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Selig sind, die reinen Herzens sind

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08.11.2004
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Selig sind, die reinen Herzens sind

Kira war nun schon 16. Sie war wie jedes andere Mädchen. Sie hatte ihre Ziele und einen Freund. Marcus hieß er. Er schrieb sich mit einem „C“, nicht mit „K“. Gewiss ungewöhnlich, aber das gefiel Kira. Man konnte den Namen jederzeit englisch aussprechen. Natürlich tat dies niemand. Klingt auch komisch in Deutschland.
Sie mochte ihn wirklich sehr. Nein, sie liebte ihn. Obwohl das schon fast übertrieben ist. Schließlich erführe man wahre Liebe erst, wenn man älter werden würde. Mit dreißig vielleicht. So meinte es zumindest Kiras Mutter. Nachdem ihr Mann sie verlassen hatte, stürzte sie sich in die Religion. So tief, dass sie gar nicht mehr zu erkennen war. Ihre Mutter trat einer Sekte, oder wie sie es nannte einer „freien religiösen Gemeinschaft“ bei. Sie sprach ständig von Jesus und anderen biblischen Figuren. Und von Anstand und Moral. Das prägte Kira natürlich. Zu einem gewissen Maß.
Ihre Mutter schien oft sehr deprimiert. Sie begann aus heiterem Himmel minutenlang zu weinen. Kira ignorierte das. Sie musste einfach. Sie sah sie manchmal an und wusste nicht, ob sie ihre Mutter bewundern oder bemitleiden sollte. Sie war doch in der Vergangenheit so stark gewesen. So unglaublich stark. Tapfer. Sie bewies stets ein steinernes Herz, wenn ein Problem auftrat. Wenn Kiras Vater einmal an die Wohnungstür klopfte, um sie zu besuchen. In Gottes Namen solle er doch sofort verschwinden, schrie ihre Mutter dann.
Und ihren Freund kannte Kiras Mutter gar nicht. Ihre Mutter predigte stets Enthaltsamkeit und das pure Heil der Ehe. Ja, die Ehe. Dabei war sie doch selbst „getrennt lebend“. Quasi geschieden. Außerdem war Marcus doch vier Jahre älter. Volljährig. Unmöglich wäre es, ihn vorzustellen. Dabei war er doch so nett. Zuvorkommend. Zumindest schien es so zu sein.
An einem wunderschönen Sonntag bat Kira, mit „Freunden“ an einen See gehen zu dürfen. Picknicken. Die Mutter willigte ein. „Wen allein liebst du?“, fragte sie. „Dich natürlich.“, entgegnete Kira. „Und wen noch?“ –„Gott, Jesus.“ Kaum ein Klischee, das ihre Mutter nicht erfüllte. Sie musste sie einfach behüten. Kira musste eine ebenso starke Frau werden, wie sie es war. So musste stets klug sein, um auf keinen Mann, keinen Wolf, hereinzufallen. Liebe war etwas so Unantastbares, dass bis zur Ehe aufbewahrt werden musste. Das sagte ihr Pastor auch immer wieder. Enthaltsamkeit musste sie ihrer Tochter gar nicht vermitteln. Sexualität war überhaupt kein Thema. Es wurde nicht angesprochen. Mit keiner Silbe. Kira musste davor bewahrt werden. Unmöglich? O nein. Um ihre Tochter vor der Schamlosigkeit der Zügellosigkeit zu schützen, würde sie alles tun. Sehr wohl alles.
Kira wusste das. Und obwohl sie die Haltung ihrer Mutter rein sachlich nicht recht verstand, war ihre Liebe zu ihrer Mutter doch so groß, dass sie ihr niemals hätte auf diese Weise wehtun können. Würde sie Marcus mit nach Hause bringen, die Welt ihrer Mutter wäre zusammengebrochen. Kira war doch ihr braves unschuldiges Mädchen.
Am See traf sie sich natürlich mit ihrem Freund. Es brachte allerlei Waldfrüchte mit. Sie fütterten sich gegenseitig. Marcus begann sie zu küssen. Hielt sie fest. Schlief mit ihr. Kira versuchte sich zu wehren. Dachte an die Ehe. An die Liebe, die sie noch nicht empfinden durfte. Schließlich ließ sie ihn gewähren.
In den nächsten Wochen fühlte sich Kira richtig wohl. Erwachsen. Doch sie ahnte nicht, dass sie schwanger war. Dass ihre Regel ausblieb, kümmerte sie nicht weiter. Sie wusste nur, dass sie sich manchmal verspäten konnte. Besser aufgeklärt war sie nicht. Woher auch? Von ihrer Mutter? Kira sah nie fern und ihre Schule lehrte nur Prävention.
Als sie begann, sie oftmals zu übergeben und ihr Körper sich leicht veränderte, begann sie zwar ihre Situation zu begreifen, doch tat sie alles, um diese zu verdrängen. Sie musste es. Ebenso auch ihre Mutter. Sie sprach ihre Tochter anfangs jedoch nicht darauf an. Sie weinte nur. Still. An jedem Abend, wenn Kira schon schlief.
Als Kira allerdings an einem Tag im Bett ihres Zimmers lag und leise vor sich hin wimmerte, musste ihre Mutter das Gespräch beginnen.

