Rückkehr aus dem Nichts
Als ich zurückkehrte aus dem Nichts und zu mir kam, hörte ich zuerst Geräusche. Sie drangen dumpf an meine Ohren, ohne dass ich sie einordnen konnte. Sie waren nicht sehr laut, eher gedämpft, wie von weitem. Mein Kopf war ein einziger, dröhnender Schmerz. Ich wurde bewusster, langsam versuchte ich, den Kopf zur anderen Seite zu drehen, aber schon eine kleine Bewegung reichte, um mir das Gefühl zu geben, dass sich in meinem Schädel die graue Hirnmasse löste und mit der Kopfdrehung zur anderen Seite kippte. Mir wurde schlecht vor Schwindel. Ein Stöhnen entwich meinem Mund, und ich schmeckte plötzlich Blut, bittersüß und modrig. Wieder hörte ich Geräusche, erkannte sie als gedämpfte Schritte, die näher kamen, es hörte sich an, als würde eine Tür geöffnet und geschlossen.
Die Schritte hörten sich jetzt unangenehm laut und bedrohlich an, so direkt in meiner Nähe. Jemand blieb neben mir stehen, ich fühlte Blicke auf mir. Die Person sagte nichts, ich hörte sie mit irgend etwas hantieren. Dann berührte sie meinen linken Arm, beschäftigte sich mit ihm – ich hatte einen Arm, das war mir bis jetzt gar nicht bewusst gewesen. Und dieser Arm tat weh. Die Person war jetzt offensichtlich fertig, sie entfernte sich wieder und schloss die Tür hinter sich. War ich allein? Ich hörte nichts mehr außer leisen, rhythmischen Geräuschen wie von Geräten, die sich in der Nähe meines Kopfes befinden mussten, außerhalb meines Blickfeldes.
Grelles Licht drang durch die Lider in meine Augen, und ich öffnete sie langsam. Wollte ich wirklich etwas sehen? Ich war mir dessen noch nicht so sicher. Ich erwartete nichts Gutes, nachdem ich bis jetzt nur Schmerzen gefühlt und Blut geschmeckt hatte. Ich schien irgendwo zu liegen, nur wo? Mein erster verschwommener Blick ging schräg an eine weiße Zimmerdecke. Von dort kam auch das Licht, aus einer Leuchtstoffröhre. Sie blendete mich. Langsam kam meine Sehschärfe zurück, meine Augen wanderten langsam die Wände entlang, ohne den Kopf zu bewegen. Auch die Augen schmerzten. Dann entdeckte ich, als ich über das untere Ende meines Bettes blickte, eine Tür. Eine breite, hellgrau lackierte Tür, nichtssagend und unpersönlich. Jetzt erst wurde mir bewusst, dass ich in einem Bett lag, zugedeckt mit einer weißen Bettdecke. Ich schloss die Augen wieder. Mir war übel.
Allmählich fühlte ich den Rest meines Körpers. Zerschlagen fühlte er sich an. Ich fand keine Kraft, ihn zu kontrollieren, mein Hirn war wie isoliert unter der Schädeldecke, ohne Verbindung zum Körper, nicht fähig, ihm Befehle zu erteilen. Es dauerte eine Weile, bis in mir der Wille erwachte, meine Lage zu analysieren. Mit diesem Willen verblasste auch der Schockzustand, der mich von meinem Körper getrennt hatte, er gehorchte mir wieder. Ich bewegte vorsichtig den linken Arm, an dem die Person zuvor hantiert hatte. Eine Kanüle steckte im Handgelenk, von ihr ging ein durchsichtiger Schlauch, durch den eine Flüssigkeit in meinen Körper lief, nach oben an eine über Kopf aufgehängte Flasche. Was war darin? Ich konnte die Aufschrift auf der Flasche nicht lesen. Ich dachte an meinen rechten Arm, versuchte ihn zu bewegen. Es tat unerträglich weh, als ich ihn anhob. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass die untere Hälfte in einem Gipsverband verborgen war. Nur die Finger sahen heraus. Sie waren blau angelaufen. Schockiert schloss ich wieder die Augen. Dann die Beine – auch sie ließen sich bewegen, waren aber nicht frei beweglich, sie schienen eingezwängt zu sein in enge, juckende Bandagen. Sie schmerzten auch, aber immerhin spürte ich sie. Mein Brustkorb hob und senkte sich, mir wurde bewusst, dass ich unregelmäßig atmete, zitternd und flach. Jeder Atemzug tat weh wie tausend Messerstiche.
