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Blickstarre

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12.07.2002
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Blickstarre

Blickstarre

Als ich meine Augen erhob, um der Bedienung ein dankbares Lächeln zu schenken, fing ich den Blick von der Seite auf. Es war einer dieser Blicke, der automatisch die Frage aufwirft: „Zufall“, oder „Absicht“? Also schaute ich nochmals zum anderen Tischende, als ich mein Glas an die Lippen hob.

Es war kein Zufall. Sie sah mich an. Nein, das beschreibt es nicht richtig. Sie starrte mich an. Ganz ruhig sah sie in meine Augen. Sie zwang mich, die meinen zu senken. Es war diese Art von Blick, den man mehr fühlt, als dass man ihn klar sehen kann.

Sie saß im Halbschatten. Die Abendsonne wurde von dem Stück Mauer zwischen zwei Fenstern abgehalten. Vor und hinter ihr war es heller im Raum.

Ich kannte niemanden in diesem Gasthof. Weder die Frau am anderen Ende des Tisches, noch die vier Personen, die zwischen uns am langen Tisch saßen, je zwei an den Längsseiten. Es war mein erster Besuch hier. Mein Rücken schmerzte und die Hände waren noch rot vom Saft der geernteten Trauben. Ganz früh am Morgen hatte ich mich aus dem hinteren Passeier Tal auf den Weg nach Meran gemacht. Ein Nachbar ließ mich auf seinem Pferdewagen mitfahren. Für einen Bauern wie mich gab es am Berg keine Arbeit mehr. Hier unten im Tal war noch warmer Herbst, während es bei uns oben bereits einige Male in der Nacht schneite. Es war auf unseren steilen Feldern nichts mehr zu tun und die letzte Milchkuh musste ich verkaufen, um überleben zu können. Hier im Tal konnte ich bei der Weinlese ein bisschen was verdienen. Sie brauchten in diesen Wochen immer alle verfügbaren Hände, um die Ernte schnell einzubringen. Längst hatte ich aufgehört zu zählen, wie oft ich mit dem leeren Eimer den steilen Hang hochgestiegen, mit schnellen Schnitten die überreifen Früchte abgeschnitten habe, um dann den vollen Eimer in den großen Trog zu kippen. Was ich aber nach der Arbeit deutlich spürte, war meine Muskulatur, die verspannt war, und der Durst, der mich plagte.

Ihr Blick ruhte auf mir, als ob sie mich hypnotisieren wollte. Ich leerte das erste Glas in einem Zug.

Die beiden Männer, die links und rechts von mir am Tisch saßen, waren in eine heftige Diskussion vertieft. Es ging um die Frage, die in diesem Herbst die Gemüter im Südtirol erhitzte: Dableiben, oder das Land verlassen? Der Teufelspakt, den Hitler und Mussolini geschlossen hatten, verlangte von den Südtirolern eine eindeutige Entscheidung. Wer blieb, wurde welsch und musste seine deutschen, oder österreichischen Wurzeln verleugnen. Wer sich zum Gehen entschied, bekundete die Treue zum Führer, und ihm wurde als Belohnung für seine Loyalität eine neue Heimat versprochen. Ob in Polen, oder im Burgund wusste keiner so genau. Auch von der Insel Krim war die Rede. Ich hätte mich gern in die Diskussion eingeschaltet, aber ich fühlte mich von der Frau am anderen Ende des Tisches beobachtet. Und in unsicheren Zeiten war es grundsätzlich klüger, sich nicht in fremde Gespräche einzumischen. Außerdem hatte ich mir zum damaligen Zeitpunkt sowieso noch keine feste Meinung zu diesem Thema gebildet. Ja, als ich dreiundzwanzig Jahre jünger war, entschloss ich mich zu gehen. Und die Entscheidung war damals richtig. Aber heute? Die Zeiten hatten sich geändert. Der zweite Weltkrieg tobte in Europa und jede Zukunft war ungewiss. Als Optimist tendierte ich mehr dazu, zu bleiben. Aber sicher war ich mir noch nicht.

Ich fixierte sie jetzt meinerseits mit den Augen. Was wollte sie von mir? Sie war die einzige Frau am Tisch. Irgend wie kam sie mir bekannt vor, aber ich konnte sie nicht zuordnen. Zwischen ihr und mir saßen außer den beiden Bauern noch zwei Männer, die wahrscheinlich eher dem bürgerlichen Lager zuzuordnen waren, jedenfalls soweit man das aus ihrer Kleidung schließen konnte und daraus, dass sie es sich leisten konnten, Zigarren zu rauchen. Sie schien – wie ich – allein zu sein. Jedenfalls beteiligte sie sich nicht am Gespräch mit ihren Sitznachbarn. Ich konnte auch nicht feststellen, dass sie den Kopf dem einen, oder dem anderen zugewandt hätte. Sie blickte konstant in meine Richtung.

