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Bruderschmerz

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14.08.2008
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Bruderschmerz

Andreas ist kein schlechter Mensch, auch wenn er das denkt.
Wenn er breitspurig ins LKA kommt, die Motorradjacke über die Schulter geworfen und das Zitronenbonbon durch die Mundwinkel schiebt wie John Wayne den Zahnstocher, dabei selbst in Turnschuhen so fest auftritt, dass das Linoleum erzittert, schließen sich Türen und Köpfe verschwinden hinter Aktenstapeln – mir selbst ging es nicht anders, als ich ihn das erste Mal traf. Und auch er selbst glaubt wahrscheinlich, dass er nur sein wahres Wesen nach außen transportiert, wenn er raunzt und poltert, über menschliche Kollateralschäden referiert, und darüber, dass das Leben wahlweise kein Ponyhof, kein Wunschkonzert oder keine Quarantänestation für Klosterschüler sei.
Sein wahres Wesen sitzt neben meinem Krankenbett, das Gesicht in die Hände gestützt, damit die Enkel meines Zimmernachbarn, eines vorgealterten Bulgaren mit Kniegelenksersatz, nicht sehen, dass er weint.

Mit mir rechnet er nicht, zumindest gibt er sich keine Mühe, seinen Zustand zu verbergen. Vielleicht glaubt er, die Narkose wirke noch nach, oder ich sei von den vielen Schmerzmitteln benebelt. Dabei halte ich nur die Augen geschlossen und atme ruhig, um ihn nicht zu beschämen, ihm Zeit zu geben, sich zu fangen.

Es hätte eigentlich ein Routineeinsatz sein sollen: ein großer Fisch hing so gut wie am Haken. Er war im unbewohnten leerstehenden Obergeschoss einer Großküche ausgemacht worden.
Wir umstellten die Halle, die seinem Komplizen gehörte, in den frühen Morgenstunden. Sondereinsatzkommando und Beamte der Kriminalpolizei sicherten alle Ausgänge, Andreas und ich inspizierten die Lage im Hinterhof, wo die Großmüllcontainer mit Essensresten auf einer Rampe zur Abholung bereit standen. Die Lage zeigte sich anders als auf den Plänen, die der Einsatzleiter organisiert hatte. Andreas musste mehrere Beamte anweisen, die Plätze zu wechseln.
Ich weiß nicht mehr genau, was danach passierte. Vielleicht rutschte jemand auf dem vereisten Pflaster aus, vielleicht hatten wir einen Bewegungsmelder übersehen, jedenfalls tauchten plötzlich Halogenscheinwerfer den Hof in taghelles Licht. Geblendet schirmte ich das Gesicht ab, als Andreas hinter mir „Achtung!“ brüllte.

Der Arzt sagte mir später, unser Fisch sei aus einem Fenster auf den offenen Müllcontainer gesprungen, und dieser sei mit ihm zusammen ins Rutschen geraten, die Rampe hinunter gestürzt und habe mich unter sich begraben.
Er sagte auch, dass Andreas ganz allein den Container aufgerichtet habe; dass er weiß wie eine Wand geworden sei, als er von Anette die Diagnose „Wirbelsäulenbruch“ gehört habe.
Anette muss ihn auf dem Krankenhausflur angeschrien, ihm Vorwürfe gemacht haben, dass er die Verantwortung gehabt hätte als mein Freund, als der Erfahrenere, der Dienstältere, dass es seine Schuld sei. Mich wundert, dass sie ihn nicht geschlagen hat. Sie war schon immer ein Hitzkopf.

Später, so sagte sie, hätte sie sich gerne entschuldigt. Doch da hatte Andreas sich längst zurückgezogen, anderthalb Flaschen Wodka geleert und eine Packung Oxazepam geschluckt.
Sein Bruder Kilian und Selma hatten ihn am Abend gefunden und ins gleiche Krankenhaus wie mich gebracht, wo man ihm den Magen ausgepumpt hatte.
Ich weiß nicht, was Kilian den Ärzten erzählt hat, dass Andreas am nächsten Morgen schon wieder gehen lassen wollten. Zumindest berichtete er dies, als sie direkt von der Notaufnahme kamen, um nach mir zu sehen. Man hatte sie auf den Flur geschickt, sie störten nur in der engen Behandlungskabine, sie müssten sich gedulden, man könne noch nichts Genaues sagen, Ruhe sei für alle das Wichtigste, noch sei nichts zu spät.
Wie sollten sie ruhig bleiben, wenn der Geruch von Andreas´ Verzweiflung sich mit dem eigener Hilflosigkeit mischte?