Von draußen kamen wieder Geräusche von Schritten, sie kamen näher, die Tür öffnete sich. Eine junge Frau kam herein, langsam, zögernd. Sie blieb neben meinem Bett stehen, links von mir, der Schlauch des Tropfes hing zwischen uns. Ich betrachtete sie teilnahmslos. Sie trug ein weißes Sommerkleid, bedruckt mit üppigen roten Blumen. Ihre Haare waren kastanienbraun und kräftig, leicht gelockt hingen sie ihr bis kurz über die Schultern. Sie strich sich nervös den Pony aus der Stirn. Die Frau sah mich mit ihren hellblauen Augen an, ich las Bestürzung darin. „Wolfgang“, sagte sie leise, „was machst du nur für Sachen? Als ich gehört habe, was passiert ist, dachte ich schon, ich sehe dich nie wieder...“ Sie schob den Flaschenständer vorsichtig etwas beiseite und beugte sich über mich. Ihre Hand strich sanft über meine Wange. Ihre Augen blickten besorgt in meine, wanderten über mein Gesicht. Parfümgeruch stieg in meine Nase, vermischt mit frischem Schweiß. Sie schwitzte etwas. Auch ihre Stirn war feucht. Das Parfüm roch angenehm, es weckte ein Gefühl in mir, das ich nicht beschreiben, nicht einordnen konnte. Genauso wenig wie die Frau. Meine Zunge war dick und geschwollen, sie klebte am Gaumen. Ich bewegte sie, wieder der Blutgeschmack.
„Wer sind Sie?“ fragte ich die Frau. Die Stimme, mit der ich sprach, kam mir fremd vor. Fassungslos sah die Frau mich an. „Ich bin’s doch, Wolfgang, deine Frau Heike. Erkennst du mich denn nicht?“ Ich sah sie nur stumm an, studierte ihr Gesicht, aber es sagte mir nichts. Ich spürte nur Leere in mir. Sie musste das an meinem Gesichtsausdruck oder in meinen Augen erkannt haben, denn ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen. „Kannst du dich denn nicht an mich erinnern, Wolfgang, oder an irgendetwas anderes?“ Ich hatte vergessen, dass mein Kopf sich wie wahnsinnig drehte, wenn ich ihn schüttelte, schloss die Augen und stöhnte, weil mir prompt unheimlich schlecht wurde.
Ich hörte, wie die Frau, die mich Wolfgang genannt hatte und sich als meine Frau bezeichnet hatte, sagte: „Ich komme gleich, warte auf mich“, als ob ich abhauen könnte, und mit hastigen Schritten, die laut in meinen Ohren gellten, aus dem Zimmer verschwand. Ich versuchte, mich daran zu erinnern, ob ich sie tatsächlich kennen müsste, aber ich konnte mich eigenartigerweise noch nicht einmal daran erinnern, ob ich wirklich Wolfgang hieße. Mir wurde schlagartig bewusst, dass ich nicht wusste, wer ich war und was mit mir passiert war. Panik überkam mich, aber ich konnte mich nicht bewegen, mein Körper erlaubte es nicht. Mein Herz hämmerte bis zum Hals.
Die Frau, die sich Heike nannte, kam wieder herein, langsam, zögernd schritt sie zu meinem Bettende, ließ zwei Männer in weißen Kitteln vorbei, der eine schwarzhaarig und noch recht jung, der andere schon älter, fast glatzköpfig bis auf einen grauen Kranz an den Seiten. Er blickte über seine Goldrandbrille hinweg ernst auf mich herunter. „Na, Herr Siebeck, was hören wir da? Sie haben einen kleinen Blackout?“ Der jüngere der beiden sprach mit betont forscher Stimme und versuchte, gleichzeitig optimistisch und seriös zu wirken. Sie standen mittlerweile an meinem Bett, dort, wo vorher die Frau gestanden hatte, die sich jetzt an der Metallkante meines unteren Bettendes festhielt und mich anstarrte, als ob mein Zustand ihr den Boden unter den Füßen wegziehen würde. Ihre Hände waren verkrampft, die Fingerspitzen weiß geworden. Mein Blick wanderte von den Weißkitteln zu der Frau und zurück. „Ich weiß nichts mehr“, hörte ich mich hilflos mit der gleichen, fremden Stimme sagen.
