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Eden

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13.01.2012
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Eden

Ich wohne am Bahnhof des Mittags.
Es fahren viele Züge vorbei. Ständig ist da dieses Vorbei.
Gestern stand ich barfuß vor dir.
Ich sagte: Verdammt, kannst du nicht nach Hause gehen, wenn du nicht bleiben willst? Du streichst dein Haar aus dem Gesicht.
Heute ist es ein bisschen fettig und du siehst müde aus und erschöpft. Du schiebst dein Fahrrad vor dir her, als könnte es dich schützen. Du stellst dein Fahrrad in den Hauseingang wie etwas Wichtiges, Wertvolles.
Ich schaue zu Boden und spiele mit meinen Zehen Schach.
Was heißt das?, fragst du und deutest auf einen Zettel.
Das ist mein Gebet, sage ich.
Und was bedeutet das?
Das bedeutet, dass ich an nichts mehr glaube.

Wir gehen in eine Bar. Musik, Alkohol, seichte Gespräche. Ich wollte dich eigentlich nur wiedersehen, weil ich bereits dabei war, dich zu vergessen. Ich versuche, mir heimlich deine Gesichtszüge einzuprägen. Aber du bermerkst jeden Blick und ich habe also die Speisekarte begutachtet, das Bierglas, die Dekoration,
- ein Kronleuchter, wie schön!
und ich habe die Musik beobachtet und wir haben uns gelangweilt. Wir sprechen über Weihnachten oder so, keine Ahnung. Dann erzählst du was von einer Spanierin und ich frage mich, warum ich nicht rechtzeitig daran gedacht habe, das Fenster zu schließen. Es ist vier Uhr. Vier Uhr Nacht. Ich mag wie du dich räusperst und wie du Aha sagst. Es ist mehr Ähe oder Öhe. Ich mag wie du nachdenkst. Eigentlich kenne ich dich gar nicht und das ist gut so.

Ich wohne am Bahnhof des Mittags. Hier liegen die Obdachlosen zu jeder Tageszeit und schlafen. Ist es furchtbar, wenn ich sage, dass ich sie beneide? Ich beneide sie, weil sie sich bereits mit ihrem Unglück abgefunden haben. Ich beneide sie, weil sie da auf ihren furchtbar heruntergekommenen, bepissten Matratzen liegen und sich umarmen. Ich sage:
Das tut mir weh!, du sagst:
Das ist normal.
Aber du hast nicht verstanden, was mir weh tut. Es fahren viele Züge vorbei. Montag und Dienstag habe ich mir gewünscht, in irgendeinen Zug einsteigen zu können und wegzufahren. Einfach nur wegzufahren. Ohne Last. Ohne Kopf. Egal. Ohne Ziel. Hauptsache irgendwohin. Ich sage:
Ist ja egal.
Mir fällt nichts anderes ein.
Was willst du?
Ist ja egal.
Ich frage mich, wo die Züge hinfahren, die Züge. Ich erinnere mich an andere Zugfahrten. Ich erinnere mich daran, dass ich mich in Zügen immer zu Hause gefühlt habe, also: immer irgendwie nicht zu Hause, also: immer irgendwohin unterwegs, immer von irgendwo weg.
Du hast irgendwas erzählt, auf Französisch, ich habe nicht zugehört. Ich habe an irgendwas gedacht oder an nichts. Dann sind wir gegangen. Du sagtest:
Ich hole noch mein Fahrrad. Du sagtest:
Das ist die älteste Burg hier.
Du erzähltest etwas Historisches. Ich konnte dir nicht folgen, dachte nur: Einen Schritt vor den nächsten, links, rechts, links, rechts. Ich erzähle dir:
Eine Frau blickte mich unvermittelt an. Sie sagte, mein Denken sei nicht normal, und schrie dabei.
Wir sitzen auf einer Fensterbank, ich rauche. Du sagst:
Das ist normal.
Ich seufze nur noch. Der Rauch steht in der Luft. Ich wohne am Bahnhof des Mittags. Wenn es dunkel wird und auch, wenn es hell ist, stinkt es nach Bier. Es stinkt nach Bier und Pisse. Der Mond hängt am Himmel wie ein poetischer Fehler. Ich wohne am Bahnhof des Mittags. Wenn es hell ist, kann man die vielen vernarbten, verkrampften, gespaltenen Gesichter sehen. Wenn es dunkel ist, fühlt man alles wie ein einziges, schlagendes, schmerzendes, sich zerschmetterndes Herz. Und manchmal stehen da Polizisten und erwecken Eindruck. Als würde irgendetwas nicht stimmen... Es fahren viele Züge vorbei. Ständig ist da dieses Vorbei. Weihnachten verbringst du in Spanien.

