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Mit einem Ziel vor Augen
In der kleinen Pension nannten sie ihn nur den Zitteraal, el gimnoto. Er wusste das, doch es störte ihn nicht mehr. Es war schon lange vorbei, und Groll oder Wut kannte er seit Monaten nicht mehr. Das war das Gute an seiner Situation: er war gelassener geworden.
Er bezahlte das Zimmer und gab dabei ein ordentliches Trinkgeld. Der Alte hinter der Theke zeigte keine Reaktion. Achim Holt hatte immer eine Schwäche für die südländische Mentalität gehabt, für den Gleichmut und die Abgeklärtheit. Doch allzu häufig schlug diese Lebenshaltung in Arroganz um und dann hasste er sie dafür.
Als er das Portemonnaie einsteckte, flatterten die Hände, dass er Angst hatte, es könne runterfallen. Holt blickte dem Alten noch einmal ins verschwitzte Gesicht und jetzt sah er ein Lächeln. Er war nicht traurig über den Abschied.
Nachdem er seinen Koffer in den alten Ford geworfen hatte, ließ er sich auf den klebrigen Sitz fallen und als er abfuhr, konnte er im Rückspiegel die Staubwirbel sehen, die er auf dem Parkplatz verursachte. Es war drückend hier unten, wie immer.
Der Wagen hatte keine Klimaanlage, also ließ er beide Fenster offen, so dass es sinnlos war, das Radio laufen zu lassen. Der Fahrtwind schlug ins Gesicht und brachte doch keine Kühlung.
Es ist furchtbar und es verlangt einem eine Menge ab, wenn man die Menschen, die man liebt und von denen man abhängig ist, demütigen und verlassen muss. Nie hätte er es für möglich gehalten, einen solchen Ausdruck in den Augen seiner Frau sehen zu müssen, als er mit dem Koffer vor ihr stand und noch eine Beleidigung sagte. Es schmerzte, das Leben.
Er musste zweimal die Fahrt unterbrechen, weil es einfach zu schlimm wurde mit dem Zittern. Er fuhr an den Straßenrand und folgte mit den Augen den anderen Fahrzeugen, um sich abzulenken. Doch er hatte keine Zeit, sein Plan war straff. Er hatte zu lange damit verbracht, alles zu organisieren. Also nahm er sich zusammen und setzte den Blinker.
Die Tour war genau geplant, die einzelnen Stationen waren benachrichtigt, er hatte sich aufgeschrieben, wie viel Zeit ihm an jedem Stopp bliebe. Er musste sich an seine Vorgaben halten, und das hatte er auch vor.
Die Strecke von einhundertfünfzig Kilometern, die er auf der ersten Etappe zurücklegen musste, kamen ihm länger vor. War es die Erwartung oder spielte die Anspannung, unter der er jetzt litt, eine Rolle dabei, dass ihm die Zeit unnatürlich langsam verging. Schließlich tauchte der kleine Ort vor ihm aus der Hitze auf.
Die paar Häuser, die er in der flimmernden Luft erkennen konnte, kauerten sich an den Boden, überragt von einer Gruppe ausladender Platanen. Sobald er mit seinem Wagen in den Schatten fuhr, machte sich angenehme Kühle breit. Die Bäume waren Freund der Bewohner.
Das Klappen der Autotür durchbrach die Stille wie ein Sakrileg. Er musste sich umschauen, bevor er sein Ziel entdeckte, die Besitzerin hatte ihm genau beschrieben, wie er es finden würde.
Kein Mensch auf der unbefestigten Straße und er wurde unsicher. Doch dann schritt er auf das Haus zu und klopfte energisch.
Eine Frau öffnete ihm, die so füllig war und so rosig um die Wangen, dass man neidisch wurde. Sie lächelte ihm zu und reichte schweigend ihre Hand. Dann ging sie beiseite und ließ Holt eintreten.
Sie hatten im Vorfeld alles besprochen, es gab keine Fragen, obwohl er wusste, dass sein Anliegen seltsam erscheinen musste. Doch die Frau hielt sich zurück. Sie führte ihn durch das Haus, das sparsam eingerichtet war und sie gingen auf den Hof hinaus. Dort konnte er sehen, wonach er suchte.
