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Musikalische Höhepunkte

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16.11.2006
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Musikalische Höhepunkte

Professor Baderling stand mit dem Rücken zur Tafel. Die grüne Fläche hinter ihm war dicht an dicht mit weißen Strichen, Tupfen und Kringeln bemalt, in denen nur ein Eingeweihter die letzten Takte von Prokofjews Sinfonie Nr.6 in Es-Moll erkennen konnte.
Mit weit ausholenden Bewegungen versuchte der junge Professor, den fünf traurigen Gestalten seines Kurses die Schönheit und Tragik dieser Sinfonie deutlich zu machen. „Bedenken Sie, Prokofjew hat diese Sinfonie kurz nach dem zweiten Weltkrieg geschrieben. Uraufführung 1947! Da konnte er doch nicht so etwas Seichtes, Haydn-artiges abliefern. Sein Vaterland hatte Millionen Söhne zu Grabe tragen müssen!“
Baderling verlor sich in der Erklärung wie er sich in seiner Musik verlieren konnte. Wenn er seinem Saxophon voll Zärtlichkeit die sanften Töne des zweiten Jazzwalzers von Schostakowitsch entlockte, verlor die Welt um ihn an Wichtigkeit.

Privat war Baderling der ewige und meist erfolglose Junggeselle. Genau so durcheinander wie die Notenschrift an der Tafel war auch die dunkle Lockenpracht auf seinem Kopf, die Hemden schlotterten meist ungebügelt um den hageren Körper. Die einzige Begeisterung seines Lebens galt der Musik in all ihren Ausprägungen. Selbst modernen Popklängen konnte er etwas Schönes abgewinnen und die schlimmste Kritik, derer er fähig war, lautete „absolut unmusikalisch!“

Isa kannte den Professor durch ihre Eltern und bewunderte ihn bis zur Selbstaufgabe, seit sie ihn hatte spielen hören. Ihre Mutter hatte in dem jungen Professor den Sohn gefunden, den sie nie gehabt hatte und lud ihn immer mal wieder zum Essen ein. „Damit Sie mir nicht völlig vom Fleisch fallen“, pflegte die rundliche Dame freudig zu äußern, wenn sie ihr mageres Pendant an den reich gedeckten Tisch setzte.
Isas Vater war selten zu Hause, die eigene Betonfabrik forderte seine ganze Aufmerksamkeit und ermöglichte Frau und Tochter ein gut situiertes, sorgenfreies Leben. „Den janzen Estrich in diesem Haus hat meeine Firma jemacht“, brüstete er sich bei den diversen Abendgesellschaften mit seinem Erfolg.

Isa selbst spielte Klavier, mehr schlecht als recht, und sang, wenn sie im Auto zur nächsten Vorlesung fuhr. Natürlich Musik.
Die kleinen Fliegenschisse auf dem Notenpapier waren, seit sie Baderling kannte, auch ihr Ein und Alles. Nur musste sie arbeiten, wo ihm die Interpretation der Melodie in den Schoß zu fallen schien. Also arbeitete Isa. Sie arbeitete an Ballettmusiken, an Sinfonien, an musikalischen Begleitungen für Theaterstücke, die allesamt nie aufgeführt wurden. Sie schrieb Scherzi, Rondos, Allemanden, beachtete jede Regel, die er so oft im Komponistenseminar predigte. Einmal jährlich, im September, fand das große Konzert der Musikakademie statt, doch weder sie selbst noch ihre Kompositionen waren jemals im Programm. Also ertränkte sie ebenso einmal jährlich ihren Kummer in Beaujolais primeur und fing wieder von vorne an.

Bis Baderling sie bemerkte.
Es war dieser wunderschöne, sonnig warme Mainachmittag und wieder einmal stand die Theorie der Komposition auf dem Vorlesungsplan. Die Studentin hatte Berge von Notenpapier eingepackt und saß gerade mit Feuereifer über einer neuen Idee, als der Professor sie zum ersten Mal in fünf Jahren direkt ansah. „Isa?“ fragte er ungläubig. Sie lief rot an, nickte nur, und wandte sich wieder ihrer Komposition zu. Ein Adagio, wie gemacht für einen Pas de Deux. Ihre Stimme schien zwischen den Linien auf dem Blatt vor ihr gefangen, und drückte sich in dem Auf und Ab aus lauter herzförmigen Notenköpfchen aus. „Lassen Sie mich mal sehen“, sagte Baderling und stellte sich so dicht hinter sie, dass sie seinen wunderbaren Duft wahrnehmen konnte. Versuchsweise lehnte sie den Kopf zurück und der völlig in ihren Aufzeichnungen versunkene Professor wich keinen Schritt. Er fuhr mit dem Finger die Melodie nach und Isa glaubte, die sensiblen Musikerhände auf ihrem Körper zu spüren. Sie seufzte, doch er bemerkte es nicht. Höhen und Tiefen, Triller, kleine Verzierungen, kein melodiöses Detail entging seinen scharfen Augen, doch seine Umgebung nahm er nicht wahr. Jetzt begann er zu summen, fuhr die Bewegung der Töne mit der Hand in der Luft nach.

