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sim

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13.04.2003
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»Nein!«, schreie ich unvermittelt und blicke schnell um mich, ob niemand meinen Ruf gehört hat.
Sie haben ihn alle gehört. Sie schauen nur noch kurz auf, leichte Besorgnis im Blick und gehen weiter ihrer Arbeit nach. Sie kennen meine Schreie. Ich senke schamhaft den Kopf, versuche angespannt, auf meinen Monitor zu starren und so zu tun, als wäre nichts geschehen.

Dennis kommt von hinten, legt mir seine Hand auf die Schulter und streichelt mich sanft.

Sie sind immer da, auch dann, wenn ich sie nicht sehe. Sie verfolgen mich auf Schritt und Tritt, mischen sich in mein Leben, seit ich sie hereingelassen habe in einem Moment der Unachtsamkeit.

»Nein!« Die Schreie wecken mich aus Gedanken, die ich nicht bemerke. Die Bilder entladen sich in einem Ausstoß des Entsetzens. Bilder, die ich nicht zu sehen brauche, um Tag und Nacht von ihnen zu träumen. Wie einem Verrückten entfahren mir die Rufe, mitten aus dem Leben heraus. Nicht nur nachts schrecken sie mich aus Albträumen hoch.

Dennis’ Hand drückt sich tiefer in mein Fleisch. Womit habe ich verdient, dass er so gut zu mir ist und Zärtlichkeit für mich empfindet? Womit habe ich verdient, dass die Kollegen die Schreie hinnehmen, ohne sich daran zu stören? Womit habe ich es verdient, zu leben?

Keiner hier kannte mich, als die Bilder kamen, die Tagträume, die sich wie bei einem am Tourette-Syndrom Erkrankten ihren Ausweg suchen. Zu ihnen kam ich mit den Bildern in meinen Tagen, mit dem gedankenverlorenen Blick hinter dem Lächeln, das mich begleitete, so oft ich es mir auch verbieten mochte.

Für die Menschen hier gehören die Schreie zu mir, wie die Farbe meiner Augen.

Ich hatte versucht, die Bilder und die Schreie zurückzulassen, aber sie waren treu. Sie mochten nicht alleine bleiben in dieser Welt. Sie wollten nicht irgendwo umherschwirren, ohne einen Menschen und seine Erinnerungen, mit denen sie ihn plagen konnten. Sie saßen mit mir im Zug, der mich ins Vergessen fahren sollte.

»Wir sollten heute Abend mal weggehen«, sagt Dennis und bewegt seine Hand dabei. »Vielleicht kommst du dann auf andere Gedanken.«
»Gern«, antworte ich mechanisch. Ich höre seine Worte, aber ob sie mich auch erreicht haben, weiß ich nicht. Auch daran haben sich die neuen Kollegen schon lange gewöhnt. Sie erzählen mir etwas und wissen nie, ob meine Antwort auch bedeutet, dass ich sie gehört habe.
Wie soll ich auf andere Gedanken kommen, wenn ich die, die ich aus mir herausbrülle, nur in einem Wort zusammenfassen kann? Wenn ich nicht einmal weiß, was ich denke, nicht einmal dann, wenn sich die Macht dessen lautstark entlädt?

Dennis ist jung, fast so jung wie die Frau, die in meinen Gedanken spukt. Es tut gut, seine Hand zu spüren, so gut, dass ich weinen möchte. Aber bei der Arbeit darf man nicht weinen. Schon gar nicht vor rührseliger Freude. Deshalb nehme ich seine Hand von meiner Schulter, halte sie dabei ein bisschen zu lange fest, während ich mich zu ihm umdrehe, um ihm ins Gesicht zu schauen.
»Gern«, wiederhole ich meine Antwort, damit er weiß, dass ich nicht nur auf Geräusche reagiere, sondern ihn auch verstanden habe.
Jetzt kann er mich loslassen, sich wieder an seinen Schreibtisch setzen und dort die nächsten Schreie geduldig überhören.

Wie konnte ich diesen Job bekommen? Ist es mir während der langen Bewerbungsgespräche gelungen, die Schreie zu unterdrücken? Hatte ich so kompetent die Bilder überlächeln können? Und wie kann es sein, dass sie hier - trotz allem - mit meiner Arbeit zufrieden sind?

