen?
Ich hätte sie nach Hause schicken sollen, als noch Zeit dazu gewesen war. Es war doch nicht meine Schuld, dass sie sich in dieser Lage befand. Ich hatte sie nicht angerührt, an sowas hatte ich nicht einmal im Traum denken können.
„Ich habe keine andere Wahl“, sagte sie plötzlich.
Ich zwang mich dazu, ruhig zu bleiben, als ich mich ihr gegenübersetzte. Das hatte ich ihr versprochen, als sie weinend vor meiner Tür gestanden hatte. Ich bemerkte, dass ich sie anstarrte, aber ich konnte nicht anders. Aus dem kleinen Mädchen war irgendwann eine Frau geworden und ich hatte es nicht bemerkt.
„Papa wird mich umbringen und Jorge wird ihm dabei helfen.“
„Denkst du nicht, dass du übertreibst? Natürlich wird dein Vater verärgert sein, aber dein Bruder wird bestimmt versuchen, dich zu unterstützen.“
„Roque, ihr seid die besten Freunde. Du kennst ihn.“
Ich sah an ihr vorbei, um nicht zugeben zu müssen, dass sie Recht hatte. Wenn es mir schon so schwer fiel, sie nicht an den Schultern zu packen, sie nicht zu schütteln und anzuschreien, wie würde erst ihr Bruder reagieren?
„Ich hoffe, du weißt, was du hier tust“, flüsterte ich.
„Sollte etwas schiefgehen, verrate ich niemandem, dass du mir geholfen hast. Und das Geld bekommst du zurück.“
„Darum geht es doch gar nicht. Ich will nur nicht, dass du etwas tust, was du für den Rest deines Lebens bereust. Es ist gefährlich, warum verstehst du das denn nicht? Der Kerl ist noch nicht einmal ein richtiger Arzt. Der nennt sich nur so, weil er in seiner Jugend Botengänge für einen Psychologen gemacht hat!“
„Aber er hat eine Menge Erfahrung, das hast du selbst gesagt!“
„Ja, er hatte viele... viele Patientinnen, das ist aber trotzdem nicht das Gleiche.“
„Ein echter Arzt verlangt viel mehr Geld. Das können wir uns nicht leisten.“
„Aber...“
„Ich sagte doch, ich habe keine andere Wahl!“
Dass sie mich unterbrochen hatte, irritierte mich genauso wie ihr aggressiver Tonfall. Ich hatte noch nie erlebt, dass Luz Widerworte gegeben, oder ihre Stimme erhoben hätte.
„Verdammt, Luz, wie konnte es überhaupt soweit kommen?“ Ich wußte nicht, was mich wütender machte, ihr Leichtsinn, oder dass ich nicht dagewesen war, um sie zu beschützen und an dieser Dummheit zu hindern.
Ihre Mandelaugen füllten sich wieder mit Tränen. Wie ich es hasste, wenn sie weinte! Schon in unserer Kindheit hatten Jorge und ich alles getan, um sie zu trösten, wenn sie traurig gewesen war.
„Wie... wie lange müssen wir denn noch warten, Roque?“
Als hätte er die Frage gehört, kam Álvaro an unseren Tisch und stellte ein Glas vor Luz ab.
„Du musst das trinken. Zur Betäubung. Wenn es nach mir ginge, würdet ihr Mädchen nüchtern in dieses Zimmer gehen, aber der Doktor will es ja so“, erklärte er, ohne seine Verachtung zu verbergen. Es fehlte nur noch, dass er in ihr Glas spuckte. „Ihr fühlt euch erwachsen genug, euch schwängern zu lassen, also solltet ihr auch die Konsequenzen tragen können.“
„Wenn Sie so denken, wieso stellen Sie Gonzales überhaupt ein Zimmer zu Verfügung?“, wollte ich genervt wissen.
„Ich vermiete das Zimmer nur. Er bezahlt immer pünktlich und gut. Ich muss doch auch leben! Wissen Sie überhaupt, wo wir hier sind? Außer ein paar Pilgern und den Clowns da drüben, verirren sich nur selten Leute her. Das Kap ist so einsam, dass sich schon die römischen Soldaten damals wie die Lemminge ins Meer gestürzt haben. Ich wäre doch verrückt, wenn ich meinen besten Kunden vergraulen würde. Mit dem, was da oben passiert, habe ich nichts zu tun. Es geht mich nichts an.“ Er sah zu dem Foto auf, das über uns an der Wand hing. „Ich brauche dieses Geld zum Überleben, Generalísimo.“
Für einen Moment fürchtete ich, der im Laufe der Zeit vergilbte Generalísimo würde jeden Moment antworten, aber außer dem Streit an Gonzales' Tisch war nichts zu hören.
„Und kommt Ihnen nie der Gedanke, dass die Frauen, die herkommen, auch nur überleben wollen?“
Er sah mich an und kniff wütend die Augen zusammen. „Sie sind jung und kräftig. Sie können arbeiten, um eine Familie zu ernähren. Was ist bloß los mit euch Jungs heute? Zu meiner Zeit hat ein Mann noch dazu gestanden, wenn er einen Fehler gemacht hat.“
„Ich bin nicht...“ Ich schluckte den Rest runter, als ich Luz' ängstlichen Blick bemerkte. Glaubte ich wirklich, es machte die Sache besser, wenn die Leute hier wussten, dass Luz nicht von mir schwanger war?
