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Ausgelutscht
In der Küche, auf einem Küchenstuhl: Ich saß rum und langweilte so vor mich hin. Ich ballte die linke Hand zur Faust, hob die Faust in Augenhöhe und reckte meinen Daumen nach oben. Ich sah meinen Daumen an, betrachtete ihn lange. Die Idee kam praktisch von selbst: mein Daumen! Ich biss ein Loch hinein.
Die Kuppe fehlte jetzt, ich hatte sie im Mund. Ich spuckte sie aus, wie man Kautabak ausspuckt.
Fasziniert sah ich zu, wie sich das Loch in meinem Daumen augenblicklich mit Blut füllte. Es begann an meiner Hand herabzurinnen, meinen Unterarm entlang, bis zum Ellbogen. Von dort tropfte es auf den Fußboden. Blitzschnell hatte sich dort eine kleine Lache gebildet, und sie wurde größer.
Ja, dachte ich, Wunden an den Händen bluten immer stark.
Ich verrückte den Stuhl, um die Lache besser ansehen zu können.
Was für eine Verschwendung, überlegte ich mir.
Daher steckte ich mir den Daumen in den Mund. Das Blut sammelte sich jetzt dort, in meinem Mund, statt auf dem Fußboden. Das war besser so. Allerdings, mein Mund war schnell gefüllt. Mir blieb nichts anderes übrig: Ich schluckte. Und dann wieder. Und immer so weiter. Ich schluckte, und ein Mundvoll Blut war für immer verschwunden.
Irgendwann fing ich an zu saugen. Das war ganz natürlich, schließlich hatte ich meinen Daumen im Mund. Am Anfang kam nur noch mehr Blut, süßlich. Aber dann saugte ich auch die ersten klebrigen Stückchen aus meinem Daumen. Bindegewebe. Zumindest glaube ich, dass es das war. Was ich aus mir saugte, war nicht mehr nur flüssig, es fühlte sich sämig an, wie eine dicke Suppe, und ich fühlte auch Festes, Faseriges, Fleischiges … es war erregend.
Was ist mit meinen Knochen? fragte ich mich.
Gelegentlich schluckte ich einen harten, scharfkantigen Splitter, aber ansonsten schien mein Knochengerüst unbeeindruckt von meinem Saugen. Es würde sich nicht so einfach durch meinen Daumen herausschlürfen lassen, oh nein! Dafür waren meine Knochen viel zu solide. Stattdessen kamen meine Gedärme. Sie waren glitschig und glibberig und schmeckten nicht gut.
Mein Herz. Schönes glattes Fleisch, reines Muskelgewebe. Wunderbar fest. Lächerlich klein.
Mein Gehirn. Es ist von einer so harten Pelle umschlossen, ich muss es als Ganzes hinunterschlucken, es bleibt mir kurz in der Kehle stecken und schnürt mir die Luft ab.
Meine Augen. Sie flutschen mir nach hinten in den Schädel hinein und alles wird schwarz. Ich sauge stärker. Wenig später in meinem Mund, wie Tennisbälle, wabbeliger, aber erstaunlich widerstandsfähig, als ich versuche zu kauen.
Mehr Blut, mehr flüssiges Fleisch. Der Bodensatz in einem fast leeren Gefäß, ein schleimiger Matsch.
Dann nichts mehr. Ich höre auch nichts. Dabei hatte ich dieses schlürfende Geräusch erwartet, das man mit einem Strohhalm auf dem Boden eines leeren Milchshakes macht. Aber aus meiner leeren Hauthülle kommt nur das leise Fiepen einer Luftmatratze, aus der die letzte Luft gepresst wird. Ich sauge angestrengt weiter.
In mir ist nichts Saftiges mehr. Meine Haut klebt an meinen Knochen. Ich spüre, wie Haut und Knochen, alles, was von mir übrig ist, langsam zu Boden gleiten. Ich komme ganz unten an. Ich liege schlaff auf der Seite, vollkommen ausgelutscht. Ich empfinde nichts mehr. Ich bin ein gegessenes Thema mehr in der Welt, sollte man meinen. Doch das Lutschen geht weiter.