Dennis ist hübsch. Wenn ich es mir wert gewesen wäre, hätte ich schon längst versucht, mich mit ihm zu verabreden. Seit ich hier arbeite, habe ich das Gefühl, ihn morgens zu freundlich zu begrüßen, ihm zu zuvorkommend bei seinen Aufgaben zu helfen oder ihn zu gezielt um Rat zu bitten, wenn ich mich in ein neues Thema einarbeite. Ich freue mich morgens darauf, ihn zu sehen. Seinetwegen komme ich gerne hierher. Darf ich das Gefühl überhaupt haben?

»Woran denkst du?«
Warm strahlen seine Augen im dunklen Licht des Restaurants?
»Im Moment an gar nichts.« Es ist einfach schön, ihm gegenüberzusitzen, ihm zuzusehen, wenn er sich den Schaum des Bieres von den Lippen wischt, während ich an meinem freudlosen Mineralwasser nippe. Wie gern würde ich ihm den Schaum von den Lippen küssen. Ob er das zulassen würde? Es ist besser, ich sehe ihn nicht an.
»Woran denkst du, wenn du schreist?«
Vielleicht sind seine Augen nur so angenehm, weil braun eine warme Farbe ist?
»Ich dachte, ich sollte auf andere Gedanken kommen.« Ich grinse ihn an, hoffe fürchtend, dass er trotzdem auf einer Antwort besteht, denn nur dadurch kann ich ihn vor mir warnen, mich unmöglich genug bei ihm machen und seiner Güte entkommen.
»Du musst es mir nicht erzählen, wenn du nicht willst.«
Warum ist er so verdammt verständnisvoll? Und warum erdreiste ich mich, ihn zu begehren? Was lockt mich an seinen Armen? Sie sind so dünn, dass sie mir unmöglich Halt geben könnten. Und doch wünsche ich mir, in ihnen zu versinken, als ob sie das Selbstmitleid wären, in das die Schuld mich treibt.
»An eine Frau denke ich«, erkläre ich ihm und daran, dass ich es aufgebe, zu grinsen, kann er erkennen, dass ich ihm davon erzählen will.
»Schade.« Er lächelt und nimmt einen Schluck von seinem Bier. »Ist sie wenigstens hübsch?«
Noch hätte ich die Chance, ihm zu entfliehen, ihm irgendeine Geschichte zu erzählen, eventuell über eine Frau, die mich verlassen hätte. Er muss doch bemerken, wie sehnsuchtsvoll ich seiner Hand nachschaue, wenn er sich den Schaum des Bieres nach jedem Schluck vom Mund wischt.
Ich schaffe es, nicht erneut zu lächeln. Warum will ich es ihm erzählen? Damit er mich in die Arme nimmt? Möchte ich, dass er mich bemitleidet, der ich doch kein Mitleid verdient habe? Möchte ich, dass er mir vergibt, obwohl er mir nichts zu vergeben hat? Wenn ich jetzt den Kopf schüttle, denkt er, sie sei nicht hübsch, die Frau. Er hat die Frage zu nah an seiner Bemerkung platziert.
»Sie war hübsch«, antworte ich ernst. »Und sie war bestimmt glücklich.«
Würde die Antwort ausreichen, um mir die Türen offen zu halten, die ich schließen möchte?