Sie senkte ihre Augen nicht. Im Dämmerlicht konnte ich nicht feststellen, ob der starre Blick durch ein gelegentliches Blinzeln unterbrochen wurde. Aber ich spürte, dass er mich wie eine eiserne Klammer fest hielt. Das machte mich nervös.

Soweit ich es erkennen konnte, war ihr Gesicht ebenmäßig geschnitten, aber ausdruckslos und flach, wie das Antlitz einer Puppe. War es der starre Blick, der das Mienenspiel blockierte? Ich schätzte sie auf etwa fünfundvierzig Jahre. Also mindestens zwanzig Jahre jünger als ich. Aber ich konnte mich natürlich irren. Ich bildete mir in meinen jungen Jahren zwar etwas darauf ein, den Kurvenreichtum einer rassigen Frau richtig zu taxieren, aber das Schätzen des Alters war nie meine Stärke.

Der Blickkontakt wurde kurzzeitig unterbrochen, wenn sich zwei Gäste zuprosteten, oder wenn die Bedienung sich über den Tisch beugte, um zu servieren. Oder er wurde vernebelt, wenn einer der Herren den Rauch seiner Zigarre genussvoll ausblies. Doch er wurde von ihr sofort wieder aufgenommen. So, als ob sie die Störung gar nicht bemerkt hätte.

Jetzt traf mich ihr Blick nicht mehr genau in den Augen. Sie zielte auf einen Punkt etwas weiter unten. Auf meinen Mund? Oder hatte sie die Narbe an meinem Kinn entdeckt? Unwillkürlich verdeckte ich das Kinn mit der Hand. Die Narbe hatte ich mir als Kind zugezogen, als ich unglücklich hinfiel. Bei diesem heißen Wetter rötete sie sich und sah dann fast wie eine frische Verwundung aus. Vielleicht schloss sie daraus, ich sei ein Draufgänger? Da hätte sie sich aber schwer geirrt.

‚Wenn sie etwas will von mir, soll sie doch zu mir kommen und mir sagen, worum es geht’, dachte ich. Ich bin kein Mensch, der auf Andeutungen, oder vage Zeichen reagiert. Ein Mensch wie ich liebt klare Aussagen. Danach kann ich mich richten. Wer um den heißen Brei herum redet, macht mich unsicher. Auch wenn das Reden nur mit den Augen geschieht.

War es vorhin schon so heiß in dieser Gaststätte? Jedenfalls war es mir davor nicht aufgefallen. Ich zog meine Jacke aus und hängte sie über die Lehne des Stuhls, auf dem ich saß. Dass die beiden vornehmen Herren am Tisch ihre Krawatten nicht lockerten, konnte ich nicht verstehen.

Mir war klar, dass ich als Mann für eine Frau in den besten Jahren nicht mehr attraktiv war. Dafür war ich zu alt und zu verbraucht. Selbst wenn sie Interesse gehabt hätte, wäre mir nicht danach zu Mute gewesen. Ich hatte in diesem Kriegsherbst ganz andere Sorgen, denn der Winter stand vor der Tür. Und er sollte hart und lang werden! Früher war ich anders. Als junger Mensch suchte ich sehr wohl nach Abenteuern bei Frauen. Dabei riskierte ich oft weit mehr, als meine Altersgenossen.

Obwohl ich kaum noch Geld in der Tasche hatte, bestellte ich noch ein Glas Wein. Mehr aus Verlegenheit. Ich fühlte mich unbehaglich.

Die Frau rührte sich nicht von der Stelle. Man brachte ihr die Suppe. Sie löffelte mechanisch. So, als diente die Suppe nur als lästige Nahrungsaufnahme. Welch ein Frevel, in diesen Kriegsjahren, wo alles so knapp war!

Ihre Augen wandten sie nicht von mir ab.

Die Abendsonne war weiter gewandert. Sie tauchte jetzt die rechte Gesichtshälfte der Frau in rotgoldene Farbe. Die andere Seite des Gesichtes blieb im Schatten. Die Trennlinie verlief – wie mit einem Lineal gezogen – von der Stirne über die Nasenspitze bis zum Kinn. Das jetzt vom Licht neu gezeichnete Relief wirkte lebendiger, greifbarer.