Das war vor vier Monaten. Inzwischen bin ich aus dem Krankenhaus entlassen worden. Einige Wochen war ich dort, wegen den schweren Kopfverletzungen. Heike hatte mich jeden Tag besucht. „Es tut mir Leid“, sagte ich ihr einmal, „ich glaube dir, dass wir verheiratet sind. Ich kann mich nur nicht daran erinnern. Verlang nicht zu viel von mir.“ Heike hatte gemeint, dass wir das schon hinkriegen würden, aber ihre Stimme zitterte dabei. Sie war am Anfang manchmal wirklich überfordert, denke ich – mit einem Mann, der zu nichts taugte und aussah wie ein verprügelter, hirnloser Zombie, zwei Kindern und ihrem Halbtagsjob im Hotel: Sie hat ihre ganze Kraft gebraucht in der Zeit. Oft genug hatte sie von beidem zu wenig.
Wir haben zwei Kinder, Stefan, sieben Jahre, und Silke, fünf Jahre alt. Es sind liebe Kinder. Der Junge sieht seiner Mutter sehr ähnlich, aber er hat nicht ihr ruhiges Temperament – ich frage mich, ob sie immer schon so ruhig war, oder erst seit meinem Unfall. Hat er meines? Wie ist mein Temperament? Das Mädchen ist blond, wie ich. Ihre Mutter macht ihr morgens zwei Zöpfe, was nie ganz ohne Geschrei abgeht, denn die Kleine kann nicht zwei Minuten stillsitzen. Heike hat mich durch das ganze Haus geführt, ich mochte sie nicht fragen, ob sie die Möbel ausgesucht hatte oder wir beide. Komme mir vor wie ein Fremder. Sie zeigte mir, wo meine Wäsche im Schrank zu finden sei, welche Zahnbürste mir gehöre und welcher Platz am Esstisch meiner sei. „Und hier ist unser Schlafzimmer“, hatte sie gesagt und mit einer weit ausholenden Handbewegung auf ein Doppelbett gezeigt. Ein schwarz lackiertes Eisengestell, weiße Bettwäsche mit kleinen, gestickten Rosen darauf. Die erste Woche fand ich im Dunkeln den Weg zum Bett nicht, wenn ich nachts aufstand, und stieß mir nicht nur einmal die Zehen an der Ecke des Metallbettes.
Im Schlafzimmer steht ein großer Wäscheschrank. Er ist mahagonibraun und hat drei Schiebetüren. Die mittlere Tür ist mit einem großen Spiegel verkleidet. Ich komme aus dem Bad, habe geduscht, und bleibe vor dem Spiegel stehen, lasse das Handtuch fallen, das ich mir um die Hüften gewickelt hatte. Wie sehe ich aus? Ich bin kräftig gebaut, habe mich gerade gewogen und festgestellt, dass ich 92 Kilo wiege. Ich muss noch schwerer gewesen sein, denn die Hosen im Schrank sind mir alle etwas zu weit, sie rutschen ohne Gürtel. Meine Körperbehaarung ist nicht besonders ausgeprägt, außerdem bin ich ein heller Typ, da sieht man es noch weniger. Der Bruch im rechten Arm ist gut verheilt, der Gips schon lange ab. Die Rippenbrüche sind nur noch unangenehme Vergangenheit. Meine Haare sind noch recht kurz, man hatte sie mir im Krankenhaus abrasiert, wegen der Kopfverletzungen. Meine Augen sind graublau und nicht mehr blutunterlaufen, nur in den Augenhöhlen sind einige dunkle Flecken zurückgeblieben. Ganz schwarz war ich am Anfang um die Augen herum, es dauert lange, bis solche Blutergüsse verschwinden, sagte man mir. Wie erschreckt mich die Kinder die ersten Tage jedes Mal angesehen hatten! Wie sie mich musterten, als wäre ich ein Monster. In der Lendengegend, auf der rechten Seite, verläuft eine etwa zwölf Zentimeter lange Narbe. Sie scheint recht alt zu sein. Was hatte ich dort? Für eine Blinddarmoperation ist sie zu lang.
Den Bemerkungen und Reaktionen von Heike und den Kindern entnehme ich, dass ich mich anders bewege als früher, anders reagiere und andere Vorlieben habe, als sie es von mir gewohnt waren. Früher sei ich unordentlich gewesen, sagt Heike. Ich hätte meine schmutzige Wäsche vor dem Duschen nicht in die Wäschebox, sondern auf den Boden davor geworfen, auf den Stapel, den sie zum Waschen sortiert hatte. Das hätte sie immer geärgert, sagt sie. Aber als sie es mir erzählt, klingt es nicht, als ob sie sich freut, dass ich jetzt ordentlicher bin und ihr Arbeit erspare. Ich habe das Gefühl, dass sie mich lieber so hätte, wie ich vorher war.