Ich war bereits am späten Nachmittag aus dem Aufwachraum zurück in das Zweibettzimmer gebracht worden. Ich hing noch am Tropf, doch war ich schon wach und widmete mich dem Abendessen, das die Nachtschwester mir gerettet hatte.
Letztlich hielt ich mich an Butterbrot mit Tomate und Gurke, und schubste den Schinken an den Tellerrand, nicht, weil er nicht koscher war, sondern wegen seiner gelblichen Verfärbung.
Als die Tür aufging, rechnete ich mit dem Pillenrundgang, und war entsprechend überrascht, dass sich statt der kleinwüchsigen, hektischen Nachtschwester Selmas Kugelbauch hereinschob, gefolgt von Kilians Rollstuhl.
Bis vor zwei Jahren hatte jeder geglaubt, zwischen Andreas und der türkischen Fotografin sei viel mehr, als zumindest Selma kokett lächelnd glauben machen wollte. Dann hatte sie Kilian kennen gelernt, und fortan zeigte Andreas kein Interesse mehr an ihr. Ausgerechnet er, der über aktuelle oder mögliche Liebschaften so eifersüchtig wachte, wie ein Löwe über seinen Harem.
Kilian manövrierte fahrig, dennoch ohne anzustoßen in die schmale Lücke zwischen Bett und Fenster. Im Neonlicht wirkte er nach blasser, als er ohnehin schon war, fast grau; seine dunklen Augen sorgenverhangen.

Sie erzählten, wie sie Andreas gefunden hätten. Ich verstand es nicht.
„Er hat sich die Schuld gegeben, deswegen“, meinte Kilian schließlich.
Ich schwieg. Was sollte ich sagen? Dass so etwas in unserem Beruf vorkommt? Dass er froh sein solle, schließlich lebte ich noch? Das schlechte Gewissen ist ein Ignorant, es entzieht sich jeder Einflussnahme.
„Das gleiche noch einmal … es war zu viel für ihn.“
Ich ahnte schon, dass nun eine Geschichte folgte, die ich nicht hören wollte, die mich nichts anging, und die Kilian doch erzählen würde. Vielleicht fühlte er sich verpflichtet, um mir die Schuldgefühle zu nehmen, Andreas‘ Zusammenbruch ausgelöst zu haben. Schuldgefühle, die ich nicht hatte, weil ich noch damit beschäftigt war, die Nachricht zu verdauen, dass er beinahe an seinem Erbrochenen erstickt war.

„Damals, fünfundneunzig, als ich den Unfall hatte … ich durfte ihn begleiten, auf den neunzehnten Geburtstag seines Freundes. Eigentlich hielten unsere Eltern mich für zu jung, mit fünfzehn, allzumal bei seiner Clique. Andreas hat es ganz schön wild getrieben, damals, mit Alkohol, und in getunten Autos nach Berlin fahren, sich dabei Rennen auf der Autobahn liefern, und so … Trotzdem hielten sie es für besser, dass ich halbwegs unter seiner Aufsicht stand als allein zuhause zu bleiben, sie selbst wollten ins Theater … Er hat sich sehr verändert, danach.“
Er sprach ganz anders als Andreas; leiser, gestikulierte kaum. Als ich die beiden zum ersten Mal zusammen sah, hätte ich Kilian nie für Andreas‘ Bruder gehalten. Wenn Kilian etwas nicht ertrug, würde er nie Aggressionen nach außen wenden, oder gegen sich selbst. Er legte seinen Dämonen Zügel an und spannte sie vor seinen Körper. Ein Jahr nach dem Unfall hatte er mit Leistungssport begonnen. Dieses Jahr ist er ins paralympische Schwimmteam berufen worden.