Ein Rosengarten war hier angelegt, wie prachtvoller kaum einer sein konnte. In allen Farben und unterschiedlichsten Formen standen die Blumen überall auf dem Hof. Links ein Meer in Rot, zur rechten Hand wogte eine gelbe Pracht. Sie standen inmitten der überbordenden Schönheit.
Die Frau reichte ihm wortlos eine Decke, wies mit ihrem dicken Zeigefinger nach hinten und zog sich dann ins Haus zurück. Er stand allein inmitten der Fülle.
La France – eine besondere Rose, mit einem besonderen Duft. Sie allein war der Grund seines Hier seins. Er klemmte die Decke unter seinen Arm und schritt hinüber zu der angegeben Stelle. Dabei achtete er darauf, nur ja nicht durch die Nase einzuatmen.
Das angegebene Beet war nicht groß, es beherbergte gerade zehn Pflanzen, doch Holt wusste, ihr Duft war legendär. Die erste moderne Rose, gezüchtet 1867 von Guillot. Sie war die Rose, auf der alle neuen Sorten aufbauten, heute kaum noch zu finden.
Er breitete die Decke aus, legte sich auf den Rücken und schloss die Augen.
Dann sog er die Luft durch die Nase ein.
Ihr Duft füllte ihn fast sofort aus. Wie eine Woge schwappte er in seinen Körper, und er war erfüllt von einem angenehm weichen süßlichen Geruch. Er tauchte ein in das Meer und es kostete ihn keine Anstrengung an einen Ozean zu denken, gefüllt mit diesem lieblichen Aroma. Einstein redete von Teilchen und Wellen. Und so war es auch hier: Nicht nur Partikel strömten in seine Nase auf die Rezeptoren zu, es waren Wellen, die ihn überrollten. Überrollten und einhüllten, gefangen nahmen.
Wie ein Tier hielt ihn das Odeur fest, er vermochte nicht, die Augen zu öffnen, er wollte für immer, für alle Zeiten so in dieser Position liegen bleiben und sich einspinnen lassen von diesem unvergleichlichen Geruch.
Doch er öffnete die Augen, sah die Platanen über sich und stand auf.
Die Übergabe der Decke und die Verabschiedung von der dicken Frau verlief ebenso schweigsam wie die Ankunft.
Als er wieder in seinem muffigen Ford saß, war er noch immer erfüllt vom Duft der La France.
Er sah auf die Uhr, knapp eine halbe Stunde hatte er bei der Rosenzüchterin verbracht. Er lag im Zeitplan.
Die nächste Etappe würde nicht ganz so lang sein. Etwas weniger als einhundert Kilometer lagen vor ihm.
Das Zittern wurde schlimmer. El gimnoto. Er musste lächeln. Daheim hatte ein jeder geflissentlich über seine Krankheit hinweggesehen - wegschauen und weiterreden. Die meiste Zeit ging es ihm gut. Wenn dann ein Anfall ausbrach, herrschte kurz Schweigen in der Runde und danach um so aufgeregteres Geplapper.
Er musste pinkeln und als er am Waldrand an eine Weide urinierte, konnte er sogar entspannt auf den zittrigen Strahl schauen, der lustig vor ihm her plätscherte.
Als er schließlich die kleine Stadt erreichte, die zweiter Stopp seiner Reise sein sollte, hatte sich der Himmel soweit zugezogen, dass es den Eindruck machte, jeden Moment müsste es anfangen zu gewittern. Es war drückend und schwül, aber die erhoffte Abkühlung ließ auf sich warten.
Die Adresse seiner Verabredung war schnell gefunden, ein altes Mietshaus in einem Viertel, das scheinbar nur von greisen Leuten bewohnt wurde. Die Ruhe hier kam ihm vor wie die Totenruhe.
Die alte Dame, die ihm öffnete, war klein, lustig und sehr gesprächig. Er hatte Mühe, mit seinem Spanisch zu folgen und gar sinnvolle Antworten zu geben.
Sie plapperte in einer Tour, während sie ihn durch die Wohnung führte.