Und dieses Bild bewirkte, dass in mir die Erinnerung geweckt wurde.

Dieses Gesicht hatte ich schon einmal gesehen. Es war damals genau so einseitig von der Sonne beschienen. Die junge Frau saß im Gerichtssaal, etwas abseits. Sie gehörte nicht zu den üblichen Gaffern, die ein Gerichtsverfahren als abwechslungsreiches Spektakel ansehen. War sie vielleicht eine Studentin, die sich speziell für die juristische Seite meines Falls interessierte?

Später fand ich heraus, dass es die Frau des jungen Richters war, der mich mangels Beweisen freisprechen musste. Im Lokalteil der Zeitung wurde über die Hochzeit der beiden berichtet und ein Foto war dabei. Darauf erkannte ich sie wieder.

Ich war natürlich erleichtert, als ich das Urteil entgegennahm. Und auch stolz. Immerhin war es mir gelungen, die Justiz auszuhebeln und einen Mord auszuführen, ohne Spuren zu hinterlassen. Aber, bei meiner Ehre: diesen Halunken Profanter konnte ich nicht ungestraft laufen lassen! Er verbreitete überall in dem Städtchen das Gerücht, dass ich ein Prahlhans und Schlappschwanz sei. Der Schlag, den ich ihm versetzt hatte, als er in jener Nacht von der Kneipe auf seinen Hof zurück torkelte, hatte genügt, ihm die Arroganz für immer aus dem Gesicht zu blasen.

Der Tumult im Saal bei der Urteilsverkündung war unbeschreiblich. Ich war kein beliebter Mann in der Stadt und hatte viele Feinde. Und die hatten sich alle eingefunden um zu sehen, wie ich verurteilt würde. Wütend reckten sie ihre Fäuste gegen den jungen Richter, der mich frei sprach.

Mein Fall war das gefundene Fressen für die Lokalpresse. Die Leser waren es müde, immer nur aufgeblähte Meldungen über Kriegserfolge gegen Österreich-Ungarn zu hören. „Mein Mord“ brachte es in der Kleinstadt aufs Titelblatt. Pro- und Contra-Argumente wurden mit Vehemenz diskutiert. Manchmal auf Ebene der Juristen, dann waren die Artikel mit Fachchinesisch gespickt und fad. Manchmal auf der Ebene der normalen Bürger. Diese Kommentare waren vielleicht weniger stichhaltig, dafür aber mit mehr Würze geschrieben.

Leider konnte ich die Reaktionen meiner damaligen Mitbürger nicht persönlich beobachten, denn – aus Sicherheitsgründen – hatte ich mich entschlossen, das Städtchen sofort nach der Urteilsverkündung zu verlassen und im hintersten Passeiertal unterzutauchen. Ein Freispruch bedeutete noch lange nicht, dass meine Feinde Ruhe gaben! Zumal sie sich durch das Urteil von der Obrigkeit hintergangen fühlten.

In diesem abgelegenen Winkel fand ich genügend Muße, um über das, was ich getan hatte, und über das, was die Gesellschaft aus meiner Tat machte, nachzudenken.

Es war ja nie Absicht, den Profanter umzubringen. Ich wollte ihm einfach eine Lektion erteilen und ihm das Maul stopfen. Mehr nicht. Von einem geplanten Totschlag konnte nicht die Rede sein. Trotzdem war es selbst für mich eindeutig, dass die Justiz meinem Fall nicht die gebührende Sorgfalt angedeihen ließ. Das bedeutete zwar für mich „Freispruch“, aber meinem Gerechtigkeitssinn wurde damit nicht Genüge getan. Gut, es gab damals natürlich wichtigere Probleme, die auf den Fingern brannten: Die Südtirol-Offensive der Österreicher. Die Front war in greifbare Nähe gerückt und Regierung und Verwaltung hatten alle Hände voll zu tun, um sich auf den Angriff vorzubereiten. Für einen kleinen Prozess blieb nicht viel Zeit übrig.

Entsprechend kurz und substanzlos waren die Zeilen, die in der Zeitung als Antwort auf die wütenden Leserbriefe veröffentlicht wurden. Und je mehr der Richter und seine Juristen durch das Volk in Bedrängnis kamen, desto vehementer wurden die Bezeugungen seitens der Behörden, dass alles mit rechten Dingen zugegangen sei. Es durfte keinesfalls in der Öffentlichkeit der Eindruck entstehen, dass der junge Richter mit diesem Fall überfordert war. „Hätten wir mit einem anderen Urteil den Profanter wieder zum Leben erwecken können?“, war einer dieser einfältigen Kommentare, die den Unmut der Bürger noch mehr anheizten, statt Ruhe in die Angelegenheit zu bringen.