Neulich gingen wir zu viert spazieren. Wir wanderten einen Feldweg entlang, die beiden Kinder waren ein Stück zurückgeblieben. Inzwischen war es Oktober geworden. Die Felder waren abgeerntet, Apfelbäume am Wegesrand trugen schwer an ihrer rotbäckigen Last. Der Duft der Früchte wehte zu uns herüber. Hatten wir uns früher an den Händen gehalten beim Spazierengehen? Jetzt konnte ich es jedenfalls nicht, meine Hände steckten in den Jackentaschen. Ich spürte Trotz, wollte mich nicht verbiegen lassen, nichts tun, wozu ich nicht wirklich Lust hatte. An ihr verriet nichts, ob sie darüber nachdachte. Die Sonne schien mild, und unsere Körper warfen Schatten. „Also, einen Schatten hast du noch“, witzelte sie, wie, um überhaupt etwas zu sagen, denn zwischen uns bestand eine unsichtbare Mauer, die wir wohl beide fühlten. „Viel mehr ist von mir auch nicht übrig“, antwortete ich. Ich glaube, ich bin ihr fremd geworden. Mir ist sie sowieso fremd. Wir schlafen im selben Bett, sie links, ich rechts. Es ist für sie selbstverständlich, mit mir in einem Bett zu schlafen. Aber für mich ist sie eine Unbekannte. Vom Verstand her ist ihr das schon klar, aber vom Gefühl her – fast unmöglich, es nachzuvollziehen, es zu begreifen. Die Distanz, die ich zwischen uns schaffe, verletzt sie tief. Aber ich kann nicht so tun, als wäre es wie früher. Selbst, wenn ich ein guter Schauspieler gewesen wäre, hätte ich es nicht gekonnt, denn ich weiß ja nicht, wie. Es gibt kein Drehbuch, das mir sagen könnte, wie ich zu reagieren hätte. Meine Gefühle lassen sich nicht steuern. Sie ist schön, wenn sie neben mir im Bett liegt und schläft, ich betrachte sie gerne. Ihr Gesicht ist dann sehr jung und verletzlich. Natürlich ist mir klar, dass sie mich als ihren Mann betrachtet und mit mir wahrscheinlich schon oft geschlafen hat – da sind zwei Kinder, die mich Papa nennen –, aber für mich ist sie eine Fremde. Ich kann nicht mit ihr schlafen, nicht einfach so. Ich möchte erst eine Beziehung zu einer Frau aufbauen, bevor ich mit ihr ins Bett gehe. Vielleicht war ich immer so, vielleicht auch nicht. Jetzt ist es jedenfalls so. Ich fühle mich unsicher, traue mich nicht, sie zu fragen, wie es früher war mit uns im Bett. Wie reagiert sie dann wohl? So viele Fragen stehen zwischen uns. Es gibt keine Vertrautheit mehr. Vertrautheit wächst mit der Zeit, und hinter uns gibt es keine gemeinsame Zeit mehr, die uns verbinden würde. Ich fühle mich einsam.
Die Kinder nennen mich von Anfang an Papa, sie nahmen mich, kaum, dass ich aus dem Krankenhaus zurück war, bei der Hand und führten mich in ihre Kinderzimmer, holten ihr Spielzeug heraus und verlangten, dass ich mit ihnen spielte. Das mache ich seitdem auch gerne, aber es ist nicht immer einfach. Ich habe zwar Zeit, weil ich nicht arbeite, aber ich weiß nicht recht, was ich mit ihr anfangen soll, denn ich habe ja alles vergessen. Stefan wollte am Anfang Mau-Mau mit mir spielen und ärgerte sich, weil ich die Spielregeln nicht mehr wusste. Silke weinte, war sehr enttäuscht von mir, weil ich das Gute-Nacht-Ritual vergessen hatte: Zähne putzen, sie auf meine Schultern setzen, ins Kinderzimmer galoppieren und dabei wiehern wie ein Pferd, und dann eine Geschichte vorlesen. „Wie kannst du das vergessen?“, fragte sie mich gekränkt, und ihre Augen waren voller Tränen, als sie im Bett lag und ich ihr gute Nacht sagte, ohne wenigstens das Geschichtenbuch in die Hand genommen zu haben.