„Ein scheußliches Wetter, nicht wahr? Man weiß gar nicht, was man davon halten soll. Brütend heiß in dem einen Augenblick und kurz danach, kühlt es sich soweit ab, dass man friert. Schauen Sie nur!“ Sie deutete aus dem Fenster. „Schon wieder so ein Wolkenbruch. Das haben wir früher nicht so gekannt.“
Er nickte und lächelte müde. Als sie sein Zittern bemerkte, verstummte sie kurz, doch wenige Momente später fuhr sie fort.
Sie gingen durch die enge Wohnung, die vollgestellt war mit allerlei antikem Mobiliar. Holt kannte sich nicht aus damit, doch er vermutete, dass einiges davon ziemlich teuer sein musste.
Als sie an eine kleine unscheinbare Türe gelangten, verharrte die Frau und sah ihn feierlich an, er schaute erwartungsvoll zu ihr hinunter.
„Kennen Sie viele Stücke von der Callas?“, flüsterte sie.
Er schüttelte den Kopf. Sollte er ihr vielleicht beichten, dass er noch nie eine Aufnahme mit dieser Sängerin gehört hatte?
Was muss ich gehört haben, bevor ich von dieser Welt gehe?
„Wissen Sie, es ist eine Live-Aufzeichnung der „AIDA“ von Ende Mai 1950. Die Callas setzt sich gegen den Tenor Kurt Baum durch.“ Sie kicherte. „Ja, sie setzte sich durch. Sie singt gegen das ganze Orchester, gegen den Chor an und klingt dabei so strahlend, so klar, als sänge sie ganz allein.“
Holt unterdrückte den Anfall, der ihn zu übermannen drohte.
„Sie werden diese Aufnahme kaum irgendwo finden, sie ist extrem selten. Aber sie ist wunderschön.“
Damit öffnete sie die Tür.
Es war klein, muffig und dunkel in der Kammer. An den Wänden Regale, so eng, dass kaum noch eine Person hineinpasste. Ein Sessel in der Mitte und tatsächlich Boxen in allen Ecken. Die alte Frau hatte sich hier eine phänomenale Anlage geschaffen.
Er setzte sich, die Alte schloss die Tür, kein Licht, leises Knistern. Er schloss die Augen und lehnte den Kopf ans Polster.
Radames, gesungen von Kurt Baum, begann, Aida – die Callas, setzte ein und die beiden lieferten sich einen Dialog, unterbrochen und begleitet von behutsamen Streichern. Sehr schön, dachte Holt, die Callas klang klar und rein während der Tenor Baum kräftig und farbig daherkam. Klar voneinander getrennt boten sie sich ein Duell.
Die Spannung wurde größer, mit jedem Ton wurde bewusster, dass Rivalitäten herrschten, nicht nur im Stück. Die Callas sang zurückgenommen, sie hielt sich an die Vorgaben. Und doch war sie stets eigen, immer zu erkennen.
Doch Baum benutzte seine Rolle, sich in den Vordergrund zu singen. Über alle Konventionen hinweg, übersang er das Orchester, seine Mitspieler, bis der einzige Eindruck, der blieb, der seiner Stimme war, die vibrierte und klang.
Er spürte deutlich den Unmut der Protagonisten, trotz der Grenze, die diese Scheibe darstellte. Er war mitten auf der Bühne, hörte links Radames schallen und rechts, direkt neben ihm vermeinte er ein Tuscheln zu vernehmen, ein verärgertes Wispern.
Und Baum sang, und sprengte seine Rolle.
Holt wusste, dass die Callas sich zierte, dass sie es für nicht angebracht gehalten hatte, sich in den Vordergrund zu singen. Doch dann tat sie es:
In einer Passage, die das Orchester mit Bläsern bestimmte, begann sie ganz zart, für das Ohr von den Instrumenten kaum zu unterscheiden. Langsam dann, fast unmerklich, löste sich dieser Ton vom Teppich künstlicher Klänge. Er erhob sich über seine Kameraden, stieg immer höher und höher, bis er schließlich von allen wahrgenommen wurde, er konnte nicht überhört werden. Das hohe e. Das Meer aus Gesängen, das von allen Beteiligten der Bühne gespeist wurde, versuchte diesen einen Ton zu umspülen, zu verschlingen. Doch rein und klar strahlte dieses e am Ende des zweiten Aktes als Aida ihr Leid klagt.
