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Frau Pohl liest
Gleich wird die Pohl es wieder tun. Nina vergrub ihre Hände in den Jeanstaschen und schupste einzelne Kieselsteine den Weg entlang.
Frau Pohl saß still auf einer Bank vor dem Rosenbeet. Wobei Rosenbeet vielleicht etwas übertrieben war, sechs Rosenstöcke kämpften tapfer in einem Ring von Feldsteinen gegen Blattläuse und Schatten.
„Zeit fürs Abendessen, Frau Pohl.“
Frau Pohl schaute zu ihr auf. Dann verzog sie das Gesicht zu einer Grimasse und stieß dieses: „Zzzzhh!“ aus.
Sie tat es jedes Mal, wenn Nina sich ihr näherte. Seit dem ersten Tag ihres Ferienjobs hier im Altenheim.
Nina unterdrückte den Impuls, es ihr gleichzutun, drehte sich um und ging. Frau Pohl stapfte ihr nach; mit kleinen, festen Schritten schob sie sich den Weg hinauf. Ihre Nasenflügel bebten, wenn sie die Luft ausstieß. Sonst regte sich nichts in ihrem Gesicht, als wäre es eingefroren.
Vor dem Eingang blieb Nina stehen. Ihr linker Fuß zeichnete Kreise in den Kies, ein Mückenstich an ihrem Unterarm juckte. Was habe ich ihr eigentlich getan?
Als Frau Pohl an ihr vorbei ins Haus wollte, schleuderte Nina die Frage hinaus: „Was haben Sie eigentlich gegen mich?“
Frau Pohl hielt inne. Gleich zischt sie wieder ... na los, mach schon. Aber sie stand nur da, einen Schritt vor Nina.
„Du hast mein Buch geklaut!“
„Was?“ Nina schluckte.
„Mein Buch, du hast das Buch von Martha und Wenzel geklaut.“
Nina war verwirrt. Die Stimme. Sie hatte noch nie Frau Pohls Stimme gehört. So tief. Dazu diese absurde Anschuldigung.
Frau Pohl schob sich weiter vorwärts den Flur hinunter.
„Das hab ich nicht!“, rief Nina ihr nach. Mehr brachte sie nicht hervor. Nur diesen lächerlichen Kleinmädchensatz: Aber ich war das nicht.
Pflegerin Almuth saß neben Herrn Hörig und schmierte ihm Leberwurst aufs Brot. Nina setzte sich zu ihr. „Frau Pohl hat gerade behauptet, ich hätte ihr ein Buch geklaut.“
Almuth schmunzelte: „Das von Martha und Wenzel?“
„Ja, woher weißt du?“
„Als sie vor drei Monaten zu uns kam, hat sie uns alle beschuldigt, es ihr weggenommen zu haben. Mach dir nichts draus.“
„Wieso? Wieso tut sie das?“
„Ich weiß es nicht. Sie tut es eben.“ Almuth zuckte mit den Schultern, schob Herrn Hörig den Teller zu und stand auf.
Nina kratzte mit dem Fingernagel am Etikett auf der Wasserflasche. Sie beobachtete Frau Pohl, deren Mund sich mechanisch öffnete und schloss, den Blick zum Fenster hinaus gerichtet.
Das Buch von Martha und Wenzel ging Nina nicht aus dem Kopf. Zu Hause suchte sie im Netz danach. Es gab einige Buchtitel, in denen eine Martha als Protagonistin agierte, weniger Wenzels und keinen, in dem beide Namen auftauchten.
Am nächsten Morgen in der Stadtbibliothek fand sie nur zwei Bücher ihrer Liste. Zwei von den Marthas. Einen schwedischen Krimi und einen Nachkriegsroman. Obwohl die Chance mehr als gering war, dass es sich bei einem der Titel um Frau Pohls Buch handeln könnte, lieh sie beide aus.
Frau Pohl saß in ihrer reglosen Art auf der Bank vor den Rosen. Als Nina sich zu ihr setzte, drehte sie den Kopf und stieß ihr: “Zzzhh!“ aus.