Oft bemerke ich, dass die Kinder mich beobachten. Ihre Blicke tun mir weh, denn es sind verwirrte, zweifelnde und verzweifelte Blicke. Ich fühle mich schuldig für etwas, woran ich keine Schuld habe. Ich habe das Gefühl, alles falsch zu machen, egal, was ich anpacke. Es ist, als ob ich versuchte, mich in einem stockdunklen Raum zurechtzufinden, ohne etwas sehen, hören oder riechen zu können. Orientierungslos. Neulich frage ich Silke: „Was meinst du, gehen wir zur Kirchweih? Setzen uns ins Riesenrad und sehen uns alles von oben an?“ Ihr Blick ist tödlich: „Ich habe Angst so hoch da oben, das weißt du doch.“
Ein paar Tage, nachdem ich aus dem Krankenhaus zurück war, besucht mich ein Mann. Es ist fünf Uhr nachmittags, er klingelt, steht draußen vor der Tür und sagt, er wäre mein Freund Bernd. „Ich komme direkt von der Arbeit“, sagt er, und schlägt vor, dass wir in eine Kneipe gehen. Wir gehen zu Fuß, vier Straßen weiter an einer Ecke befindet sich eine gemütliche Kneipe, die Einrichtung ist rustikal, es ist ziemlich voll, laut und halb dunkel. Rauchschwaden ziehen an den gelb verglasten, schmiedeeisernen Lampen vorbei, Wände und Holzdecke sind vergilbt. Manche grüßen mich, ihre Blicke sind etwas unsicher. Ich nicke, grüße zurück, sicher ist sicher. Wir hocken uns in eine Ecke, allein an einen kleinen Tisch. Bernd sieht mich an. Er ist ungefähr so alt wie ich, Ende dreißig, von kräftiger Statur. Ein ruhiger, leiser Typ. Seine dunklen Haare sind sehr kurz geschnitten, die Augen, die nachdenklich auf mir ruhen, braun mit dunklen Flecken. Er ist mir sympathisch. Ich glaube ihm, dass er mein Freund war, früher. „Bernd“, frage ich, „wer bin ich?“ Er spielt mit einem roten Feuerzeug, schubst es auf dem Holztisch herum, es dreht sich im Kreis. Dann blickt er auf, seine Mundwinkel verziehen sich zu einem flüchtigen Lächeln. „Die meisten Menschen versuchen ein Leben lang, herauszubekommen, wer sie sind. Du bist dir selbst ein unbeschriebenes Blatt. Ich werde dir gar nichts sagen. Beobachte dich, und du wirst dich kennen lernen. Und höre auf niemanden.“ Er verstummt, beschäftigt sich wieder mit seinem Feuerzeug. Mir scheint, das war eine lange Rede für ihn.
Wir bleiben noch eine Stunde in der Kneipe, reden über Belangloses, trinken jeder zwei Pils. Als die Bedienung fragte, was ich trinken wolle, sagte ich ohne zu zögern: „Ein Pils“. Bernd macht keine Bemerkung darüber, ob ich früher auch immer dieses Bier getrunken habe. Jetzt trinke ich es eben. Kühl und leicht bitter rinnt es meine Kehle hinunter. Ein gutes Sieben-Minuten-Pils machen sie hier, kein hastig eingeschenktes. Man scheint Zeit zu haben hier für ein anständiges Pils. Woher weiß ich, wie ein anständiges Pils zu sein hat? Bernd würde mir die Frage nicht beantworten wollen, also lasse ich es. Er bringt mich am Ende noch bis zur Haustür, dann verabschiedet er sich. Ich schließe die Haustür nicht sofort, sehe ihm nach. An der Gartenpforte dreht er sich noch einmal um, lächelt kurz. Ich würde gern wissen, was wir früher so alles zusammen gemacht haben.
Bernd hat mich nachdenklich gemacht. Ich bemerke, dass Verwandte und Nachbarn mir bei jeder Begegnung erklären, wie ich früher gewesen sei. Manchmal finde ich diesen Menschen, den sie beschreiben, unsympathisch. Ich wehre mich innerlich dagegen, ihren Erwartungen zu entsprechen. „Lasst mich so sein, wie ich jetzt bin“, möchte ich manchmal schreien, aber ihre Gesichter sind freundlich und eifrig beflissen in dem Bemühen, mir zu helfen. Sie würden mich nicht verstehen. Ihr Bild von mir ist fest in ihren Gedächtnissen verankert, ihre Meinung von mir unverrückbar. Es würde sie sehr irritieren, wenn ich jetzt ganz anders wäre. Aber ich kann ihren Erwartungen nicht entsprechen. Meine Verhaltensmuster sind ausgelöscht.
