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Jasmin, lass die Frau in Ruhe.
"Dein Bauch ist ganz schön dick."
Karin schaute auf und blickte in ein hübsches, von blonden Zöpfen umrahmtes Gesicht.
Das Mädchen hielt in der einen Hand eine Sandschaufel und deutete mit der anderen auf die Wölbung von Karins Jeanslatzhose. Anfangs hatte sie ja noch diese modischen Umstandskleider getragen, die ihre zunehmenden Rundungen etwas kaschierten. Dann wurde ihr dass zu blöd und sie stieg auf praktischere Kleidung um. Schliesslich machen das andere Frauen auch so.
Jetzt sass sie im Stadtpark auf einer Bank und genoss die Sonne. Seit sie aus ihrem Beruf ausgestiegen war, kam sie bei schönem Wetter oft hierher, um sich die Zeit etwas mit Lesen zu vertreiben. Das Mädchen war unterdessen näher gekommen und legte den Kopf schief.
"Ist da ein Baby drin?"
Sie blickten sich nun direkt in die Augen. Grosse strahlende Augen, zwei grüne Smaragde.
Karin schaute aus den Augenwinkeln zur weiter entfernten Bank, wo zwei Frauen sich angeregt unterhielten. Bisher keine Gefahr, der Abstand war gross genug.
Kinder sind zum Glück so unkompliziert, dachte Karin und spürte einen Stich im Unterleib. Es ging los. Kleine Schweissperlen traten auf ihre Stirn und sie fröstelte. Ihr Unterleib begann zu glühen und im Inneren bewegte sich neues Leben.
"Darf ich mal anfassen?"
Klar darfst du anfassen. Du musst anfassen. Es war ein Glücksfall, ein Zufallstreffer wie sie es nicht erwartet hatte. Genau im richtigen Moment gesellte sich ein Kind zu ihr, und was für eines. Smaragdgrüne Augen. Perfekt. Karin keuchte und ein gewisser Stolz beschlich sie.
"Warum zitterst du?"
Das Mädchen war jetzt ganz nahe. Sie musste handeln, die Frucht war reif, wollte raus aus ihrem Körper. Rasch packte Karin die Hand des Mädchens und legte sie auf ihren prallen Bauch. Jetzt nur keine Panik. Alles schon hundert Mal gehört, ungeschriebene Worte, weitergereicht von Generation zu Generation. Verbindung herstellen, Ruhig bleiben, der Natur ihren Lauf lassen.
Das Mädchen starrte weiterhin in Karins Augen, willenlos, die rechte Hand verbog langsam die gelbe Sandschaufel.
Die linke Hand lag ruhig auf Karins Bauch. Die Geburt begann. Karin legte das Buch auf den Bauch und verdeckte damit die Hand des Mädchens. Ein zufälliger Beobachter könnte das schwache Leuchten unter den Buchseiten erkennen. Doch im Moment waren Karin und das Mädchen für sich alleine. Perfekt.
Sie konnte sich noch gut daran erinnern, wie sie geschlechtslos in den Körper der kleinen Karin gepresst wurde. Wie Instinkte ihr sofort die Richtung zum Gehirn wiesen und sie kurz mit der alten Karin eins war. Sie spürte Verständnislosigkeit, hörte das Blut in den Ohren rauschen und fühlte ihr Herz, das bis im Hals spürbar klopfte. Und dann sah sie den Frühling, hörte die Vögel und roch frisches Gras. Neu Empfindungen und doch so vertraut. Sie war nun Karin.
Ein wohliger Schauer durchfuhr sie, ausgelöst durch das bevorstehende Ereignis. Das Brennen hatte nachgelassen und sie spürte das Pränum bereits durch die Bauchdecke stossen.
"Jasmin!"
Karin erschrak. Ihr Unterleib bebte, das Pränum war unterwegs. Es gab kein Zurück.
"Lass die Frau in Ruhe und geh spielen!"
Himmel, ausgerechnet jetzt. Mutterinstinkt, ganz klar. Was, wenn sie etwas merkt, wenn sie herüberkommt. Das Pränum bahnte sich weiter seinen Weg, das Leuchten nahm zu. Karin presste das Buch noch stärker auf die Hand des Mädchens, die austretende Flüssigkeit tropfte und versickerte schnell im Kies unter ihren Füssen.
In den Augenwinkeln sah sie, wie sich Jasmins Mutter wieder abgewandt hatte. Ein Seufzer der Erleichterung kam über Karins Lippen, nur um im nächsten Moment als Stöhnen hervorgepresst zu werden. Das Pränum war mit solcher Wucht aus Karin herausgeschnellt, dass der Schmerz sie fast ohnmächtig werden liess. Jasmin war vor Schreck umgefallen und sass nun mit zerrissener Hose im Kies. Die gelbe Schaufel lag zerbrochen neben ihr. Blut klebte am Stil und leuchtete rot auf dem Schnitt in ihrer rechten Hand. Die Geburt war vollzogen.
"Hast du dich verletzt, Jasmin?" Karin bückte sich, immer noch keuchend aber glücklich das Gröbste überstanden zu haben. Sie sahen sich erneut in die Augen und was Karin darin sah, liess sie erschauern.
Das strahlende Smaragdgrün war einer tiefen Schwärze gewichen. Ausdruckslos und ohne Leben blickten die Augen von Jasmin zu ihr auf. Doch dann füllten sie sich wieder mit Leben. Die strahlende Farbe kehrte zurück, das Pränum hatte die Kontrolle übernommen. Jasmin erwachte zu neuem Leben.
"Ja, mir geht es gut, ich habe mich wohl geschnitten."
Jasmin schaute auf ihre rechte Hand, auf der sich bereits eine feine Narbe abzeichnete. Gleich würde nur noch das Blut an der Schaufel das einzige Zeugnis dieser wundersamen Begegnung sein.
"Jasmin, komm jetzt endlich." Jasmin lächelte.
"Ich komme. Mama."
Sie hob einen hellen Kiesel auf, hüpfte zu ihrer Mutter und zeigte stolz ihren Schatz.
Karin liess ihr Buch im Schoss liegen und wartete. Sie wollte den Augenblick noch eine Weile geniessen.
Ob Jasmin später auch mal auf dieser Bank sitzen würde, ein Buch im Schoss und bereit, für ihre Art das Richtige zu tun? Wer weiss, dachte Karin und steckte die kaputte Schaufel ein. Ein kleines Andenken an Jasmin.