Selber Zzzzh! Kurz überlegte Nina, ob sie es mit den Büchern wirklich probieren sollte. Ihre Augen flitzten zwischen Frau Pohl und der Tasche hin und her. Was soll schon passieren? Schließlich packte sie Roman und Krimi aus und hielt sie Frau Pohl hin.
„Ist es eines von den beiden?“
Frau Pohls Blick streifte die Bücher. Nina schaute voller Erwartung in ihr Gesicht. Es regte sich nicht. Als Nina die Bücher wieder einstecken wollte, griff Frau Pohl nach dem Krimi.
„Dieses Buch? Ist es dieses Buch?“
Frau Pohl legte das Buch auf den Schoß und strich mit ihrer rechten Hand über den Einband. Zärtlich glitten ihre Finger über das Papier, schließlich schlug sie es auf und begann darin zu lesen.
Nina saß neben ihr, wartete noch immer auf eine Regung, eine Bemerkung, auf irgendetwas, vielleicht auf ein Zischen. Nichts. Nur die leichte Bewegung des Kopfes, der den Zeilen folgte.
Als Nina das andere Buch in die Tasche stecken und gehen wollte, griff Frau Pohls Hand nach ihrem Arm. Sie nahm Nina den Roman aus den Händen, legte ihn auf den Krimi und betrachte das Bild auf dem Deckel. Wieder strichen ihre Finger endlos darüber, dann schlug sie ihn auf und führte ihren Zeigefinger die Zeilen entlang.
Beide Bücher? Das kann doch nicht sein. Nina hatte keine Zeit, weiter darüber nachzudenken, ihr Dienst hatte angefangen.
Nina ging zu Almuth, die das Fleisch für Herrn Hörig in Stücke schnitt.
„Ich habe Frau Pohl heute zwei Bücher mitgebracht. In beiden gibt es eine Martha, aber keinen Wenzel. Trotzdem hat sie beide genommen und darin gelesen. Verstehst du das?“
„Frau Pohl hat darin gelesen?“, fragte Almuth leicht amüsiert.
„Ja.“
„Frau Pohl kann nicht lesen, Nina.“
„Frau Pohl kann nicht … aber ich habe doch gesehen wie sie … sie kann nicht … Warum? … Woher willst du das wissen?“ Nina schaute zu Frau Pohl. Sie hatte den Teller von sich geschoben und den Krimi aufgeschlagen. Von Zeit zu Zeit blätterte sie eine Seite um.
„Wirklich nicht. Nach dem Tod ihres Mannes hat ein Nachbar ihr bei den Briefen und Behörden geholfen. Er war es auch, der sie zwei Mal dehydriert ins Krankenhaus brachte. Danach kam sie zu uns. So steht es in ihrer Akte ... Aber warum? Sie redet ja nicht.“ Auch Almuth schaute nun zu Frau Pohl. Sie seufzte. „Es ist eben nicht immer einfach.“
Am Nachmittag setzte sich Nina zu Frau Pohl auf die Bank. Keine Grimasse, kein Zischen, nichtmal ein Blick traf Nina.
„Soll ich Ihnen daraus vorlesen?“, fragte sie leise.
Zaghaft griff sie nach dem Buch. Frau Pohl riss es zur Seite, fort von Nina.
„Entschuldigung, ich wollte nicht … Ich wollte es Ihnen nicht wegnehmen.“
Sie blieb noch eine Weile neben Frau Pohl sitzen. Manchmal schaute Frau Pohl stur geradeaus, dann wieder las sie in dem Buch und ab und an blätterte sie eine Seite um.
Nina und Almuth standen vor dem Haus, je eine Tasse Kaffee in den Händen haltend, und alberten rum. Wolken hatten sich vor die Sonne geschoben. Nina fröstelte, als sie die alte Frau in ihrer dünnen Bluse auf der Bank sitzen sah.
Im Zimmer von Frau Pohl suchte sie nach der blauen Strickjacke. Als sie zur Bank kam, schlief Frau Pohl. Der Roman war auf den Boden gefallen, Ameisen tapperten darauf umher. Nina hob das Buch auf und legte Frau Pohl die Jacke über die Schultern, darauf bedacht, sie nicht zu wecken. Sie setzte sich zu ihr und begann den Krimi zu lesen. Als Frau Pohl aufwachte, reichte sie ihr das Buch.