In meiner einsamen Hütte fühlte ich mich absolut sicher. Nahe der Grenze gab es viele zwielichtige Gestalten und Schmuggler. Keiner kümmerte sich um den anderen. Jeder war froh, wenn er selbst in Ruhe gelassen wurde.

Aber ich begann mich zu langweilen. Die Lokalzeitung, die ich mir täglich im Dorf besorgte, war für mich die einzige Abwechslung. Die heuchlerischen und falschen Aussagen der Behörden ärgerten mich bis ins Mark und eines Tages schickte ich, unter einem Pseudonym, meinen ersten Leserbrief an die Zeitung, um meinem Ärger über das verlogene Pack Luft zu machen. Er wurde tatsächlich abgedruckt! Und wie die Reaktionen darauf zeigten, hatte ich noch mehr Öl ins Feuer geschüttet. Die verbalen Angriffe auf den jungen Richter wurden immer heftiger. Ich glaube sogar, dass es dann einer meiner weiteren Leserbriefe war, der das Fass zum Überlaufen brachte: Der Richter wurde seines Amtes enthoben und nach Sizilien versetzt.

Für mich war damals die Sache abgeschlossen. Ich übernahm ein kleines Bauerngut von einem, der es vorzog, ins Tal zu ziehen. Die Arbeit war mühsam und das Einkommen karg – aber ich war glücklich.

Ihr Blick ruhte immer noch auf mir und ließ meine Vergangenheit hinter mir aufsteigen, wie der Geist aus der Flasche. Die Angst wurde immer größer und bedrückender. Die Sonne war untergegangen und ihr Gesicht wurde jetzt von einer tief gezogenen Lampe mit einem Schirm aus vergilbtem Pergament beleuchtet. Dieses Licht, das jetzt von vorne kam, hob die Augen noch stechender aus ihrem Gesicht hervor.

Was wollte sie von mir? Ich ertrug den Druck nicht mehr, stand auf und ging zu ihr.

„Sie waren damals bei der Urteilsverkündung dabei.“ Ich ging aufs Ganze.

„Ich habe Sie sofort wieder erkannt. Sie haben mein Leben verändert“, antwortete die Frau völlig ruhig. Sie hatte offensichtlich darauf gewartet, dass ich sie ansprechen würde. Sie wusste, dass sie am längeren Hebel saß.

„Ihr Leben verändert?“ fragte ich überrascht. Ich verstand nicht, was sie damit meinte. Ich zog einen Stuhl heran und setzte mich neben sie.

„Sind Sie ‚Fritz Damm’?“ Vielleicht hatte sie meine Frage überhört.

„Sie kennen doch aus dem Prozess meinen Namen! Ich bin Franco Domenico.“

„Natürlich weiß ich das, aber unterzeichnen Sie Ihre Leserbriefe mit ‚Fritz Damm’?“

Verdammt, warum war ich so eitel und habe mir ein Pseudonym ausgedacht, das die Initialen meines richtigen Namens enthielt? Wenigstens hatte ich daran gedacht, meinem italienischen Namen einen deutschen Anstrich zu geben. Aber was hat es genützt?

„Ja, dieses Pseudonym benutze ich“, gab ich unumwunden zu.

„Ich wusste es. Nur Sie als Täter konnten diese Informationen kennen, die Sie in Ihren Leserbriefen versteckt untergebracht hatten.“

“Sind Sie Kriminalistin?“

„Nein, aber ich war die Frau des jungen Richters, der Sie freigesprochen hat. Ich bin Journalistin.“

„Sie ‚waren’ seine Frau?“

„Trinken Sie einen Wein mit mir?“ Ohne eine Antwort abzuwarten bestellte sie bei der Bedienung eine Karaffe Rotwein und ein neues Glas für mich. „Ja, ich habe mich kurz nach seiner Entlassung aus dem Richteramt von ihm scheiden lassen. Ich ertrug die Schmach nicht, der er mich ausgesetzt hatte. Können Sie sich vorstellen, welchen Status man in der Gesellschaft als ‚Ehefrau des entlassenen Richters’ in einer Kleinstadt hat? Sie werden zwar auf der Straße nicht öffentlich bespuckt, aber jeder tuschelt über sie. Es war zuviel für mich. Ich kam mir vor, als hätte man mich an den Pranger gestellt.“

„Das tut mir leid für Sie“, sagte ich ehrlich betroffen, „aber was wollen Sie jetzt von mir?“ Mein Bauernhirn arbeitete zu träge, um die Gedankengänge dieser Frau sofort zu verstehen.