 
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Hallo yleae,

mir gefällt deine Geschichte und dein einfacher, aber gut lesbarer, an manchen Stellen sogar rhythmischer Ton, der sich hier deutlich abzeichnet und so gut wie durchgehend zum Weiterlesen auffordert. Bereits dein erster Satz hat bei mir Neugierde erweckt, der Rest jedoch Unsicherheiten:

Trotz der guten Lesbarkeit bin ich auch jetzt noch unsicher, wie ich diese Geschichte verstehen soll, wobei dies nicht unbedingt Schlechtes verheißen muss. :) Also, so habe ich es verstanden (sofern überhaupt etwas mühselig zu verstehen ist): Dein Prot verliert jeglichen Glauben und ihm wird überdies selbst seine Freundin gleichgültig. Der Grund hierfür ist nun das, was sich mir bisher noch nicht eindeutig erschließen lässt. Man erfährt nur von einer dritten Person (einer Frau, wie hier genannt wird) dass seine Denkweise nicht einer gewöhnlichen entspreche. Der Ursprung seines Denkens bleibt mir aber weiterhin ungewiss. Andere Beweggründe sind für mich, aber vielleicht für andere mit einem größeren Weitblick als meinen, nicht erkennbar, obgleich die Obdachlosen für seinen Missmut verantwortlich sind, der jedoch an einer Stelle mit Neid (sich mit dem Glück schon abgefunden zu haben) verbunden ist, was sich für mich ebenso nicht anhand des Textes erklären lässt.

Dennoch sehe ich einige Zusammenhänge zwischen seinem trübsinnigen Empfinden von Gleichgültigkeit und deiner Sprache: "Bahnhof des Mittags" = die Tageszeit ist dem Prot nicht von Belangen. Daher der Mond als "poetischer Fehler", wobei ich diese Formulierung ein wenig unsicher finde (hier beginnt meine Wortklauerei): wie habe ich einen Fehler als poetisch, also stimmungsvoll zu verstehen? - eher widersprüchlich. Dann auch das oft wiederholte "Vorbei", das die Vergänglichkeit und damit die Belanglosigkeit vereinigt.

Außerdem verstehe ich noch nicht, wie man Eden, den schon fast unscheinbaren Titel mit dem Inhalt vereinbaren könnte.

So, das war's auch schon von meiner Seite. Vielleicht kannst du mir ein paar Fragen beantworten, falls die Lösungen tatsächlich (das wäre mir äußerst peinlich) vollkommen ersichtlich sind. Ansonsten soll eine Kurzgeschichte auch freien Raum für Interpretationen bieten - meine Meinung und wohl die vieler anderer.

Gruß
Josef

 
Zuletzt bearbeitet:

Oh je. Da scheint wirklich einiges unklar geblieben zu sein und ich weiß jetzt nicht, ob es am "Erzählen" liegt, oder am Lesen. Es ist wohl eher nicht so gut, wenn derart viel Erklärungsbedarf bleibt.

Hallo erstmal und danke fürs Feedback

Zum Titel, der hieß in einer früheren Version [j]Eden, will vielleicht zu viel. Hinweisen auf eine Austauschbarkeit, keine Ewigkeit, Verdrängung, paradieslose Zustände. Es ist eben KEIN Eden im Text, wohl aber die Sehnsucht nach einem Wieauchimmer/eden.

Protagonist ist eigentlich eine sie. Er ist gleichgültig, sie eigentlich auch, letztendlich findet man nicht zueinander. Interessant, dass aber sie/er so austauschbar zu sein scheint, mh. Vielleicht sollte ich Namen einbauen, oder wenigstens einen oder deutlicher charakterisieren. Die Personen bleiben ja tatsächlich etwas durchsichtig. Die andere Frau ist vollkommen ohne Belang, wichtig nur, dass von fremden Außenstehenden das Denken der ProtagonistIn als "nicht normal" wahrgenommen wird. Und die Frau steht stellvertretend dafür. Wichtiger für die Handlung ist wohl viel mehr die kurz erwähnte Spanierin.