An schönen Tagen gesellte sich Nina vor oder nach ihrem Dienst zu Frau Pohl auf die Bank. Manchmal hatte sie ein Buch dabei, manchmal redete sie einfach drauflos. Aber meistens saß Nina auf der Bank, betrachtete das reglose Gesicht und überlegte sich, wie das Leben von Frau Pohl ausgesehen haben könnte. Sie gab ihr verschiedene Berufe, richtete ihre Wohnung mehrfach ein, arrangierte ihre Hochzeit und trauerte mit ihr, als ihr Mann verstarb. Frau Pohl war für Nina eine großartige Köchin, tanzte leidenschaftlich gern, schimpfte mit den Kindern, die im Hof Fußbälle zwischen die aufgehängte Wäsche schossen, brach sich einen Arm im Schwimmbad, weinte bei kitschigen Liebesfilmen und bekam nie die Tochter, die sie sich so sehr gewünscht hatte.
Es war Ninas letzter Arbeitstag. Nachdem sie das Geschirr vom Abendessen verräumt und die Tische abgewischt hatte, stand sie mit Almuth vor der Tür. Almuth rauchte und Nina knackte Sonnenblumenkerne zwischen den Zähnen.
„Dass du die Sauerei noch wegmachst, bevor du abhaust!“ Almuth deutete mit einer Kopfbewegung auf Ninas ausgespuckte Hülsen. Lange hielt die vorwurfsvolle Mimik dem Grinsen dahinter nicht stand, dann prustete sie los: „Wenn du dein Gesicht jetzt sehen könntest, Nina.“
Nina antwortete ihr mit Frau Pohls: „Zzzhh.“
„Du solltest dich von ihr verabschieden, ihr sagen, dass du nicht wiederkommen wirst.“
Die beiden Frauen schauten zur Bank hinunter, auf der Frau Pohl saß. So still, als hätte ein Holzkünstler sie dorthin geschnitzt.
„Ja“, murmelte Nina und schob mit ihren Turnschuhen die schwarzen Schlusen auseinander.
Almuth drückte ihre Zigarette aus. Erst ihre, dann die von Herrn Hörig, der neben ihnen saß. Sie reichte ihm den Arm und ging mit ihm hinein.
„Frau Pohl“, flüsterte Nina, „sehen Sie die kleine Meise auf dem Feldstein.“
Ein Jungvogel bettelte mit zitternden Flügeln um Futter.
„Wussten Sie“, fuhr Nina fort, „dass die Weibchen es im Frühjahr mit den Männchen ebenso halten? Gehört zum Balzritual der Blaumeisen.“
Nina griff in ihre Hosentasche, holte einige Sonnenblumenkerne heraus und warf sie zu den Rosen. Die beiden Meisen flüchteten in den nächsten Baum, Frau Pohl schaute ihnen nach.
„Ich wollte mich von Ihnen verabschieden. Das war mein letzter Tag heute.“ Sanft kamen die Worte über Ninas Lippen. Als wären sie aus Glas und könnten zu Boden fallen und dort zerbrechen.
Frau Pohl schloss das Buch, das sie in den Händen hielt, strich über den Einband, legte es auf den Roman und hielt schließlich Nina beide Bücher entgegen. Ihre Hände zitterten, Sonnenstrahlen spielten auf dem schlichten Ring an ihrem Finger.
„Behalten Sie sie, Frau Pohl“, Nina hielt inne, dann fügte sie hinzu: „Martha.“
Etwas passierte mit Frau Pohls Eisgesicht: Es taute.
Wie schön sie ist. Nina blieb noch eine Weile sitzen, bevor sie aufstand und eine Hand zaghaft auf Frau Pohls Schulter legte: „Ich werde in der Bibliothek sagen, dass ich sie verloren habe … Machen Sie es gut. Auf Wiedersehen.“
Nina holte aus ihrer Tasche die restlichen Kerne und warf sie zu den Rosenstöcken. „Vielleicht wachsen hier ja nächstes Jahr Sonnenblumen.“