Als er das Haus verließ, fühlte er sich benommen und schwach, so wie es sich gehörte, nach dem Genuss einer solchen Aufnahme. In seinen Ohren schwang das e nach, dieses e, das sich allem gegenüber durchsetzte. Das e, das es schaffte, sich zu behaupten.
Der Regen war weitergezogen, schmutzige Pfützen und schwere dunstige Luft waren zurückgeblieben.
Er lehnte mit dem Rücken am Auto und atmete tief durch. Er schloss die Augen, während er sich bemühte, nicht zu weinen. Für den letzten Schritt würde er alle Kraft benötigen, es würde schwer werden.
Als er versuchte, den Schlüssel ins Zündschloss zu bekommen und dafür eine Menge Zeit und viel Anstrengung benötigte, ärgerte er sich über sich selbst. Das gab ihm die Kraft, weiterzumachen.
Die letzten Termine, drei Sinne waren noch zu bedienen, lagen alle in derselben Stadt. Noch einmal 150 Kilometer und er war am Ziel.
Sein Weg führte ihn nach Katalonien, Cataluna! Er hatte Vorbereitungen getroffen, in Barcelona den letzten Abschnitt seiner Reise durchzuführen, er würde es hier hinter sich bringen können.
Es hatte ihm geholfen, dass er schon mehrere Male hier gewesen war. Er dachte nicht daran, es war schmerzlich. Doch einen einzigen Link in die Vergangenheit gestattete er sich: La Paella.
Als er in der Metropole anlangte, dämmerte es. Er hatte noch zwanzig Minuten, den bestellten Tisch zu erreichen – er war ein wenig stolz auf sein planerisches Vermögen.
Den Weg zu finden, einen Parkplatz für den ramponierten Fiesta ebenso, war nicht schwer, er kannte sich schließlich aus. Als er raschen Schrittes auf der Santalo anlangte, war es vollständig dunkel und die Straße machte sich bereit für eine neuerliche Nacht voller Vergnügungen.
Er hatte sich einen einsamen Platz in einer schummrigen Nische reserviert. Er wollte ungestört sein, soweit es ging. Und er war immer schon der Meinung gewesen, dass man Paella möglichst im Finstern und bei absoluter Stille genießen musste.
La Paella, das Gericht, mit dem er Spanien verband, Urlaub, Lebensfreude und seine Familie. Ein Dasein ohne Zittern und mit Zukunft. Er würde sich diesem Traum einmal noch hingeben und diese Erinnerung mitnehmen.
Im Laufe ihrer Urlaubsjahre hatten sie Unmengen verschiedener Paellas zu sich genommen und genossen. Das beste seiner Art aber gab es hier, in diesem kleinen Lokal am Rande von Barcelonas Amüsiermeile.
Während er wartete, trank er ein Glas Wasser und versuchte damit, seinen Gaumen zu beruhigen, zu neutralisieren.
Paella muss in einer gusseisernen Pfanne über Holzkohlefeuer zubereitet werden. Er wusste, was das originale vom herkömmlichen unterschied: der Safran. Der echte Safran ist wahnsinnig teuer und wird hergestellt aus einer ganz bestimmten Krokusart. Das meiste nachgemachte Zeugs, das wusste er, versaute die Paella nachhaltig.
Er hatte die Augen geschlossen, als das Gericht kam. Der Kellner hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Arzt, der ihm die niederschmetternde Nachricht überbracht hatte. Er versuchte trotzdem, freundlich zu sein.
Er nahm sofort einen Bissen Reis; es gelang ihm gut. Der Reis war nicht zu trocken und noch recht fest. Kein Geschmack, stellte er fest, ideal.