Während ich in Gedanken abgeschweift war, hatte Kilian weitergesprochen, vielleicht auch geschwiegen, ich weiß es nicht. Ich übte mich in einem verständnisvollen Gesicht und versuchte, gedanklich an das Gesagte anzuknüpfen.
„Unsere Eltern wollten mich nach dem Theater abholen. Ich wartete bereits unten auf der Straße auf sie. Andreas war während der ganzen Party wirklich darauf bedacht, dass ich nicht zu viel Blödsinn machte. Aber auf die Straße kam er nicht mit hinunter, obwohl es schon über die vereinbarte Zeit war. Fast eine halbe Stunde habe ich mir die Beine in den Bauch gestanden, was habe ich geflucht ... ja, und dann, als ich mich schon fragte, ob sie mich vergessen hätten, kam mein Vater …“
Die Worte steckten als heiseres Quaken in seiner Kehle fest, er presste die Lippen aufeinander. Vermisste er jetzt die schmerzenden Füße?
„Du kannst es ruhig sagen“, platzte Selma heraus. „Er hat getrunken, dein Vater, deswegen hat er die Kontrolle über den Wagen verloren.“
„Es gab nie eine Anzeige!“
„Ja rate mal, warum. Roland Beck, angehender Oberstaatsanwalt und ganz dicke mit dem Polizeichef befreundet. Da kann der Alkoholtest schon mal versagen, oder?“
„Ein anderes Auto hat ihm die Vorfahrt genommen. Er hatte keine Chance, Alkohol hin oder her.“
„Wie praktisch, dass man den Fahrer nicht ausfindig machen konnte.“
„Vergiss nicht“, sagte Kilian, auf einmal sehr ruhig, „ich war dabei.“
Selma schnaubte verächtlich, doch sie sagte nichts mehr.
„Jedenfalls hat Andreas sich Vorwürfe gemacht, dass er in der Wohnung geblieben war. Dabei hätte er es doch nicht verhindern können …"

Wenig später ging Selma, Kilian blieb noch einige Minuten.
„Sag Andreas, dass alles in Ordnung ist“, bat ich ihn. „Die Nerven wurden nicht geschädigt, und die Ärzte konnten die Wirbelkörper mit Beton aufspritzen. Übermorgen werde ich wieder entlassen.“
„Wenn er schon wieder wach ist – oder irgendetwas versteht, was ich ihm sage. Ich glaube, im Moment ist er zu sehr mit sich selbst beschäftigt.“
Er gab mir seine Handynummer.
"Falls du heute noch irgend etwas erfährst ..."
"Ich melde mich auf jeden Fall. Ach, Kilian ... wurden damals eigentlich die Partygäste überprüft? Es könnte ja einer der Autofreaks gewesen sein."
"Niemand hat nach mir die Feier verlassen. Sie schworen Stein und Bein darauf."
Ich wusste zu gut, wie viel ein solches Alibi wert war. Wodka und Schlaftabletten erzählten anderes.

Nun sitzt Andreas an meinem Bett, noch immer in den Kleidern, die er beim Einsatz trug, unrasiert, nach Schweiß und Magensaurem riechend, mit rotem, aufgedunsenem Gesicht. Der raumfüllende Andreas ein zerknittertes Nichts.
Die bulgarischen Enkel gehen, und ich öffne die Augen.