Ich sehe sie lachen, wenn sie mit ihren Kindern spielt, kleine Kinder, die sich vertrauensvoll in ihre Arme begeben. Ich sehe, wie sie mit liebevollen Küssen ihre Tränen trocknet, wenn sie sich mit einer Schürfwunde vom Spielen ein Pflaster bei ihr abholen. Und ich sehe sie in zufriedener Sorge hinter den Kindern herschauen, wenn sie einen Stapel Teller ins Esszimmer tragen, um den Tisch für das Mahl zu decken, welches sie zu sich nehmen, sobald der Vater heimkommt.
Wie oft wird sie wohl am Spielplatz auf einer Bank gesessen haben, immer einen Blick zu den Sprösslingen gerichtet, während die Sonne ihr Gesicht beschien und sie sich mit anderen Müttern über das Liebste unterhielt, was sie hatte.
Kein Regentropfen fiel zu meiner Entschuldigung. Keine Sonne, die mich tief stehend blendete. Kein Alkohol, der meine Sinne betrübte. Keine Überstunde, die mich zur Eile zwang. Nicht einmal die Ungeduld des Herzens, welches aufgeregt auf ein Ziel zusteuerte, gab es an diesem Tag.
Ja, es war Tag, ein bisschen bewölkt, aber trocken. Es war ein milder Sommertag, warm genug, um schwimmen zu gehen oder sich an den Tisch eines Straßencafés zu setzen und die Sonne bei einem Eis zu genießen.
Wo war ich mit meinen Gedanken an diesem Tag? Wo in dieser Minute? Schaute ich den Beinen eines hübschen Jungen nach, den ich auf seinem Fahrrad überholte? Genoss ich gerade das Spiel seiner Muskeln, während er in die Pedale trat? Überlegte ich gerade, was ich mir zu essen machen könnte, oder ob ich mich mit Freunden zum Grillen treffen sollte? Verstellte ich gerade die Lautstärke meines Radios oder zündete mir geistesabwesend eine Zigarette an? Ich weiß es nicht. Ich habe keine Entschuldigung für meine Gedanken.
Ich sehe ihr entsetztes Gesicht, sehe weit aufgerissene Augen und einen heftigen Ruck, mit dem sie den Kinderwagen von sich stößt. Ich trete die Bremse doch ich war viel zu schnell gefahren. Ich sehe die Karre, wie sie gegen den Bordstein fährt, und schlingernd umkippt. Ich höre Kindergeschrei, noch bevor der dumpfe Laut ihres Körpers durch meinen Wagen dringt.
»Nein!«

Dennis lächelt nicht mehr. Die Kellnerin hat ihm ein neues Bier gebracht. Er rührt es nicht an. Kein Schaum mehr, den er sich vom Mund wischt, nicht einmal mehr Schaum, der sein Getränk krönt.
Ich bin froh, dass er schweigt, dass er sich mit verschränkten Armen über den Tisch lehnt, damit ich leise sprechen kann. Ich spüre, dass er mich ansieht, auch wenn ich die ganze Zeit auf die Tischplatte stiere. Ich könnte seine Blicke jetzt nicht ertragen, wenn sie sich in meinen fangen würden. Sie dürfen mich berühren, auf meinem Gesicht verweilen und es mit ihrer Wärme beglücken. Wenn er mir aber in die Augen schauen würde, könnte ich kein Wort mehr erzählen.

Wie schafft man es, aus dem Auto zu steigen, nach vorne zu laufen und erste Hilfe zu leisten? Wodurch erlangen wir die Kompetenz, in extremen Situationen richtig zu handeln, so sehr wir auch vorher geschlafen haben?
Ich kann es nicht sagen. Ich kann nicht einmal sagen, was ich alles getan habe. Dunkel erinnere ich mich, gleich zu ihr geredet zu haben. Ich weiß, dass ich einen Krankenwagen gerufen, die Kinderkarre aufgehoben und das Kind zu beruhigen versucht habe. Im Rautekgriff habe ich sie unter meinem Wagen hervorgezogen und dann überprüft, ob sie noch atmete. Sie hat noch gelebt.
Ich erinnere mich an Menschen, die zuschauten und mich beschimpften. Sie hatten ja Recht. Und ich erinnere mich daran, dass ich pinkeln musste. Ich hatte solchen Druck auf der Blase, dass ich zu platzen glaubte. Aber ich konnte nicht pinkeln, nicht zu dieser Zeit, nicht an diesem Ort. Ein Passant half mir, die Frau in die stabile Seitenlage zu bringen, ein anderer stellte sein Warndreieck hinter meinem Wagen auf.
»Danke«, sagte sie, als ich eine Decke aus meinem Wagen über sie legte. Sie war nicht einmal ohnmächtig.
Das Kind hatte aufgehört zu schreien.
»Tut Ihnen etwas weh?«, fragte ich. Welch eine bescheuerte Frage, aber eine bessere fiel mir nicht ein. Sie antwortete nicht, selbst den Kopf schüttelte sie nicht. Fast war mir, als lächelte sie müde. »Der Krankenwagen kommt gleich.« Irgendetwas musste ich sagen. Ich schaute jede Sekunde auf die Uhr, wo er denn bliebe, horchte angestrengt auf die Geräusche, bis ich die erlösende Sirene hörte. Nie habe ich sie so sehr als Geräusch der Hilfe empfunden.
Doch als er da war, als sich die Männer in routinierter Eile mit ihren Koffern zu der Frau knieten, atmete sie nicht mehr.

