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Gedankenstrich
Schon wieder einer. Der dritte in diesem Monat. Und wir werden wieder nichts finden. Warum holt man mich deswegen überhaupt noch aus dem Bett?
„Kommissar Sittsam, dem Kollegen geht es gar nicht gut.“
„Der packt das schon. Hier, geben Sie ihm einen Schluck davon, aber die Flasche will ich wiederhaben.“
„Aber …“
„Nun machen Sie schon.“
Keine Zeichen von äußerer Gewalt. Schwer zu glauben, wenn man den armen Kerl so ansieht, wie er daliegt in seinem –
„Blut gibt es keins. Die Spurensicherung hat aber große Mengen Liquor festgestellt. Und diese Zähne überall –“
„Wie weit ist Professor Hilti mit dem Hirnscan?“
„Er ist noch dabei. Sagt, das Gehirn wäre schon zu kalt gewesen. Hat ziemlich schlechte Laune.“
Der soll sich mal Mühe geben. Sonst haben wir ja nichts. Keine Zeugen … verdammt, meine Augen brennen wie verrückt. Vielleicht brauche ich doch eine stärkere Brille. Mia sagt immer: Wer zu wenig schläft, altert schneller. Früher dachte ich, das sei umgekehrt. Aber früher hab ich sowieso vieles gedacht. Meine Güte, ich muß aufpassen, sonst werde ich noch so ein zynischer alter Mann wie –
„Professor Hilti sagt, Sie sollen mal zu ihm rüberkommen.“
„Wo ist meine Flasche?“
„Hier. Der Kollege hat sie aber fast leergetrunken. Es geht ihm wirklich gar nicht –“
„Nun geben Sie schon her.“
Na, dann wollen wir mal sehen, was er gefunden hat. Pfui Teufel, manchmal glaube ich, er genießt das fast … man sollte meinen, daß die moderne Technologie einem solche Anblicke ersparen würde, aber nein, das sieht aus, als sei er –
„Zehn Zentimeter tief eingestiegen für nichts und wieder nichts. Wenn man mich eine halbe Stunde früher geweckt hätte –“
Das Papier her, Hilti, und verschon mich mit deiner alten Leier.
„Die chronologische Reihenfolge läßt sich in diesem Stadium natürlich nicht mehr rekonstruieren.“
Danke, danke … das Gerät könnte ruhig größere Buchstaben drucken, war schließlich teuer genug … was haben wir denn da? Darmschlingen … Stuhlgang … Brei … der Volksmund erbricht sich aus mir … Druck … Suppe …
„War der Junge krank?“
„Das muß das Labor klären. Ist aber sehr wahrscheinlich, wenn Sie mich fragen. Diese Typen haben doch immer was. Wohnen wie das liebe Vieh, essen einmal am Tag, wenn’s hochkommt, nehmen Drogen, damit das Hirn sich wenigstens zwischendurch mal erholen kann, wie soll man da gesund bleiben?“
Tja, wie soll man da gesund bleiben? Früher waren solche Menschen kostbar. Man hat sie gerufen, wenn man sich mit den Toten unterhalten oder den verlorenen Sohn wiederfinden wollte. Sie haben die Zukunft vorausgesagt und die Vergangenheit gedeutet. Heute landen sie auf dem Gedankenstrich, werden verachtet als –
„Mutanten sind das. Arme Schweine. Wenn ich so einen Sohn hätte, ich würde ihn in ein Kloster stecken und die Lobotomie bezahlen.“
Du wirst in deinem Leben keinen Sohn mehr zeugen, alter Angeber. Und wie ein Mutant sieht der hier auch nicht aus. Obwohl … man kann es oft nicht auf den ersten Blick erkennen, aber irgendwas –
„Kommissar Sittsam, wir haben dreiundvierzig Zähne sichergestellt!“
– ist doch bei jedem verkehrt.