Dann die Meeresfrüchte. Shrimps - Tiefseeshrimps. Im ersten Moment, als die Zunge sie umkreiste, hatte er den Eindruck, es wäre noch Leben im Fleisch, eine gewisse Art von Leben. Dann sprangen die Rezeptoren an, sie nahmen diesen Geschmack wahr, er stellte fest, dass sie im Ansatz einen leicht bitteren hatten, der jedoch sofort verflog. Der typische Geschmack entfaltete sich an seinem Gaumen und breitete sich aus. Er hielt kurz inne, war aber nicht in der Lage, dieses Schweigen lange durchzuhalten, er musste den nächsten Bissen nehmen, den nächsten und noch einen. Kauen, verteilen, den Geschmacksstoffen Zeit lassen, sich auszubreiten und dann von Neuem.
Das Filetfleisch, eine Zwiebel darauf mit angenehm süßlicher Note. Calamaris wieder und Reis zum Abrunden.
Immer wieder aufs Neue und immer doch eine neue Note, er konnte nicht innehalten.
Dann trat genau das ein, was er befürchtet und versucht hatte zu vermeiden: Erinnerungen kamen auf, er verband jede Nuance einer Zutat des Gerichtes mit einem Bild aus vergangenen Tagen, er schwelgte in Betrachtungen. Sein Schlund war gefüllt mit den Zutaten der Paella, sein Kopf mit Aquarellen aus seinem Leben.
Er biss auf eine Chilischote.
Das Feuer brachte ihn zurück und er war dankbar dafür. Er war in Versuchung geraten und hatte nicht widerstehen können. Er hätte es wissen müssen.
Er bezahlte, wobei ihm das Trinkgeld dieses Mal nicht Leid tat, und verließ das Lokal auf unsicheren Beinen.
Und danach die letzte Etappe, zwei Sinne noch, zwei Stationen bis zum Ende. Näher, immer näher rückte der Zeitpunkt.
Angekommen, nahm er sich ein Getränk nur deshalb, weil es alle taten. Er saß im Dämmer, starrte wie die übrigen Besucher auf die dunkle Bühne und nippte lustlos an seinem Drink. Einige Anrufe und mehrere Überweisungen hatten dieses Arrangement möglich gemacht. Alles geplant, sehr genau vorbereitet. Er konnte gar nicht mehr zurück.
Musik erscholl, leise wimmernde Saxophon-Melodien. Der Vorhang bewegte sich und heraus kam zögernd eine Frau, eine Blondine, die einen schneeweißen Trenchcoat trug. Sie bewegte sich leicht im Rhythmus des Instruments und drehte sich langsam um sich selbst. Sie bot sich dar.
Dann schritt sie über die Bretter, gierig gefolgt vom Kreis des Scheinwerfers. Aufreizend langsam, lasziv waren ihre Bewegungen. Dabei schaute sie in das Dunkel des Zuschauerraumes und maß die Gesichter ihrer Bewunderer forschend ab. Als sie Holt in die Augen fasste, musste er seinen Blick senken.
Sie öffnete den Mantel. Ohne darauf zu schauen, wie nebenbei, nestelte sie an dem Gürtel herum und wie durch Zufall fiel er zu Boden. Die Musik spielte weiter.
Das Entkleiden der Frau war ein Versprechen, der Brauttanz des Spinnenweibchens. Holt war fasziniert.
Dann stand sie nackt, immer noch umschmeichelt von der Musik, vor dem Publikum und Holt genoss ihren Anblick.
Die letzten bildlichen Eindrücke sollten die einer schönen Frau sein, er schämte sich dessen nicht. Weibliche Linien, denen das Auge gern folgte, statt vulgärer Pubertär-Traum-Entsprechungen im Ballonformat.
Diese Frau dort oben war zum Anschauen bestimmt, doch er bezweifelte, dass hier im Saal jemand saß, der das erkannte.
Und dann das Finale: Der kleine Raum war nur spärlich erleuchtet, entsprechend seiner Anweisungen. Dieser Akt hier hatte ihn die meisten Mittel gekostet. Er schloss leise die Tür und einen winzigen Moment benötigte er, sich zu orientieren. Dann sah er klar, zumindest soweit es nötig war.
Auf dem Bett, welches das vorherrschende Mobiliar dieses Raumes war, saß die Blondine, etwas verschüchtert, unschlüssig. Nackt.