Ansonsten ist es mir eigentlich ganz recht, wenn keine Antwort aufgetischt wird und die Sprache vielleicht ein Gefühl zurücklässt, ohne etwas zu erklären, mir weit lieber, als durchweg Klares, Verständliches, Nachvollziehbares. Das ist ja nicht mal im Leben so, muss auch nicht so sein.

Der Mond, in seiner Romantik, ist ein Fehler. Also: Die Romantik (dargestellt durch den Mond) ist eben nicht da. Ist das irgendwie verständlich oder grammatikalisch falsch oder wo ist das Problem?

Danke jedenfalls für den Kommentar.

Gruß, y

 

Hallo yleae,

auch wenn an relativ oft Texte mit einer gewissen Tristesse liest, hat mir die von dir erzeugte Atmosphäre zugesagt weil ich sie nicht übertrieben empfinde und das Ganze nicht im Suizidwehmut übergeht. Außerdem ist ein ‚roter Faden‘ zu sehen, der die Geschichte einrahmende Satz „Ständig ist da dieses Vorbei“ beschreibt gut den Schmerz der Protagonistin.

Was mir fehlt ist der Hintergrund des Textes, ich sehe gewissermaßen die Wellen, nicht aber deren Ursprung.

„Das ist mein Gebet, sage ich.
Und was bedeutet das?
Das bedeutet, dass ich an nichts mehr glaube.“

Gebet – Unglaube – ein gelungener Gegensatz.

Zum Titel: Es wird nicht deutlich, ob Eden noch gesucht wird, oder das, was ist, schon für die Protagonistin Eden ist.

Ja – und wie spielt man mit den Zehen Schach?


Tschüß …

Woltochinon

 

Hallo,

danke für den Kommentar.
Stimmt, ich bleibe oft eher an der Oberfläche, denke ich. Mh.
Und mit den Zehen Schach, ja. Gute Frage.

Vg

ps: Eden ist sicher nicht das gefundene. Die Beschreibung ist eher alles andere als Eden, also ist "Eden" das gesuchte.

 

Moin yleae,
mir gefallen viele deiner Sätze (manche auch sehr) - sie klingen poetisch, wie eine geträumte Wirklichkeit. Es hat mich an „Licht“ von Christoph Meckel erinnert. Nur dort, trotz aller Poesie, finde ich eine Geschichte. Die fehlt bei dir (zumindest für mich). Du fängst an, erzeugst eine Stimmung (durchaus gekonnt), aber dann bleibt so vieles im Dunkeln. Warum schreibst du nicht weiter? So wirkt alles verklärt, geheimnisvoll. Das ist mir zu einfach.

