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Am Anfang endet die Realität
Jo starrte auf den Bildschirm und fühlte sich als falle er ins bodenlose Nichts.
Das auf dem Bildschirm – diese kleine Figur im Fokus der Kamera – das war zweifelsohne er selbst.
Es war unmöglich und doch war es Wirklichkeit: Als hätte etwas ihn von hinten gepackt und ihn mit unwiderstehlicher Gewalt nach hinten gerissen. Raus aus seinem Körper, sodass er sich nun selbst von hinten sah. Dann hatte das selbe Etwas seinen Köper und seine Welt mit einem Rahmen umschlossen und diesen mit einer Scheibe versiegelt.
Er war jetzt hier draußen und doch war er – war sein Körper – in diesem verdammten Bildschirm!
Alles stimmte: Die Figur, die ihn abbildete, stand in einem der weißen Räume von Boss Novas geheimem Forschungslabor. Einschusslöcher zierten die Wände, dort war auch die Tür, durch die er gekommen war – dort hinten jene, die weiter ins Innere des Komplexes führen musste. Zu seinen Füßen die Körper der Wachmänner, die er bei seinem Eindringen niedergemäht hatte. Mit der Kalashnikov, Kinderspiel.
Ja, alles war vollständig, seine Welt existierte weiter – und doch war er von ihr getrennt!
Doch es gab auch Unterschiede zwischen der Welt, die ihm der Bildschirm zeigte, und der, an die er sich erinnerte. Links am Rand des Bildschirms und damit neben der Figur schwebten befremdliche Symbole: Ein blauer Balken, in dem das Wort „Health“ zu lesen war und vereinfachte Darstellungen der Waffen, die er bei sich trug. Die Kalashnikov erkannte er, die MP5 … ach, was hätte er in diesem Moment dafür gegeben, das beruhigende Gewicht seiner Desert Eagle in der Rechten zu spüren, statt dieser verfluchten Computer-Maus! Und wenn er diese Tastatur unter seiner Linken doch nur gegen ein halbes Dutzend Splittergranaten eintauschen könnte, er würde schon einen Weg finden, sich aus dieser Situation zu befreien! Bisher war ihm dies immer gelungen.
Erst jetzt begriff er voll und ganz, dass er hier, außerhalb des Bildschirms, vollkommen unbewaffnet war. Ein leises Schaudern durchfuhr ihn, nervös blickte er sich um – aber in dem kleinen Raum, in dem er sich befand, waren natürlich keine feindlichen Söldner. Und aus Nachbarräumen kamen sie nur, wenn man zu laut war, indem man etwa einen Schuss abfeuerte. Fürs erste war er wohl sicher.
Dennoch – er musste einen Weg finden, wieder Herr über seinen richtigen Körper, innerhalb des Bildschirms zu werden.
Vielleicht konnte er … Er betätigte die linke Maustaste. Die Figur riss den Arm hoch, ein Schuss löste sich. Erstaunlich. Er konnte sich selbst fernsteuern.
Er probierte eine der Tasten – „W“. Die Figur machte einen kleinen Schritt vorwärts. Nach einigem Herumprobieren hatte er das mit der Steuerung so halbwegs raus. Er schickte die Figur also zu einem der grünen Spinde, die sich an den Wänden des Raumes befanden und öffnete ihn. Darin fand sich ein weißer Koffer mit einem dicken roten Kreuz darauf. „Verbandszeug gefunden“, kommentierte eine blau aufleuchtende Meldung am unteren Bildschirmrand.
Gruselig. Genau diese beiden Worte waren ihm in solch einer Situation auch immer durch den Kopf geschossen. Noch unheimlicher aber war die Erfahrung an sich: Auf einmal etwas distanziert aus der dritten Person zu verfolgen, was bis eben noch tödliche Realität gewesen war. Und die Optik: Die Bildschirm-Welt wirkte so … unecht. Die Körper der Wachmänner bestanden aus größeren und kleineren glatten Flächen – nachlässig modelliert. Er selbst – also die Figur – hob nicht einmal die Beine, wenn er sie auf der Stelle neu ausrichtete. Sie drehte sich einfach auf höchst bizarre Weise.
Mit einem mal konnte er nicht mehr, brachte es nicht mehr fertig, sein Leben zu spielen. Seine Hände begannen heftig zu zittern, Maus und Tastatur ließ er los. Er bekam keine Luft mehr, begann hektisch danach zu schnappen – endlich legte sich die Panikattacke. Das Zittern blieb.
Mit leichtem Flimmern vor den Augen schob er den Schreibtischstuhl zurück und stand unsicher auf.