Ich kann meine Arbeit nicht mehr machen. Ich weiß nicht, wie man sie macht. Eines Tages besuchen mich mehrere Männer. Einer von ihnen sagt, er wäre mein Chef, wäre es immer noch. Ich versuche mir seine Erscheinung einzuprägen, für den Fall, dass ich wieder arbeite. Er ist schon älter, sehr schlank, fast hager. Seine Augen sind blau, die Haare grau und kraus, er trägt einen dunkelgrauen Anzug. Einen riesigen Blumenstrauß hat er mitgebracht, für mich. Er gibt ihn Heike, die sich auf die Suche nach einer entsprechenden Vase macht. Mein Chef ist nett, er drückt sein Mitgefühl mit mir aus und die Hoffnung, dass ich bald wieder arbeitsfähig wäre. Zwei Männer in blauen, staubigen Arbeitshosen begleiten meinen Chef. „Hallo, Wolfgang, wir sind deine Kollegen Franz und Michael, wollten mal nach dir schauen“, sagen sie. Sie hocken verlegen auf der Vorderkante unserer Couch und wissen nicht recht, was sie mit mir anfangen sollen. Ich kenne sie nicht. „Hallo, wie geht’s euch“, sage ich. Viel mehr weiß ich nicht zu sagen. Sie erzählen von ihrer, von unserer Arbeit. Ich höre zu. Fenstermonteur soll ich gewesen sein. Nach einer halben Stunde gehen sie wieder. Ich bin bis auf Weiteres krankgeschrieben.
Man hatte mir gesagt, ich wäre beim Einbau eines Fensters aus der Fensterhöhle gefallen. Wäre unvorsichtig gewesen, hätte mich zu weit vorgebeugt und wäre abgerutscht. Zum Glück sei es nur der erste Stock gewesen. Ich soll hinausgefallen und erst einmal auf einem Vordach über einer Haustür gelandet sein, das meinen Fall bremste. Auf dieser glatten Plexiglas-Vorrichtung habe ich mich nicht festhalten können und sei so aus zweieinhalb Metern auf den Betonboden gestürzt, sei unglücklich auf den Kopf gefallen. Im Krankenhaus habe ich eine knappe Woche im Koma gelegen. Tot hätte ich sein können, sagte man mir, ich hätte Glück gehabt. Glück – ich fühle mich nicht glücklich, denn ich habe mich, mein Leben verloren, obwohl ich lebe. Ich bin auf der Suche nach mir selbst.
Wenn ich nachts träume, sehe ich mich auf einer Straße. Ich drehe mich um. Hinter mir sehe ich nichts, denn dort ist es stockdunkel. Ich weiß nicht, woher ich gekommen bin und was ich hier mache. Ich habe das Gefühl, zurückgehen zu müssen in das Dunkel, aber ich fürchte mich davor, dann in ein bodenloses Loch zu fallen. Vorwärts gehen kann ich auch nicht, ich glaube, dass ich, um vorwärts gehen zu können, erst zurückgehen muss. Also bleibe ich stehen, wo ich bin, gefangen an diesem Ort. Immer wieder träume ich diesen Traum. Er quält mich. Ich wache nachts auf und kann dann nicht mehr schlafen, stehe auf und laufe in der Wohnung herum, sehe fern. Am nächsten Morgen fühle ich mich meistens zerschlagen, brauche erst einen starken Kaffee, um zu mir zu kommen.
So kann es nicht weitergehen. Ich habe beschlossen, etwas zu tun: mich mit allen Sinnen zu suchen. Ich habe nichts mehr außer meinen Sinnen, worauf ich mich verlassen kann, nichts, was ich sonst in die Gegenwart gerettet habe. Meine Augen folgen der Straßenkurve, die ein Stück vor unserem Haus verläuft, dem Muster des Verbundpflasters auf dem Weg zum Haus, das ich jahrelang jeden Tag, wenn ich kam oder ging, gesehen haben muss. Ich betrachte das Haus selbst, von außen – ein weißer Backsteinbau mit rotem Dach –, von innen, die Holztreppe nach oben, die Zimmer, die Terrasse, die Möbel. Alle Dinge, die mich umgeben, jeden Menschen, dem ich begegne und der erklärt, er würde mich kennen, betrachte ich genauestens, um Erinnerungen zu wecken an früher, an mich. Aber am meisten forsche ich in Heikes Gesicht, in ihren kühnen, hellen Augen. Folge dem Lauf ihrer Augenbrauen, sie sind sehr wenig gebogen, fast gerade. Betrachte ihre widerspenstigen, leicht gelockten Haare, die Sommersprossen im Gesicht und auf den Schultern, ihre Nase mit den schmalen Nasenflügeln und den kleinen, runden Mund, den sie zusammenpresst, wenn sie unter Anspannung steht. Sie presst ihn oft zusammen. Ich spiele auf der Straße vor dem Haus Fußball mit Stefan und beobachte, wie er sich bewegt, wenn er auf den Ball zuläuft und schießt, hoffe, dass ich mich erinnere. Wir hätten früher oft zusammen Fußball gespielt, sagt er. Heike gibt mir Fotoalben, setzt sich neben mich auf die Couch und erklärt: „Schau, das bist du, als du drei Jahre alt warst. Und hier wirst du eingeschult. Das da sind unsere Hochzeitsfotos, und das hier die Kinder, letzten Sommer am Meer – erinnerst du dich?“ Ihre Stimme klingt flehend, verzweifelt, obwohl sie versucht, sich nichts anmerken zu lassen. Ich weiß nicht, wer mehr leidet, sie oder ich.