„Was ist mit dir?“

„Ich fühle mich krank. Schrecklich. Als ob ich sterben müsste.“

„Ach ja? Vielleicht ist es eine Grippe. Oder eine Magenverstimmung. Hast du vor kurzem etwas Schlechtes zu dir genommen?“

„Nein, nichts.“

„Sicher nicht? Dann rufe ich jetzt einen Arzt, okay? Wir müssen dich ja nicht in ein Taxi quälen, oder?“

„Wenn du es meinst, Mutter.“

„Es wird das Beste sein. Das Beste. Wir wollen doch beide, dass es dir bald wieder besser geht, nicht wahr? Mit Gottes Hilfe, geht es dir schon in ein paar Tagen besser. Oder geht es dir sehr schlimm?“

Kiras Mutter ging und rief einen Arzt an.
Natürlich war dem Arzt klar, dass Kira ein Kind erwarten würde, doch wollte er es zuerst der Mutter unter vier Augen erzählen. Sie gingen auf den Hausflur. Kiras Mutter dankte für die rasche Diagnose. Sie sagte, sie wolle ihrem Kind selbst die von der Nachricht erzählen und verabschiedete den Arzt.
Obwohl sie um das Schicksal ihrer Tochter bereits wusste, trat erst jetzt die Enttäuschung Kiras Tat in der Mutter hervor. Sie ging zurück in Kiras Zimmer und ließ sich die unheilbringende Diagnose nicht anmerken. Sie wollte Kira dazu bringen, ihr Versagen zu gestehen.

„Der Arzt meinte, es wäre nur eine leichte Virusinfektion.“

„Ja?“

„Ja.“

„Aber ich fühle mich so, als müsste ich sterben.“

„Du wirst nicht sterben, mein Kind. Du stehst unter Gottes und meiner Obhut.“

„Ich fühle es aber so sehr. Es geht mir so schlecht Mutter!“

„Vielleicht belastest dich noch etwas anderes...“

„O Mutter, das Leben ist nicht gut zu mir. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich empfinde so anders. Ich sehe die Dinge nicht mehr recht. Das Leben verlässt mich und ich habe keine Hoffnung mehr auf Besserung. Was ist, wenn der Virus mich töten wird? Was hat der Arzt denn gesagt?“

„Der Virus wird dich nicht töten.“

„O doch. Gott, ich fühle es doch! Er wird es! Ich sterbe!“
„Du stirbst nicht!“

„Doch. Woher kannst du das denn wissen?“

„Ich weiß es!“

„Woher denn? Ich sterbe. Ich sterbe. Ich werde bald tot sein! Tot, Mutter, tot!“

„Nein! Du stirbst nicht! Du bekommst ein Kind!“

„Ein Kind...ich habe es geahnt. Ich konnte es dir...“

„O warum hast du mir das nur angetan? Warum? War ich nicht gut genug zu dir? Warum hast du das nur gemacht? Du bringst Schande über mich! O Jesus, was ist dir nur eingefallen!? Was? Was nur? Du hast mich so enttäuscht!“

„Ich wollte nicht...“

„Du hast aber. Was bist du? Eine kleine Hure? Bist du das? Bist du das etwa?“

„Nein. Mutter es tut mir so Leid.“

„O Gott! O großer Gott! Warum denn nur!?“

Kira weinte fürchterlich. Sie saß in ihrem Bett. Strich sich die Tränen aus dem Gesicht. Ihre Mutter weinte ebenfalls. Es war ein regelrechter Weinkrampf. Sie fasste sich aber bald wieder.

„Hör Kind. Ich weiß nicht, was ich hätte anders machen müssen. Das weiß ich wirklich nicht. Himmel, ich weiß es nicht!“

„Du hast nichts Falsches...“

„Du hast die Heiligkeit der Ehe angetastet. Du hast sie befleckt. Die Schande werde ich dafür nicht auf mich nehmen. Niemals. Aber noch ist ja nichts geschehen.“

„Was?“

Kiras Mutter verließ ganz ruhig und scheinbar gefasst den Raum. Kira rief ihr nach, doch sie bekam keine Antwort.
Die Stunden vergingen und Kira wurde müde. Sie deckte sich gut zu und schaute zur Tür, die einen Spalt offen stand und einen Blick in den erleuchteten Flur ließ.
Irgendwann, Kira war schon fast eingeschlafen, kam ihre Mutter leise ins Zimmer. Kira war zu müde und zu schwach, um noch etwas zu sagen. Sie nahm ihre Mutter auch schon gar nicht mehr richtig wahr.
„Psst. Schlaf weiter.“, sagte ihre Mutter leise. Dann nahm sie das Kopfkissen, das zu Kiras Beinen lag und drückte es auf Kiras Gesicht. Kira ergriff die Arme ihrer Mutter.