Dann blickte er sich in dem kleinen Raum um: Es war recht dunkel, nur der Bildschirm und eine kleine Lampe links von ihm spendeten Licht. Trotzdem erkannte er auf dem Boden, neben dem Computer, ein paar aufgerissene Chips-Tüten und eine halbleere Flasche Coca Cola. In der Ecke stand ein ungemachtes Bett.
In einem plötzlichen Impuls beugte er sich nieder und griff nach einer der Chips-Tüten. Seine Hand fand nur noch wenige Krümel, die er sich in den Mund schob. Der altvertraute Geschmack. Salzige Erinnerung.
Mit zwei Schritten war er beim Fenster. Dort nestelte er eine ganze Weile am Rollo herum, bis graues Licht ins Zimmer fiel. Draußen: eine graue Stadt.
Es war nicht seine Stadt. Die Häuser waren winzig: Höchstens sechs Stockwerke, meist weniger. Keine Prostituierten oder Bandenmitglieder auf der Straße, nirgends Neon-Reklame.
Und kein einziges fliegendes Auto. Jo blinzelte irritiert. Wo war er hier? In welche Falle hatte ihn der teuflische Boss Nova gelockt?
Zurück zum Schreibtisch. Auf einem Regal an der Wand daneben standen die Verpackungen von allerlei Video-Spielen. Eines fiel ihm auf – er zog es heraus, las die Beschreibung auf der Rückseite: Jo Grief 2 – The Legend Of Saint City. Sechs Jahre nach dem Ende des ersten Teils kehren Sie als Jo Grief nach Saint City zurück. Handlanger des organisierten Verbrechens und mordlustige Wahnsinnige erwarten Sie in den finsteren Straßenschluchten der alptraumhaften Metropole. Stürzen Sie sich in ein explosives Abenteuer voller rasanter Feuergefechte und irrwitziger Verfolgungsjagden mit fliegenden Autos.
Dies ist jedoch nur der Anfang, denn die wahre Bedrohung lauert im langen Schatten von Jos eigener Vergangenheit – und auch die Rückkehr des genialen wie geistesgestörten Boss Nova ist nur ein Teil der ganzen Verschwörung…
Mit jedem Wort, das er las, begann Jos Herz heftiger zu hämmern. Kälte erfüllte seine Brust, schoss durch seine Glieder – das Spiel glitt ihm aus den Fingern. Wahnsinn.
Er wollte das nicht mehr sehen, nichts mehr davon wissen. Sein Finger fand den kleinen Knopf am Monitor, das Bild verschwand.
Solcher Stress, das war er nicht gewohnt. Er musste sich jetzt auf seine Aufgabe konzentrieren, den Abschnitt zuende bringen. Wie immer.
Vorsichtig öffnete er die Tür des Zimmers einen Spalt weit, gerade so, dass er hinaus spähen konnte. Ein schmaler Flur: Eine Kommode, Garderobe, nichts Aufregendes.
Und drei Türen. Alle drei sahen aus, als könne man sie benutzen. Ein schwieriger Abschnitt mit mehreren möglichen Vorgehensweisen – die linear aufgebauten waren Jo lieber.
Aber mit welcher Tür sollte er es nun versuchen? Die eine war die Wohnungstür, wahrscheinlich keine gute Wahl. Vermutlich gab es in der Wohnung noch Ausrüstungsgegenstände oder Hinweise zu entdecken.
Aufs Geratewohl öffnete er eine der beiden anderen Türen. Sie führte in ein beengtes Badezimmer, gerade genug Platz für Dusche, Toilette und Handwaschbecken.
Als er in den Spiegel blickte, traf ihn die nächste Überraschung wie ein Vorschlaghammer: Statt seiner selbst blickte ihm ein Fremder entgegen! Er war nicht er selbst in dieser seltsamen Welt – sein Körper war vertauscht gegen den eines schwabbeligen Enddreißigers. Anstelle seiner rabenschwarzer Mähne fand sich ein Gewirr schmutzig-blonder Haare, seine dunklen Augen waren nun hellblau.
Ungläubig betastete er das fremde Gesicht, das ihm wie eine Maske schien – und das sich doch echt anfühlte! Für einen Moment wurde ihm schwarz vor Augen. Er setzte sich auf den Klodeckel, versuchte sich zu beruhigen.
Um so wichtiger war es jetzt, diese Sache zu beenden. Es gab einen Ausweg. Es gab immer einen Ausweg. Eine richtige Taktik, einen Trick … Es war stets so gewesen. Er musste darauf vertrauen.