Isa wurde immer aufgeregter. Wie schön es sein müsste, jetzt gerade die Luft unter seinen Händen zu sein. Oder das Saxophon, auf denen er den Studenten ab und zu eine interessante Passage vorspielte. Wie liebevoll er mit dem Instrument umging. Was für wunderschöne, warme Töne, die sich wie dunkelblauer Samt im Raum ausdehnten.
Baderling verließ den Raum und nahm Isas Wünsche samt Notenblatt mit sich. Nur Minuten später hörte sie die Klänge, als er vom Blatt spielte, was sie darauf geschrieben hatte. Sie ließ sich von dem Samt umfangen und merkte nicht, dass ihre Linke den Rocksaum immer höher schob, bis sie ihre eigenen Höhen und Tiefen spürte und die Triller mit einem Seufzen garnierte, bis der Höhepunkt Saxophon und Studentin aufjubeln ließ.

Baderling kam wieder in den Hörsaal. „Was Sie da geschrieben haben ist ganz wunderbar, liebe Isa. Dürfte ich es vielleicht für das nächste Konzert verwenden? Und würden Sie mir die Freude machen, mich auf dem Klavier zu begleiten?“ Isa kam aus dem Staunen nicht mehr heraus und nickte wiederum. „Ach, wissen Sie, warum gehen wir bei dem schönen Wetter nicht einfach hinaus und essen ein Eis? Ich lade Sie ein.“
Fröhlich wollte er ihren Arm nehmen und sie mit sich fortziehen, doch Isa war wie gelähmt. Sie konnte keinen Fuß vor den anderen setzen und wunderte sich noch entfernt, warum er so an ihrem Arm zu zerren begann, als sie wieder wach wurde. „Isa? Isa! Wach auf! Soll dein Stift Spinnweben ansetzen?“
Betreten merkte die Studentin, dass sie nicht nur geschlafen sondern recht lebhaft geträumt hatte. Zeige- und Mittelfinger der linken Hand glänzten verräterisch und als sie sie verstohlen an die Nase führte verströmten sie den charakteristischen, ihren Tiefen eigenen Geruch. Mit hochrotem Kopf schlich sie sich aus der Vorlesung.

Am nächsten Tag warf Isa ihre Notenblätter in den Papiercontainer und schrieb sich für ein Studium der Betriebswirtschaftslehre ein.

Benutzt:

* Estrich
* Es-Moll
* Spinnweben
* Zärtlichkeit
* Beaujolais

gepostet von bernadette

 

Aus der Wörterbörse für zwei Wochen verschoben nach Alltag. Bitte am 13.02.08 zurück. :)

 

hallo tamlin, du hast den doppelten höhepunkt schön und spannungsgeladen heraufbeschworen. hat mir gut gefallen.

allerdings fehlt mir die musikalische vorbildung, um entscheiden zu können, ob ein Adagio zum pas de deux passt. aber wie du es schreibst, kommt es beim leser überzeugend an....müsste also stimmen.

ist isa linkshänderin? oder warum betonst du die LINKE hand? hielt sie auch im traum in der rechten den bleistift?


wollte sie nicht "mit hochrotem kopf", statt "blutübergossen" aus der vorlesung gehen?

herzliche grüße
ernst

 

Hej Ernst,
vielen Dank fürs Lesen und die positive Kritik.

ist isa linkshänderin? oder warum betonst du die LINKE hand? hielt sie auch im traum in der rechten den bleistift?

Isa schreibt kurz vorher noch an ihrer Komposition und hat den Stift entsprechend in der rechten Hand. Nachdem ihr Traummann hinter ihr steht und sich sogar davon nicht irritieren lässt, dass sie sich an ihn lehnt. Daher vergisst sie schlicht, dass sie den Stift noch immer in der Rechten hält und nimmt stattdessen die Linke zur ... Abhilfe ;)

wollte sie nicht "mit hochrotem kopf", statt "blutübergossen" aus der vorlesung gehen?

Hmm ... ist vielleicht ein wenig zu bildlich gesprochen, ja. Ich hab's geändert.