Ich frage sie, ob ich früher gern Musik gehört habe, und wenn ja, welche. Sie gibt mir CDs von den Rolling Stones und den Toten Hosen. „Als ich dich kennen lernte, hast du ACDC geliebt!“, lacht sie. Ich höre ACDC und finde sie grässlich. Vielleicht hilft mir diese Musik deswegen nicht, mich zu erinnern. Ich packe die CDs weg. Wir versuchen es auf dem Geschmacksweg. „Ich mache heute Wiener Schnitzel, dein Lieblingsessen, okay?“, sagt Heike, um mich aufzumuntern. Vielleicht hofft sie auch, dass nicht nur Liebe, sondern auch Erinnerungen durch den Verdauungstrakt gehen. Der Darm soll ja von einem gehirnähnlichen Geflecht umwoben sein. Ich stelle fest, dass ich Schnitzel nicht sehr gern esse, und schon gar nicht mit Ketchup, wie ich es früher immer bevorzugt haben soll. Ehrlich gesagt, kann ich jetzt auf Schnitzel verzichten. Es schmeckt mir zu sehr nach Fast Food.
Was ist, wenn ich auf Augen und Ohren verzichte und auf meinen Tastsinn umschalte? Ich bitte Stefan, mir ein Tuch um die Augen zu binden. Er macht das gern, hält das für ein neues Spiel. Vielleicht hat er Recht. Wahrscheinlich sollte ich mich nicht so verkrampfen, lockerer an die Sache herangehen. Heike benutzt manchmal Ohrstöpsel, weil sie nachts leicht wach wird, erst recht, wenn ich herumlaufe. Sie müssen jetzt für meine Ohren herhalten. Ich stehe im Hausflur und strecke die Arme aus. Wo ist die Wohnzimmertür? Stefan lacht. „Hierher, Papa“, ruft er. Ich höre es gedämpft. Er schlägt leicht auf meine Hände, um mir die Richtung zu weisen. Ich gehe auf ihn zu. Er bleibt stehen. Meine Hände tasten über seinen Kopf, seinen Haarschopf, der morgens immer eigensinnig in alle Richtungen absteht und mit Wasser gebändigt werden muss. Sein Gesicht ist noch klein, die Haut ganz zart. Er weicht mir nicht aus, er kichert. Meine Finger erforschen seine Ohren. Es ist ungewohnt, sich nur auf die Hände zu verlassen. Jetzt reicht es ihm, er entzieht sich mir. Langsam taste ich mich vorwärts, erwische den Rahmen der Wohnzimmertür. Sie ist kühl und glatt, ich weiß, sie ist aus dunkelbraunem, lackierten Holz. Ich gehe weiter. Irgendwo links an der Wand muss ein Sideboard stehen. Ein niedriger Schrank, in dem Heike Geschirr und Tischtücher aufbewahrt. Ich habe gesehen, wie sie die Teller von dort herausholte. Oben drauf stehen gleich links zwei weiße Porzellangefäße, weiter rechts eine viereckige, grüne Glasschale, Heike hängt sehr an ihr. Ich muss vorsichtig sein. Ich erreiche die Porzellangefäße, sie sind rund, bauchig, glatt und kalt. Ihre Deckel klappern beim Berühren. Es macht mir keinen Spaß mehr, blind herumzutasten, was bringt mir das? Ich ziehe mir das Tuch vom Kopf und die Stöpsel aus den Ohren. Stefan ist nicht zu sehen.