Er verließ das Badezimmer und durchquerte den Flur. Durch die andere Tür betrat er ein Wohnzimmer: Schlicht eingerichtet – Sofa, Sessel, ein kleiner Tisch, ein alter Fernseher, zwei große Schränke – aber nicht schäbig. Wenn man von der dünnen Staubschicht, die alles bedeckte absah. Der Raum wirkte verlassen und kalt. Auf dem Tisch stand eine Schüssel mit den braunen Überresten von etwas, das mal eine Banane und ein Apfel gewesen sein könnte.
Während er nachdenklich das Zimmer mit seinen Schritten durchmaß – vorsichtig, als bewege er sich durch ein Mienenfeld – flackerten Erinnerungsschemen in seinem Geist auf: Das Zimmer war ihm bekannt. Bekannt auf eine seltsame Weise: Als habe ihm jemand einmal Fotos davon gezeigt oder ihm davon erzählt.
Ein kleines gerahmtes Bild auf einem Beistelltisch fing seine Aufmerksamkeit. Darauf zu sehen waren drei Personen: Er selbst – der Körper, in dem er sich befand – eine dunkelhaarige Frau und ein Mädchen, vielleicht zwölf Jahre alt. Alle drei lächelten, hatten die Arme umeinander gelegt.
Verschiene Gefühle schossen durch sein Herz – schwer und unaufhaltsam, wie ein Güterzug bei Nacht. Halbverblasste Empfindungen, ein abgelaufener Friede.
Einige Sekunden blieb er unschlüssig stehen. Eine hilflose Bitterkeit machte sich in ihm breit, eine Trauer jenseits von Zorn und Rache – ein Gefühl, wie es in Saint City keinen Platz gehabt hätte.
Diesmal fiel Jo ins Nichts.
Thomas hatte einen seltsamen Traum. Darin spielte Jo Grief 2. Doch wenn er das Fenster mit den Missionszielen aufrief, fand er dort nur eine gähnende Leere vor. Auch die Spielwelt war verwaist: Keine Gegner, keine befreundeten Figuren. Kalte Schauer jagten ihm dabei den Rücken hinab.
Doch am erschreckendsten war die Spielfigur: Anstelle des tragischen Helden Jo Grief steuerte er ein Abbild seiner selbst durch die düsteren Straßen Saint Citys.
Sein Gesicht war ausdruckslos wie das einer Puppe.
Jo erwachte auf dem Boden des Wohnzimmers. Seine Glieder schmerzten, ebenso sein dumpf hämmernder Kopf. Doch schlimmer war der Durst, ein brennender Durst.
An dem Sessel zog er sich hoch auf die Beine. Dann schlurfte er ins Bad. Bizarre und beziehungslose Traumfragmente glitten dabei durch seinen Geist, hinüber ins Reich des Vergessens.
Er konnte sich nicht erinnern, jemals solchen Durst gehabt zu haben. Er konnte sich nicht erinnern, überhaupt jemals Durst gehabt zu haben. Diese Dinge waren nicht wichtig gewesen in Saint City. Kugeln waren dort wichtig gewesen.
Mechanisch senkte er seinen Kopf über das Waschbecken und drehte den Wasserhahn auf. Und während das kalte Wasser seine Kehle hinab rann, gewann eine Erkenntnis, schwer wie ein Eisenklotz, in seinem Hirn Gestalt.
Es gibt keinen Ausweg.
Es gibt keinen Ausweg.
In einer Ecke der kleinen Küche zusammengekauert saß Jo Grief und kaute an einer Scheibe Toast. Viel hatte er in der Wohnung nicht zu essen gefunden – noch diese halbe Packung Toast und es war zuende.
Er hatte nachgedacht. Wenn das Essen aufgebraucht war, konnte er nicht länger hier bleiben. So sehr ihn diese fremde Welt auch ängstigte – mit ihrer Weitläufigkeit und Uneindeutigkeit – er würde sich ihr stellen müssen. Und wenn es so weit war, wollte er nicht bereits halb verhungert sein. Das wäre die falsche Taktik.
Er wusste nicht, was ihn alles erwarten würde – hinter der Wohnungstür. Immerhin ein für den Kampf halbwegs brauchbares Messer hatte er in einer der Schubladen gefunden, es lag griffbereit neben ihm auf dem Küchenboden. Er würde es mitnehmen.
Das Messer und das Bild. Er hatte es aus dem Rahmen entfernt, nun steckte es in seiner Hosentasche.
Es schien ihm wohl zu tun, es anzusehen. Auch wenn er sich da noch nicht ganz sicher war.