„Wer jedoch das Kreuz, das der Allerbarmer ihm um der Sünde willen auferlegt, freventlich von sich geworfen, der wird des ewigen Todes sterben!“

 

Hi Anubis,

die Handlung wirkt in heutigen zeiten fast antiquiert, aber dennoch gibt es so viele ungewollte Teenagerschwangerschaften, dass sie es nicht ist. Sicherlich ist dein durch Wedekind inspiriertes Szenario in sich übertrieben, aber es gibt auch genügend Fanatiker aller Religionen, dass es nicht unmöglich erscheint. Dass die Mutter jedoch eine Sünde mit einer anderen zu waschen versucht erscheint mir nicht ganz zwingend.
Die kurzen Sätze passen zur Naivität der Protagonisten.

Sicherlich kein großer Wurf, dazu ist das Vorbild zu stark, aber eine gute kleine Geschichte.

Details:

Schließlich erfährt man wahre Liebe erst, wenn man älter werden würde.
Tempusfehler. Wenn hinten ein Konjunktiv muss der auch vorne stehen. Schließlich erführe man wahre Liebe erst, wenn man älter würde.
An einem wunderschönen Sonntag bat Kira mit „Freunden“ an einen See zu gehen.
an einen See gehen zu dürfen hielte ich für treffender.

Lieben Gruß, sim

 

Nun ja, meine Geschichte spielt ja schließlich nicht zwingend in der heutigen Zeit.
Ich fand Wedekinds "Frühlings Erwachen" sehr schön, doch zu stark an die damalige Zeit gebunden. Deshalb wollte ich eine Version einer ähnlichen Situatuin, die zwar auf der einen Seite modern, doch auf der anderen Seite nicht zu stark an unsere heutige Zeit gebunden ist.
Und glaub mir, nicht nur religiöse Fanatiker verhandeln sich so...

 

Das ist das besondere an meinem Schreibstil. Es klingt wirklich immer so. Das ist reine, pure Absicht.
Und ich bin natürlich wie wir alle ein Prediger. Wir predigen nur Unterschiedliches.
Vielleicht schreibe ich einmal eine zweite Version, in der ich deine Vorschläge verwirkliche. Diese hier ist wie schon gesagt (eher geschrieben) eine Geschichte á la Wedekind. Zumindest ist sie ihm nachempfunden.

 

Hat ja wirklich etwas von "Fruehlings Erwachen". Ein wenig antiquiert schreibst du schon, aber nicht so, dass es mich stoeren wuerde. Deshalb nenne ich den Schreibstil mal eher "klassisch". Auch diese Geschichte haette laenger sein muessen, damit die fundamentalistische Christlichkeit der Mutter noch besser zur Geltung kommt.
Trotzdem sehr gut.

 

Hallo!
Mir gefällt das Zusammenspiel von Schreibstil und Thema. Ich finde grade so, kann man das äußerst religiöse, nicht moderne Verhalten der Mutter, besser verfolgen. Es passt halt einfach.
Es hört sich seltsam an, âber ich bin beim Lesen jedes Mal über den Namen "Kira" gestolpert. Vielleicht ist es nur eine persönliche Empfindung, aber ich finde eine so modernen Name passt einfach nicht in deinen Schreibstil. Ich weiß, etwas merkwürdig ... o.O"
MFG
Yulivee

 

Oh Yulivee, ich verstehe dich gut. Der Name kommt auch nicht von mir. Deutsche Vornamen lasse ich immer von meinem Umfeld entscheiden, weil für mich jeder Name merkwürdig klingt: entweder ist er zu altbacken oder zu modern.

Vielleicht ersetze ich den Namen. Was würdest du vorschlagen?

 

Einen Namen vorschlagen?
Nunja, deine Geschichte hört sich vom Stil und von den Reaktionen ja eher ein wenig älter an, was eben dabei auch viel besser passt.
Ich denke ein Name wie Susanne, Sabine usw würde eher passen.
Du kannst deinen Prot natürlich auch Kira nennen ^^
Vielleicht bin ich ja die einzige, die darüber stolpert.
MFG
Yulivee

 

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