Dann gehe ich durch das Haus und den Garten und sauge bewusst alle Gerüche ein, in der Hoffnung, dass mir irgendeiner bekannt vorkommt. Heike bekommt das mit, fragt mich, warum ich so schnaube, und ich erkläre es ihr. Das bringt sie auf eine Idee. Ihr fällt ein, dass ich früher stark auf Gerüche reagiert habe – ob es nun schöne oder abstoßende waren. Erstes Testobjekt ist ihr Parfüm. Sie hält mir den Flakon unter die Nase, wedelt mir den Duft zu, bestäubt mich damit – es riecht zwar gut, ich mag Vanilleduft, aber das war’s auch schon. Heike ist jedoch keine Frau, die leicht aufgibt, habe ich inzwischen festgestellt. „Augen zu“, sagt sie streng und „Riech jetzt mal“: Ein scharfer, beißender Geruch frisst sich in meine Nasengänge; ich muss niesen und öffne die Augen. Was macht sie? Glaubt sie, mich mit einer Chili-Schocktherapie heilen zu können? Ich muss lachen, finde diese Frau unmöglich und süß. Die Mauer zwischen uns beginnt zu bröckeln. Ein schönes Gefühl. Ich streichle ihren Arm. Er ist warm und fest. Ich will mehr. Und bekomme mehr.
„Lass uns noch einen letzten Versuch machen“, bittet sie. Sie besteht darauf, mit mir zu meiner Firma zu fahren, damit ich dort in der Werkhalle eine Schnupperstunde nehme, wie sie das nennt. Ich bin einverstanden, trotzdem ist es mir unangenehm, als sie meinen Chef anruft und ihm ihr Vorhaben erklärt. Ich habe meinen Stolz, hasse das Gefühl, auf jemanden angewiesen zu sein. Aber Heike hat Recht, ich muss alle Möglichkeiten ausschöpfen. Mein Chef ist einverstanden damit, dass ich in der Halle herumgehe, mich umsehe, umhöre und an den Materialien rieche, sie anfasse und vielleicht dadurch endlich, endlich der schwarze Vorhang hinter mir fällt, der mein Leben in zwei Teile teilt. Ich wünsche es mir so sehr. Der Wunsch ist größer geworden als die Angst vor der Erinnerung an den Unfall.
Als wir auf den Hof fahren, sind zum Glück keine Leute da, sie sind in der Mittagspause. Ich habe darauf bestanden, mittags dorthin zu fahren. Es wäre mir peinlich gewesen, von den Mitarbeitern beobachtet zu werden. Mein Chef hat uns kommen sehen, sein Bürofenster geht auf den Hof hinaus. Er streckt mir die Hand schon von weitem entgegen. „Ja, Wolfgang, schön, dich zu sehen. Gut siehst du aus“, ruft er fröhlich. „Schau dich ruhig um“, sagt er, „wenn es dir nur hilft.“ Er nickt und zieht sich zurück, als ahnte er, dass ich dabei allein sein möchte. Heike und ich gehen in die Halle, in der die Fenster gebaut und vormontiert werden. Kunststofffenster, braune, weiße – in jeder Größe und jeder Baustufe stehen und liegen sie hier. Seltsam vertraut kommen sie mir vor. Ich streiche gedankenverloren über einen weißen Rahmen, kühl und glatt ist er. Mein Blick wandert über Glasplatten, Werkzeug, über Fräsmaschinen, Kabeltrommeln, Eimer mit Kunststoffkleber. Die Arbeiter haben ihre Arbeitshandschuhe auf dem Werktisch liegen gelassen, es riecht nach Arbeit. Heike streift durch die Halle, ich achte nicht auf sie. Plötzlich steht sie neben mir, hält mir eine Metalldose unter die Nase: „Riech!“ Ein durchdringender Lösungsmittelgeruch lässt mich den Atem anhalten. „Nimm das weg, Heike, das Zeug ist ungesund“, sage ich. Und weiß plötzlich, wofür man es benutzt. Ich kann mich daran erinnern!
Es ist, als hätte man auf der Straße hinter mir Licht gemacht. Ein helles Licht, in dem ich alles sehen kann, was früher geschehen ist. Ich kann mich wieder erinnern. Nicht an alles, nicht sofort, aber manchmal genügt eine Berührung mit einem Gegenstand, ein Geruch, ein Geräusch, ein Blick, damit es mir wieder einfällt. Es ist, als ob ich aus einem Albtraum aufgewacht wäre. Ich kann auf der Straße des Lebens endlich wieder vorangehen.