„Der Arzt kommt gleich.“ Álvaro schaffte es sogar, diesen einfachen Satz wie einen Vorwurf klingen zu lassen. Ich war erleichtert, dass er endlich wieder ging.
„Aber er hat Recht“, sagte ich, sobald Álvaro außer Hörweite war. „Es gehören zwei dazu, ein Kind zu zeugen.“
„Ich kann dir nicht sagen, wer der Vater ist“, erwiderte Luz sofort.
Ich konnte diese Antwort nicht mehr hören. Jedes Mal, wenn ich versucht hatte herauszubekommen, mit wem sie sich eingelassen hatte, bekam ich nur diese neun Wörter zu hören. Ich griff nach ihrer Hand und lehnte mich vor, um ihr genau in die Augen zu sehen.
„Es ist nicht fair, dass du das alles alleine durchstehen musst.“
„Du bist hier.“ Sie lächelte wenig überzeugend, griff nach dem Glas, roch daran und verzog das Gesicht. „Das bekomme ich nie runter.“
„Du weißt genau, was ich meine.“
Sie sah mich lange an und ich dachte schon, sie würde mir endlich eine vernünftige Antwort geben. Ein Name! Ich brauchte einen Namen, damit ich ihre Ehre wiederherstellen konnte.
„Du willst die Wahrheit nicht wissen“, erklärte sie knapp, bevor sie das Glas mit einem großem Schluck leerte. „Das schmeckt ja furchtbar!“
„Natürlich will ich wissen, wer dir das angetan hat!“
Luz starrte auf den Boden. „Die Lebensmittelpreise sind gestiegen.“
Wütend ließ ich ihre Hand los. Wie konnte sie nur so stur sein? Anscheinend verstand sie den Ernst ihrer Lage nicht. Ich erkannte sie nicht wieder. Wo war das liebe Mädchen, das ich so sehr mochte?
„Was interessieren mich...“
„Verstehst du denn nicht?“ Schon wieder unterbrach sie mich. „Die Preise steigen, aber Papa und Jorge verdienen immer weniger. Ich muss für zwei hart arbeitende Männer kochen. Manchmal für drei, wenn du vorbeikommst. Und... und das muss bezahlt werden, irgendwie.“
„Soll das heißen, du...“ Ich konnte es nicht aussprechen. Es war, als hätte sie gerade einen Eimer kaltes Wasser über meinen Kopf ausgeschüttet. Mein Magen verkrampfte sich, wenn ich daran dachte, dass ich seelenruhig etwas gegessen hatte, das sie mit ihrem Körper bezahlt hatte. Und bis zu diesem Tag war ich fast täglich Gast in ihrem Haus gewesen.
Sie hatte Recht gehabt. Ich wollte die Wahrheit nicht kennen.
„Papa würde mich umbringen“, wiederholte sie. „Es würde ihn zerbrechen, er könnte nicht mit dieser Schande leben. Glaub' mir, Roque, ich würde es viel lieber behalten.“ Sie legte eine Hand auf ihren Unterleib, als könne sie so das Ungeborene vor Gonzales beschützen. „Ich habe versucht, es zu hassen, damit es leichter wird. Aber das funktioniert nicht. Ich wünschte, ich hätte eine Dummheit gemacht, wie du es genannt hast, dann könnte ich es behalten.“
Ich bemerkte, dass Gonzales aufgestanden war und uns zunickte. Luz ergriff in Panik meine Hände.
„Ich habe Angst“, flüsterte sie mit tränenerstickter Stimme.
Das wusste ich. Ich hatte auch Angst, vielleicht sogar noch mehr als sie. Vorsichtig strich ich ihre Wangen trocken. Sie musste es nicht tun. Es gab einen Weg. Ich liebte sie schon seit Jahren wie eine Schwester, da konnte es doch nicht so schwer sein, sie auch wie eine Frau zu lieben. Oder doch?
Wenn wir ihrem Vater erzählten, dass das Kind von mir war, würde er verlangen, dass ich sie heiratete. Soviel war klar. Es gab Schlimmeres. Ich mochte Luz und ich war gerne in ihrer Nähe.
Aber was, wenn ich sie nicht lieben konnte?
„Ich habe nicht ewig Zeit“, beschwerte Gonzales sich.
Luz drückte meine Hände und stand auf. An ihrem bemüht stolzem Gesichtsausdruck konnte ich erkennen, dass sie versuchte, Haltung zu bewahren. Aber ihre Beine waren anscheinend noch unsicherer als vorher. Ich wusste nicht, ob das an dem Alkohol lag, oder daran, dass sie Angst hatte und jeder im Raum sie beobachtete.
Sie sah mich an und ich verstand die Fragen in ihren Augen, noch bevor sie sie stellte.
„Du wirst auf mich warten, nicht wahr? Wenn es vorbei ist, wirst du doch noch hier sein?“
Ich nickte, weil meine Kehle so trocken geworden war, dass ich nichts herausbekommen konnte. Dabei gab es soviel, das ich ihr sagen wollte. Aber ich sah nur auf und blinzelte, weil ich sie durch meine Tränen hindurch kaum noch erkennen konnte.
Ich spürte Gonzales' Ungeduld. Er war so nahe, dass ich ihn atmen hören konnte. Ich nahm seinen Geruch wahr - eine Mischung aus Schweiß und Wein - und ich wusste, dass ich sie aufhalten sollte.
Doch ich konnte es nicht.