„Könnte ich bitte einen Augenblick Ruhe haben? Ich würde gern dieses Protokoll fertiglesen.“
Das war also seine letzte Viertelstunde. Jemand muß ihn hierhergeschleppt haben, als er schon reichlich hinüber war. Hier könnte ein Hinweis auf die Täter sein: Beide flüchten … wenn ich die erwische … verschwunden, nach unten dort hinten … Naja, könnte auch nichts bedeuten, könnten Erinnerungen sein, Gedankenfetzen, man darf nicht vorschnell Schlüsse ziehen … hier wird es interessant: Wie gern wäre ich jetzt eine Frau … während … während … während …
„Professor Hilti?“
„Direkt hinter Ihnen.“
„Haben Sie an seinem Gehirn Besonderheiten festgestellt?“
„In der Hauptsache war es ziemlich erkaltet, wie gesagt, und die Hypothalamusbrücke war regelrecht durchgeschmort. Da muß eine starke Überlastung stattgefunden haben.“
„Hat ihn das getötet?“
„Das kann ich nicht ausschließen. Aber ob das Fremdverschulden war oder lediglich Folge eines Drogenmißbrauchs, muß das Labor –“
„Fremdverschulden? Was meinen Sie damit?“
„Nun, ich habe solche Fälle erlebt, als ich noch in der Hauptstadt arbeitete. Gedankenstricher leben gefährlich. Manchmal kommen Freier und verlangen perverse Sachen, abartige Spielchen, locken mit viel Geld und –“
„Geht das auch konkreter?“
„Da war mal diese Frau. Mathematikerin. Hatte etwas Sensationelles herausgefunden und sollte dafür den Nobelpreis bekommen. Vor der Preisverleihung ging sie ins Rotlichtviertel, gab einem dieser armen Teufel fünfhundert Euro und lagerte ihr halbes Hirn in seinem Kopf ein. Für vier Stunden, hat sie gesagt.“
„Aber warum denn?“
„Sie hatte Angst vor dem Publikum. Hatte ihre Tabletten vergessen und wußte nicht, wie sie den Abend emotional durchstehen sollte. Während sie sich feiern ließ, saß der Junge da mit ihrer miesen Kindheit, ihren Ahnungen, Assoziationen und Fehlentscheidungen. Zwei Stunden hat er durchgehalten, dann flippte er aus. Loggte sich im Internetcafé um die Ecke in den Zentralrechner der Bank ein und verzockte dreißig Millionen an der Börse. Die Sache flog auf, während er die Finger noch an den Tasten hatte. Er beging Selbstmord in der Verhörzelle.“
„Und die Mathematikerin?“
„Man konnte ihr nichts Illegales nachweisen. Sie wollte ihn noch postum wegen Diebstahls ihrer Kindheit anzeigen, hat aber davon abgesehen, weil sie merkte, daß es ohne besser läuft mit der Wissenschaft.“
„Aber das ist ja unglaublich!“
„Ist es? Und warum? Weil Sie nichts davon wußten? Seit drei Monaten sind Sie jetzt bei uns, vielleicht sollten Sie mal in den Akten blättern, anstatt Kaffee zu trinken und vergangenen Zeiten nachzutrauern.“
Daß ich mir das von dem sagen lassen muß, diesem … Mia hat immer gesagt: Du mußt raus auf die Straße, ran ans Volk, weg vom Schreibtisch …
„Vielleicht haben Sie recht.“
Und wenn schon. Davon werde ich auch nicht klüger. Was soll ich mit diesem Zettel? Ich muß die Befunde vom Labor abwarten, die Autopsie, hoffen, daß sich doch noch ein Zeuge findet. Dann kann ich ermitteln. Aber so … der Junge tut mir leid. Sein Leben muß die Hölle gewesen sein. Aus lauter Langeweile … blind durch die Wesenheit steigen … in Demutshaltung meine Oberfläche anderen ausstellen …
„Wir wären soweit. Die Leiche kann weg.“
„Was ist mit Ihrem Kollegen?“
„Im Wagen eingeschlafen.“
„Fahren Sie ihn nach Hause. Wir sind hier fertig.“
„Kommissar Sittsam?“
„Was denn noch?“
„Ich wollte Ihnen nur sagen, daß es viel besser ist mit Ihnen. Sie sind … anders als Ihr Vorgänger.“
Großartig.
„Danke, danke. Nun sehn Sie zu, daß Sie zurück in Ihre Betten kommen.“
Das werde ich jetzt auch tun. Zurück ins Bett! Mia wird schlafen, aber vielleicht wacht sie nochmal auf, wenn ich über meinen Hausschuh stolpere.
„Ich nehme die Aufzeichnungen mit, Professor. Vielleicht fällt mir noch was ein beim Lesen.“
„Machen Sie sich nicht zuviel Hoffnung. Ich habe hunderte gelesen, meist ist nichts Brauchbares dabei.“
Wenn ich nochmal von vorne anfangen könnte … ein letzter Gedanke … Endlich Stille …
Was bin ich froh, daß wir eine Tochter haben. Ich muß unbedingt mit ihr reden, gleich morgen, ihr erklären … das alles erklären, damit sie nicht auf dumme Gedanken kommt.