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Musikalische Höhepunkte
Professor Baderling stand mit dem Rücken zur Tafel. Die grüne Fläche hinter ihm war dicht an dicht mit weißen Strichen, Tupfen und Kringeln bemalt, in denen nur ein Eingeweihter die letzten Takte von Prokofjews Sinfonie Nr.6 in Es-Moll erkennen konnte.
Mit weit ausholenden Bewegungen versuchte der junge Professor, den fünf traurigen Gestalten seines Kurses die Schönheit und Tragik dieser Sinfonie deutlich zu machen. „Bedenken Sie, Prokofjew hat diese Sinfonie kurz nach dem zweiten Weltkrieg geschrieben. Uraufführung 1947! Da konnte er doch nicht so etwas Seichtes, Haydn-artiges abliefern. Sein Vaterland hatte Millionen Söhne zu Grabe tragen müssen!“
Baderling verlor sich in der Erklärung wie er sich in seiner Musik verlieren konnte. Wenn er seinem Saxophon voll Zärtlichkeit die sanften Töne des zweiten Jazzwalzers von Schostakowitsch entlockte, verlor die Welt um ihn an Wichtigkeit.
Privat war Baderling der ewige und meist erfolglose Junggeselle. Genau so durcheinander wie die Notenschrift an der Tafel war auch die dunkle Lockenpracht auf seinem Kopf, die Hemden schlotterten meist ungebügelt um den hageren Körper. Die einzige Begeisterung seines Lebens galt der Musik in all ihren Ausprägungen. Selbst modernen Popklängen konnte er etwas Schönes abgewinnen und die schlimmste Kritik, derer er fähig war, lautete „absolut unmusikalisch!“
Isa kannte den Professor durch ihre Eltern und bewunderte ihn bis zur Selbstaufgabe, seit sie ihn hatte spielen hören. Ihre Mutter hatte in dem jungen Professor den Sohn gefunden, den sie nie gehabt hatte und lud ihn immer mal wieder zum Essen ein. „Damit Sie mir nicht völlig vom Fleisch fallen“, pflegte die rundliche Dame freudig zu äußern, wenn sie ihr mageres Pendant an den reich gedeckten Tisch setzte.
Isas Vater war selten zu Hause, die eigene Betonfabrik forderte seine ganze Aufmerksamkeit und ermöglichte Frau und Tochter ein gut situiertes, sorgenfreies Leben. „Den janzen Estrich in diesem Haus hat meeine Firma jemacht“, brüstete er sich bei den diversen Abendgesellschaften mit seinem Erfolg.
Isa selbst spielte Klavier, mehr schlecht als recht, und sang, wenn sie im Auto zur nächsten Vorlesung fuhr. Natürlich Musik.
Die kleinen Fliegenschisse auf dem Notenpapier waren, seit sie Baderling kannte, auch ihr Ein und Alles. Nur musste sie arbeiten, wo ihm die Interpretation der Melodie in den Schoß zu fallen schien. Also arbeitete Isa. Sie arbeitete an Ballettmusiken, an Sinfonien, an musikalischen Begleitungen für Theaterstücke, die allesamt nie aufgeführt wurden. Sie schrieb Scherzi, Rondos, Allemanden, beachtete jede Regel, die er so oft im Komponistenseminar predigte. Einmal jährlich, im September, fand das große Konzert der Musikakademie statt, doch weder sie selbst noch ihre Kompositionen waren jemals im Programm. Also ertränkte sie ebenso einmal jährlich ihren Kummer in Beaujolais primeur und fing wieder von vorne an.
Bis Baderling sie bemerkte.
Es war dieser wunderschöne, sonnig warme Mainachmittag und wieder einmal stand die Theorie der Komposition auf dem Vorlesungsplan. Die Studentin hatte Berge von Notenpapier eingepackt und saß gerade mit Feuereifer über einer neuen Idee, als der Professor sie zum ersten Mal in fünf Jahren direkt ansah. „Isa?“ fragte er ungläubig. Sie lief rot an, nickte nur, und wandte sich wieder ihrer Komposition zu. Ein Adagio, wie gemacht für einen Pas de Deux. Ihre Stimme schien zwischen den Linien auf dem Blatt vor ihr gefangen, und drückte sich in dem Auf und Ab aus lauter herzförmigen Notenköpfchen aus. „Lassen Sie mich mal sehen“, sagte Baderling und stellte sich so dicht hinter sie, dass sie seinen wunderbaren Duft wahrnehmen konnte. Versuchsweise lehnte sie den Kopf zurück und der völlig in ihren Aufzeichnungen versunkene Professor wich keinen Schritt. Er fuhr mit dem Finger die Melodie nach und Isa glaubte, die sensiblen Musikerhände auf ihrem Körper zu spüren. Sie seufzte, doch er bemerkte es nicht. Höhen und Tiefen, Triller, kleine Verzierungen, kein melodiöses Detail entging seinen scharfen Augen, doch seine Umgebung nahm er nicht wahr. Jetzt begann er zu summen, fuhr die Bewegung der Töne mit der Hand in der Luft nach.
Isa wurde immer aufgeregter. Wie schön es sein müsste, jetzt gerade die Luft unter seinen Händen zu sein. Oder das Saxophon, auf denen er den Studenten ab und zu eine interessante Passage vorspielte. Wie liebevoll er mit dem Instrument umging. Was für wunderschöne, warme Töne, die sich wie dunkelblauer Samt im Raum ausdehnten.
Baderling verließ den Raum und nahm Isas Wünsche samt Notenblatt mit sich. Nur Minuten später hörte sie die Klänge, als er vom Blatt spielte, was sie darauf geschrieben hatte. Sie ließ sich von dem Samt umfangen und merkte nicht, dass ihre Linke den Rocksaum immer höher schob, bis sie ihre eigenen Höhen und Tiefen spürte und die Triller mit einem Seufzen garnierte, bis der Höhepunkt Saxophon und Studentin aufjubeln ließ.
Baderling kam wieder in den Hörsaal. „Was Sie da geschrieben haben ist ganz wunderbar, liebe Isa. Dürfte ich es vielleicht für das nächste Konzert verwenden? Und würden Sie mir die Freude machen, mich auf dem Klavier zu begleiten?“ Isa kam aus dem Staunen nicht mehr heraus und nickte wiederum. „Ach, wissen Sie, warum gehen wir bei dem schönen Wetter nicht einfach hinaus und essen ein Eis? Ich lade Sie ein.“
Fröhlich wollte er ihren Arm nehmen und sie mit sich fortziehen, doch Isa war wie gelähmt. Sie konnte keinen Fuß vor den anderen setzen und wunderte sich noch entfernt, warum er so an ihrem Arm zu zerren begann, als sie wieder wach wurde. „Isa? Isa! Wach auf! Soll dein Stift Spinnweben ansetzen?“
Betreten merkte die Studentin, dass sie nicht nur geschlafen sondern recht lebhaft geträumt hatte. Zeige- und Mittelfinger der linken Hand glänzten verräterisch und als sie sie verstohlen an die Nase führte verströmten sie den charakteristischen, ihren Tiefen eigenen Geruch. Mit hochrotem Kopf schlich sie sich aus der Vorlesung.
Am nächsten Tag warf Isa ihre Notenblätter in den Papiercontainer und schrieb sich für ein Studium der Betriebswirtschaftslehre ein.
Benutzt:
* Estrich
* Es-Moll
* Spinnweben
* Zärtlichkeit
* Beaujolais
gepostet von bernadette