Ansonsten ist es mir eigentlich ganz recht, wenn keine Antwort aufgetischt wird und die Sprache vielleicht ein Gefühl zurücklässt, ohne etwas zu erklären, mir weit lieber, als durchweg Klares, Verständliches, Nachvollziehbares. Das ist ja nicht mal im Leben so, muss auch nicht so sein.
Geschichte brauchen keine Antworten, da soll sich der Leser selbst bemühen. Das heißt aber doch nicht automatisch, dass die Geschichte im Nebulösen verbleiben muss. Mir hat da was gefehlt.
Jetzt noch ein paar Details, die mir auffielen:
Du schiebst dein Fahrrad vor dir her, als könnte es dich schützen. Du stellst dein Fahrrad in den Hauseingang wie etwas Wichtiges, Wertvolles.
Hier bin ich gestolpert: Zweimal ein Satzanfang mit „Du“ – klar, das kann schon einen Sinn machen, aber hier fände ich es besser, die beiden Sätze mit einem Komma zu verbinden „könnte es dich schützen, stellst es in den Hauseingang, als sei es etwas Wertvolles.“
Wichtiges und Wertvolles schien mir auch zu ähnlich, als dass es nicht wie eine Doppelung wirkt.
Was heißt das?, fragst du und deutest auf einen Zettel.
Das ist mein Gebet, sage ich.
Und was bedeutet das?
Das bedeutet, dass ich an nichts mehr glaube.
Das klingt! Super! Aber ich fragte mich, ist der Zettel leer? Nur so wird ein Schuh daraus, oder? Und wenn es so sein sollte, würde es auch Sinn machen, von einem leeren Zettel zu schreiben.
Wir gehen in eine Bar. Musik, Alkohol, seichte Gespräche.
Bei der Aufzählung dachte ich „Schade“ und das es nicht passt, zu profan ist. Eine Bar ist nun mal der Ort, an dem Musik, Alkohol und seichte Gespräche stattfinden. Muss man das so erwähnen? Und wenn, dann in der Form, die du hier sonst auch wählst. Das wäre für mich schlüssiger gewesen.
Aber du bemerkst jeden Blick und ich habe also die Speisekarte begutachtet, das Bierglas, die Dekoration,
- ein Kronleuchter, wie schön!
Erst mal super, aber die Melodie fehlt. Begutachtet passt nicht zu dem übrigen Stil. Das „also“ und das „wie schön“ – da habe ich mich etwas geschüttelt.
Vielleicht: „Aber du hast jeden Blick bemerkt. Ich sah in die Speisekarte, das Bierglas. Auf die Dekoration. Ein Kronleuchter mit hunderten Glasperlen, die das Licht brachen.“
und ich habe die Musik beobachtet und wir haben uns gelangweilt.
Kann man Musik beobachten? Das „und“ würde ich streichen. Eigentlich sollte ein „und“ einen mehr oder weniger direkten Zusammenhang symbolisieren. Denn sehe ich so nicht.
Wir sprechen über Weihnachten oder so, keine Ahnung
„oder so“ und „keine Ahnung“ werten für mich den guten ersten Satz ab.
Dann erzählst du was von einer Spanierin und ich frage mich, warum ich nicht rechtzeitig daran gedacht habe, das Fenster zu schließen.
Einer von den Sätzen, wo ich „toll“ schrie. Richtig gut!
Vier Uhr Nacht.
… in der Nacht oder nachts.
Ich mag wie du dich räusperst und wie du Aha sagst.
Super und ohne und (dann ein Komma) noch besser.
furchtbar heruntergekommenen, bepissten Matratzen
zu viel – zu lang.
Aber du hast nicht verstanden, was mir weh tut.
Ich schon! Und wenn es dann nochmal in Textform kommt, ist es zu viel.
Ich erinnere mich daran, dass ich mich in Zügen immer zu Hause gefühlt habe, also: immer irgendwie nicht zu Hause, also: immer irgendwohin unterwegs, immer von irgendwo weg.
immer – irgendwie – irgendwohin – irgendwo = dann noch verbunden mit dem „also“ klingt wie nichts und alles = somit überflüssig – wie eine Erklärung, die auf alles passt.
Vielleicht: „Ich erinnere mich daran, dass ich mich in Züge zu Hause gefühlt habe, unterwegs, nicht daheim, weit weg. „
Du hast irgendwas erzählt, auf Französisch, ich habe nicht zugehört. Ich habe an irgendwas gedacht oder an nichts.
Ist hier das „… ich habe nicht zugehört.“ nicht überflüssig, da der nächste Satz genau das aussagt?
Eine Frau blickte mich unvermittelt an. Sie sagte, mein Denken sei nicht normal, und schrie dabei.
Klasse!
Ich seufze nur noch.
„nur noch“ – klingt nicht – aber ich weiß auch nichts besseres.
vernarbten, verkrampften, gespaltenen Gesichter
Mir hätte hier eins gereicht.
Die drei Punkte, die kurze Zeit später kommen, habe ich nicht verstanden.

So, das war’s. Alles ganz schnell in die Tasten getippt und mein ganz persönlicher Lesereindruck. Nicht mehr und nicht weniger.
Herzlichst Heiner

 

Hallo Heiner,

vielen, vielen Dank für deine Aufmerksamkeit beim Lesen und die Bemerkungen!
Du hast Recht, dem meisten stimme ich zu (Einsparung von Adjektiven, Weglassen von Satzteilen, die genau das selbe sagen)

Manche Verbesserungsvorschläge finde ich nicht viel besser, doch alles in allem war das sehr hilfreich und ich bedanke mich sehr :-)

Irgendwie - irgendwohin, etc., sollten das Unbestimmte verdeutlichen. "Oder so", dass es eigentlich unwichtig ist.

Wann ist etwas denn eine "erzählte Geschichte" und nicht bloß eine Stimmung?

Mit freundlichen Grüßen,
y

 

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