Sie wechselten zwei, drei verlegene Worte, dann legte sie sich auf den Rücken, die Hände an die Seiten gepresst und schloss die Augen.
Dies war sicher der ungewöhnlichste Teil seiner Reise, der Suche nach dem Endgültigen. Aber wahrlich auch der lustvollste, wie er gestehen musste. Er trat an die Schönheit heran und kniete vor ihr nieder. Als er ebenfalls die Augen schloss, hatte er das e der Callas im Ohr. Der Ton, der sich durchsetzte und behauptete.
Er legte seine Hände auf ihr Gesicht, alle beide, ganz sanft, damit sie nicht erschreckte, doch er spürte, wie sie zuckte.
Und – natürlich – ,wie eine unerwünschte Erektion, kam sein Zittern wieder. Er verzweifelte für einen Moment, doch genauso plötzlich wie es gekommen war, verschwand die Panik. Er konzentrierte sich voll auf seine Fingerspitzen.
Er ging über ihr Gesicht, fühlte die feinen Härchen, die sich über ihre Wangen zogen, die Knochen und schließlich der Kiefer. Sie glitten weiter den Hals hinunter, er fand die Aorta, wie sie pulsierte, das Leben pumpte.
Das Schlüsselbein und dann die Brüste. War die Haut im Gesicht merkwürdig kalt gewesen, so empfand er die Oberfläche in dieser Region als angenehm warm. Ihre Brustwarzen waren hart erigiert, die kleinen Hügel überzog eine leichte Gänsehaut. Warum, so sinnierte er, als seine Finger sich weitertasteten, warum ist dieses weibliche Rund so erregend, was macht es aus? Was hat ein Ballon nicht, was diese Erhebungen auszeichnet, dass alles nach ihnen strebt? Zwei Rehäuglein?
Die Frau stöhnte leise auf, als er mit seinen Händen die Beckenregion ertastete. Er streichelte über ihren Bauch und musste sich zurückhalten, nicht selbst zu stöhnen.
Sein Zittern war fort, doch jetzt hatte er eine Erektion.
Es galten Regeln, die sie vorher ausgemacht hatten und an die er sich zu halten gedachte. So fuhr er sofort mit den Fingerspitzen weiter zu den Schenkeln, ihren Innenseiten. Er spürte eine Unebenheit, ein Pickelchen. Ohne es zu wollen, fuhr er zurück und erkundete die Gegend. Ein hartes Kügelchen, das sich unter seinen Fingerkuppen sträubte. Er umkreiste den Platz und genoss die Unzulänglichkeit, das Nichtperfektsein.
Er unterdrückte den Zwang, die Augen zu öffnen und begab sich zum Ende seiner kleinen Reise. Er tastete sich über die Knie, die nun wieder ebenmäßig waren, zu den Füßen. Sie zuckte, als er die Zehen berührte und sie lachte leise auf, als er über die Sohlen strich. Er fühlte deutlich eine beginnende Hornhaut. Schade, dachte er. Das hast du nicht verdient.
Als seine Erektion am härtesten war, öffnete er seine Augen, er küsste sie leicht auf den Bauch und flüchtete aus dem Raum.
Der Mond schien ihm ins Gesicht und die Träne, welche ihm die Wange hinabrollte glitzerte, als wolle sie sich verabschieden. Er hatte die Hände um das Lenkrad gekrallt, ein letzter Halt, das Unaussprechliche nicht abwenden zu können.
Langsam lies er den Wagen die Küstenstraße hinabrollen, den Motor ausgeschalten, direkt auf die Klippen zu. Er würde nicht mehr lange leben, das stand fest. Doch wann er starb, das bestimmte er selbst.
Er nahm die Hände vom Lenkrad und lehnte sich zurück, der Wagen gewann an Fahrt. Mit geschlossenen Augen raste er dem Abgrund entgegen.
El gimnoto, dachte er lächelnd.
Und er hörte ganz deutlich das e der Callas, er hatte den Duft von La France in der Nase und den Geschmack der besten Paella der Welt auf der Zunge. Und er sah die schöne Blondine vor sich und spürte ihre warme Haut unter seinen Fingern.
Er lächelte immer noch als er starb.