Liebe Grüße
Tamlin

 

Hallo Tamlin,

ich habe ein richtiges Verständnisproblem bei deiner Geschichte: Wo fängt Isa an zu schlafen? Ab wann ist alles nur ein Traum? Damit stellt sich alles in Frage. Ich möchte dir gerne mehr zu der Geschichte anmerken, kann es aber erst, wenn ich weiß, wie du den Handlungsablauf für dich gedacht hast.

Liebe Grüße
bernadette (mit Spitznamen Isa :D)

 

Hallo Tamlin,
Du hast die Wörter passend in die Geschichte eingebaut. Auch dein Schreibstil gefällt mir gut. Fehler sind mir beim ersten Lesen keine aufgefallen.
Allerdings habe ich auch nicht so ganz verstanden, ab wann sie zu träumen anfängt.
Unlogisch war es für mich auch, dass der Professor auf der einen Seite oft bei der Familie zum Essen eingeladen ist und auf der anderen Seite schreibst du, dass er sie nach 5 Monaten zum ersten Mal bewusst ansah.
Oder fängt vielleicht da schon ihr Traum an?

Bis auf diese zwei unklaren Punkte, hat mir die Geschichte aber gut gefallen.

LG
Blanca

 

Hallo Tamlin!

Deine Geschichte gefällt mir gut, besonders diese Stelle:

Isa wurde immer aufgeregter. Wie schön es sein müsste, jetzt gerade die Luft unter seinen Händen zu sein. Oder das Saxophon, auf denen er den Studenten ab und zu eine interessante Passage vorspielte. Wie liebevoll er mit dem Instrument umging.

Isa ist in ihrem Traum ein Musikinstrument, auf dem der begehrte Mann spielt. Das muss ein Archetypus, also eine allen Menschen angeborene Vorstellung sein, weil sie immer wieder auftaucht, zum Beispiel in Uschi Obermaiers Biografie "Das wilde Leben", als sie eine Affäre mit Jimi Hendrix anbahnt:

Es war eine ganz besondere Anziehungskraft, und dass ich Jimi Hendrix nicht verfehlen würde, hatte ich schon während des Konzerts gewusst. Lauter, hatte ich mir gewünscht, wenn er zu sanft wurde; mehr, wenn er die Gitarre so nah vor den Lautsprechern baumeln ließ, dass die Rückkopplungen durch den Saal pfiffen und kreischten. Jimi Hendrix hatte seinem Publikum nichts geschenkt und mir alles gegeben. Er hatte seine Hits in Stücke gehauen und es auf der Bühne seiner Gitarre besorgt, schnell und brutal, und das Instrument hatte gewinselt und gewimmert und geschrien, und ich hatte mitgeschrien und mitgewimmert, und als es vorüber war, brannte die Gitarre, und in mir hallte es nach und hörte nicht auf. Und die Jungs, die mich kannten, merkten, dass es keinen Zweck hatte, mich anzusprechen.
...
Er warf sein Hemd in die Ecke und zeigte mir seine weiche, dunkelbraune Haut. Er öffnete mein Oberteil, er improvisierte mit den Fingerspitzen zum Rhythmus meines Pulsschlages, dann steigerte er behutsam das Tempo, und es war ganz leicht, ihm dabei zu folgen. Er war sanfter mit mir als mit der Gitarre, er war genauso viruos, und er brauchte kein Benzin, um mich in Brand zu stecken

Musizieren ist sublimierte Erotik!

Grüße gerthans

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Ihr Lieben,
vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren!

@bernadette und Blanca:

Mit diesem Moment hab ich auch noch so meine Schwierigkeiten. Eigentlich beginnt der Traum, als er sie zum ersten Mal bewusst in seiner Vorlesung wahrnimmt. Vielleicht habt Ihr eine Idee, wie ich das deutlicher machen kann?

Es sollte so rüberkommen, als kenne der Professor Isa schon sehr lange, habe aber noch nie mitbekommen, dass sie in all seinen Musikvorlesungen saß. Zerstreuter Professor eben.
Und just an diesem Maitag kriegt er (in ihrem Traum eigentlich schon) endlich mit, dass sie dort sitzt ...

Die Spitznamengleicheit fand ich klasse ;)

@ gerthans:
Supi, lieben Dank! Auch für das Zitat aus der Biografie. Das war es, was ich ausdrücken wollte.
Ich denke mal, mensch symbolisiert sich gern als Musikinstrument. Gerade wenn es um geliebte Musiker geht, an die sonst kein Rankommen ist. Ein Instrument wird halt mit der Hand gespielt, und viele Musiker gehen sehr liebevoll mit dem Instrument um.

Ganz liebe Grüße
Tamlin

 

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