Jetzt dürfte Dennis gerne etwas sagen. Aber was könnte das sein? Was kann man schon sagen, wenn einem so etwas erzählt wird? Sind da nicht alle Worte erlogen, zu banal, zu hilflos, um irgendetwas zu bewirken? Er sitzt nicht stumm da und schweigt. Langsam bewegt er sich, löst seine Arme von einander und greift mit einer Hand nach meinem Kinn. Widerstandslos lasse ich meinen Kopf von ihm bewegen, solange, bis sie sich doch ineinander verfangen können, unsere Blicke.

Ich sehe die Blicke, die sich in meinen verfangen wollen, als der Anwalt das Plädoyer spricht. Blicke voll von schmerzgepeinigtem Hass, auf mich gerichtet, während ich vor Scham die Hände vor mein Gesicht halte. Ich sehe entsetzte Blicke bei der Urteilsverkündung. Geld für ein Menschenleben, für eine Mutter, die von ihren Kindern für immer schmerzlich vermisst werden wird. Und ich spüre, dass die Erleichterung, die mich bei den Worten des Richters befällt nicht von Dauer sein wird. Kann man wirklich für Schuld bezahlen?
Woher nehme ich den Mut, zu dem Mann zu gehen, zu seinen Kindern, ihnen meine Hand zu reichen und zu sagen, wie Leid es mir tut? Hätte ich mich nicht auch fortgedreht an seiner Stelle, die Hand ausgeschlagen? Vielleicht wird er mir irgendwann verzeihen und mir auch aus der Nähe in die Augen schauen können. Könnte ich das?

Es muss komisch aussehen, wie Dennis mein Gesicht hält und dabei schweigt. Noch weniger, als ihm in die Augen zu schauen, wage ich, seinem Blick auszuweichen.
»Lass uns zahlen«, sagt er schließlich, als er mich loslässt. Ich atme auf und stimme ihm zu. In der Routine des Zahlens kann ich die Scham verdrängen, die Bilder wieder in die Tiefen der Seele bannen, in der sie sich zu schreienden Gedanken entwickeln. Morgen, wenn ich wieder am Computer sitzen werde. Vielleicht wird Dennis dann nicht mehr seine Hand auf meine Schulter legen.
Ich beginne wieder zu lächeln, als die Bedienung uns noch einen schönen Abend wünscht. Auch Dennis lächelt sie an und folgt mir nach draußen.
Wenn man aus Kneipen kommt, atmet man immer erst einmal tief durch. So als ob man den Rauch aus sich herauspressen wollte, den Lärm, dem man entkommen ist. Fast jeder, der die Tür aufgestoßen hat und in die frische Luft tritt, bleibt noch einen Moment lang stehen, als ob er sich vom Stress der Entspannung erholen müsste. Ich bleibe stehen und drehe mich nach Dennis um. Er muss in die andere Richtung. Ich druckse ein bisschen herum, weiß nicht, wie ich mich verabschieden soll. Am liebsten möchte ich mich entschuldigen, für das, was ich ihm in der Kneipe erzählt habe. Vielleicht geht es ihm auch so. Jedenfalls bleibt er unentschlossen stehen, atmet zweimal tief durch. Dann legt er mir die Hand auf die Schulter, als ob er »lebe wohl« sagen wollte und fragt: »Kommst du noch mit zu mir?«

 

Hi Seaman,

wir hatten ja lange nicht das Vergnügen. :)
Schön, dass du dich noch geäußert hast, obwohl die Geschichte schon abgeschickt ist.
Einige Rezenssenten wollten am Schluss ja sogar noch streichen. Er braucht schon einen Übergang. Andererseits entsteht eben gerade vor der Kneipe, wenn das eine Thema zwar abgeschlossen noch in den Köpfen ist, eben oft diese Ratlosigkeit, was noch mit dem angebrochenen Abend anfangen, die eben schnell zu diesem Standard Anspruch führt.

Die vielen Dank und einen lieben Gruß, sim

 

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