„Die Aufgabe eines Richters sollte doch darin bestehen, Recht zu sprechen. Und das auf Basis herrschender Gesetze.“ Als ob sie nach Worten für eine Fortsetzung ihrer Erklärung suchte, drehte sie das volle Weinglas in ihren Händen und beobachtete die kleinen Wellen auf der Oberfläche des Weins. „Was mein Mann in Ihrem Fall tat, hatte damit nichts zu tun. Er sprach Sie nur deshalb frei, weil er Angst hatte.“

„Angst vor wem?“

„Darüber möchte ich nicht sprechen. Akzeptieren Sie es bitte einfach als die Wahrheit.“

„So einfach werde ich es Ihnen nicht machen! Sagen Sie mir, wovor sich Ihr Mann fürchtete.“ Meine Stimme wurde sicherer, als ich den Schwachpunkt bei ihr aufgedeckt hatte.

„Haben Sie Profanter näher gekannt?“

„Nein. Ich wusste nur, dass er mich verhöhnte. Und das reichte mir vollkommen aus, um ihm die Fresse zu polieren.“ Ich fühlte noch einmal die Wut in mir aufsteigen, als ich an diese Situation mit Profanter denken musste. „Was war denn mit ihm?“

„Ich sage es mal vorsichtig: Profanter war ein Regimegegner.“

„Dann waren die also recht froh, dass ich den Störenfried aus dem Weg räumte, ohne dass sich unsere Oberen die Hände schmutzig machen mussten?“

„Ja, so können Sie es sehen. Aber fragen Sie mich bitte nicht nach näheren Details. Dazu möchte ich mich wirklich nicht äußern.“

„Ich frage nicht mehr weiter, wenn Sie mir jetzt endlich sagen, was Sie von mir wollen!“ Ich konnte meine Neugier nicht weiter zügeln.

„Können Sie sich das nicht zusammenreimen?“ Sie schlug mit der flachen Hand ungeduldig auf die Tischplatte. Unsere beiden Gläser, die dicht nebeneinander standen, klirrten, als ob diese damit den Unmut unterstreichen sollten. „Ich werde als Journalistin die Wahrheit in einem Buch darlegen. Schonungslos und offen. Und dazu benötige ich Ihre Hilfe.

Sie besuchte mich am nächsten Tag im Passeiertal. Auf der Terrasse, in der goldenen Oktobersonne, erzählte ich ihr meine Version des Falles.

Es war ein seltsames Gefühl, sich quasi selber schuldig zu sprechen und dabei gleichzeitig den Richter zu beschuldigen. Doch die Wahrheit ist das einzige, was auf Dauer Ruhe verschafft.

 

hallo Ernst,

leider kenne ich nun die Ursprungsversion nicht und möchte daher auch nicht in die Diskussion einsteigen. Die Geschichte hat eine starke Anziehungskraft; sie läßt einige wenige Elemente aus einer historischen Umwälzung sich im Leben von vier Menschen zu einer großen Spannung verdichten. So, wie Du sie erzählst, ist die Stimmung sicher in Dir und es ist in Ordnung. Ich könnte mir diese Geschichte auch mit viel weniger gedanklicher Retrospektive, mehr unerklärter Spannung und deren Lösung im Dialog am Schluß vorstellen. Aber das wäre eine gänzlich andere literarische Form.

Gruß Set

PS: Ich habe es immer gewußt: Beamte sind keine Helden, sondern Opportunisten. Die kommmen manchmal unter die Räder, wenn der Wind dreht.

 

hallo set,

du wirfst einen interessanten aspekt auf: die geschichte OHNE die rückblenden zu schreiben. wie könnte das funktionieren? ich hatte diese rückblenden eingefügt, um der geschichte eine gewisse nachvollziehbare logik zu geben. die handlung musste in den geschichtlichen rahmen passen. es wäre interessant für mich zu erfahren, wie du die geschichte aufziehen würdest

beamte sind keine helden? ich gehe sogar noch einen schritt weiter und behaupte, dass beamte das genaue gegenteil von helden sind. warum? überspitzt ausgedrückt:
- sie haben einen bombensicheren arbeitsplatz
- ihre kunden (=bürger) müssen automatisch zu ihnen kommen (also keinerlei akquisition erforderlich)
- sie haben alle ihre "machtinsignien" (=stempel)
- ohne sie geht nix!

wozu also MUT, INITIATIVE einsetzen?


herzliche grüße
ernst

 

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