Eden
Ich wohne am Bahnhof des Mittags.
Es fahren viele Züge vorbei. Ständig ist da dieses Vorbei.
Gestern stand ich barfuß vor dir.
Ich sagte: Verdammt, kannst du nicht nach Hause gehen, wenn du nicht bleiben willst? Du streichst dein Haar aus dem Gesicht.
Heute ist es ein bisschen fettig und du siehst müde aus und erschöpft. Du schiebst dein Fahrrad vor dir her, als könnte es dich schützen. Du stellst dein Fahrrad in den Hauseingang wie etwas Wichtiges, Wertvolles.
Ich schaue zu Boden und spiele mit meinen Zehen Schach.
Was heißt das?, fragst du und deutest auf einen Zettel.
Das ist mein Gebet, sage ich.
Und was bedeutet das?
Das bedeutet, dass ich an nichts mehr glaube.
Wir gehen in eine Bar. Musik, Alkohol, seichte Gespräche. Ich wollte dich eigentlich nur wiedersehen, weil ich bereits dabei war, dich zu vergessen. Ich versuche, mir heimlich deine Gesichtszüge einzuprägen. Aber du bermerkst jeden Blick und ich habe also die Speisekarte begutachtet, das Bierglas, die Dekoration,
- ein Kronleuchter, wie schön!
und ich habe die Musik beobachtet und wir haben uns gelangweilt. Wir sprechen über Weihnachten oder so, keine Ahnung. Dann erzählst du was von einer Spanierin und ich frage mich, warum ich nicht rechtzeitig daran gedacht habe, das Fenster zu schließen. Es ist vier Uhr. Vier Uhr Nacht. Ich mag wie du dich räusperst und wie du Aha sagst. Es ist mehr Ähe oder Öhe. Ich mag wie du nachdenkst. Eigentlich kenne ich dich gar nicht und das ist gut so.
Ich wohne am Bahnhof des Mittags. Hier liegen die Obdachlosen zu jeder Tageszeit und schlafen. Ist es furchtbar, wenn ich sage, dass ich sie beneide? Ich beneide sie, weil sie sich bereits mit ihrem Unglück abgefunden haben. Ich beneide sie, weil sie da auf ihren furchtbar heruntergekommenen, bepissten Matratzen liegen und sich umarmen. Ich sage:
Das tut mir weh!, du sagst:
Das ist normal.
Aber du hast nicht verstanden, was mir weh tut. Es fahren viele Züge vorbei. Montag und Dienstag habe ich mir gewünscht, in irgendeinen Zug einsteigen zu können und wegzufahren. Einfach nur wegzufahren. Ohne Last. Ohne Kopf. Egal. Ohne Ziel. Hauptsache irgendwohin. Ich sage:
Ist ja egal.
Mir fällt nichts anderes ein.
Was willst du?
Ist ja egal.
Ich frage mich, wo die Züge hinfahren, die Züge. Ich erinnere mich an andere Zugfahrten. Ich erinnere mich daran, dass ich mich in Zügen immer zu Hause gefühlt habe, also: immer irgendwie nicht zu Hause, also: immer irgendwohin unterwegs, immer von irgendwo weg.
Du hast irgendwas erzählt, auf Französisch, ich habe nicht zugehört. Ich habe an irgendwas gedacht oder an nichts. Dann sind wir gegangen. Du sagtest:
Ich hole noch mein Fahrrad. Du sagtest:
Das ist die älteste Burg hier.
Du erzähltest etwas Historisches. Ich konnte dir nicht folgen, dachte nur: Einen Schritt vor den nächsten, links, rechts, links, rechts. Ich erzähle dir:
Eine Frau blickte mich unvermittelt an. Sie sagte, mein Denken sei nicht normal, und schrie dabei.
Wir sitzen auf einer Fensterbank, ich rauche. Du sagst:
Das ist normal.
Ich seufze nur noch. Der Rauch steht in der Luft. Ich wohne am Bahnhof des Mittags. Wenn es dunkel wird und auch, wenn es hell ist, stinkt es nach Bier. Es stinkt nach Bier und Pisse. Der Mond hängt am Himmel wie ein poetischer Fehler. Ich wohne am Bahnhof des Mittags. Wenn es hell ist, kann man die vielen vernarbten, verkrampften, gespaltenen Gesichter sehen. Wenn es dunkel ist, fühlt man alles wie ein einziges, schlagendes, schmerzendes, sich zerschmetterndes Herz. Und manchmal stehen da Polizisten und erwecken Eindruck. Als würde irgendetwas nicht stimmen... Es fahren viele Züge vorbei. Ständig ist da dieses Vorbei. Weihnachten verbringst du in Spanien.