„Hallo Andreas!“
Er sieht so überrascht auf, als habe ein Toter mit ihm gesprochen.
„Mach dir keine Sorgen“, sage ich, ohne dass er gefragt hat. „Es ist alles in Ordnung. Es geht mir gut.“
Der Alkohol muss trotz Entgiftung noch nachwirken; es arbeitet merklich hinter seiner Stirn, bevor er schwerfällig nickt. Ich bestätige es ihm lieber noch einmal.
„Mit Anette ist alles in Ordnung?“
„Sie hat sich wieder beruhigt.“
„Es tut mir Leid, Jan“, sagt er endlich.
„Das muss es nicht. Ist ja nichts passiert, Morgen werde ich entlassen, dann lege ich zuhause ein paar Tage die Füße hoch, und am Montag komme ich wieder ins LKA.“
Er scheint nicht zu hören. Schließlich boxe ich ihn gegen die Schulter.
„He, bei dir alles klar?“
Er schüttelt den Kopf, als könne er die Betäubung abschütteln wie ein Hund den Regen aus dem Fell. „Du hast ausgesehen wie er, weißt du das? Unter dem Müll … genau so lag er.“ Er lacht, ein tonloses, schweres Schnaufen. „Nur, dass es kein Container war, sondern Mülltonnen.“
„Wie wer?“
Er starrt mich an, als sei er eben aus einer tiefen Trance erwacht.
„Redest du von Kilian?“, frage ich scheinbar ahnungslos, obwohl ich es weiß, bevor er nur den Mund öffnet.
„Ach … ich bin noch nicht ganz klar … tut mir Leid. Ich werde alt, Mann! Vertrag nichts mehr.“
„Bei Kilians Unfall“, wiederhole ich. „Da warst du nicht auf der Party?“
Er hätte behaupten können, er sei aus dem Haus dazu gekommen, während sie auf den Rettungswagen warteten und nicht wagten, Kilian zu bewegen, weil keiner wusste, wie schwer er verletzt war. Wäre er mir nicht ausgewichen, vielleicht hätte ich ihm wider Instinkt geglaubt.
„Freut mich, dass es dir gut geht!“ Er erhebt sich ächzend, die breiten Schultern zusammengeklappt, die Knie wollen sich kaum strecken.
„Warte!“ Ich schwinge die Beine auf die Bettkante, richte mich auf und halte ihn zurück.
„Du kannst nichts dafür.“
Andreas stiert mich glasig unter schweren Lidern an.
„Du solltest Kilian sagen, dass du den Wagen gefahren hast. Der, der deinem Vater angeblich die Vorfahrt genommen hat.“ Ein alter Verhörtrick, und er läuft ins offene Messer wie ein blinder Anfänger.
Er schüttelt langsam den Kopf. „Ich weiß nicht, wovon du redest.“
„Du bist nur einmal um den Block gefahren, um irgend etwas an dem Auto zu testen, nicht wahr? Bist zurück gekommen, und hast die Bescherung gesehen - Kilian unter dem Müll ... und später seine Aussage ...“
„Du hast ja keine Ahnung, … ach Scheiße …“, er tritt gegen die Wand, dreht sich dann abrupt um. In der Tür ruft er noch, mit dem Rücken zu mir: „Dann bis Montag im LKA!“ Er bemüht sich nicht, die Tür leise zu schließen.
Sollte ich mich mies fühlen, ihn so provoziert zu haben? Sollte ich ein schlechtes Gewissen haben, weil es sich nicht regt?

„Weißt du“, sagte Kilian in den Minuten, während er noch im Zimmer war und Selma den Wagen aus der Tiefgarage holte, „eigentlich hat sie recht. Mein Vater muss mehr getrunken haben, als die ein, zwei Gläser Sekt, die er zugegeben hat. Es gab dieses Auto. Der Fahrer ist gerast wie ein Irrer, als wollte er seine Motorleistung voll austesten. Aber bis mein Vater die Kreuzung erreicht hatte, war er schon lange vorbei …“
„Warum hast du das damals nicht gesagt?“
Er zuckte mit den Schultern. „Er war selbst davon überzeugt, dass es sich so zugetragen hatte, wie er es zu Protokoll gab. Ich hab ja gesehen, wie er sich trotzdem quält … wie soll man denn mit der Schuld leben, den eigenen Sohn zum Krüppel gefahren zu haben? Weißt du, Jan, trotz allem ist er noch mein Vater.“
Er knetete die muskulösen, trockenen Hände. Selbst auf einen halben Meter Abstand roch seine Haut leicht nach Chlor.
„Also nimmst du ihm ein bisschen von der Last ab, indem du dem unbekannten Fahrer die Verantwortung zuschiebst.“
Kilian nickte. „Das Ermittlungsverfahren ist längst eingestellt. Niemand sucht ihn mehr. Diese Lüge tut keinem weh."
"Und wenn man ihn identifiziert hätte? Den Fahrer?"
Kilian lächelte müde. "Niemand konnte das Fahrzeug beschreiben. Es ging alles viel zu schnell."

Sie hatten mir in der Notaufnahme die Kleider vom Leib geschnitten, um die Wirbelsäule nicht zu bewegen, und Anette hat noch keine frischen gebracht. Im OP-Hemdchen steige ich aus dem Bett, wickle das Stecklaken einmal um die Hüfte und gehe so ins Foyer hinunter zu den Telefonzellen, um Kilian anzurufen.

 

Hallo butterblume,

Es freut mich, dass meine KG Dir so gefallen hat, dass Du sie nochmals gelesen hast :). Die meisten Deiner Vorschläge übernehme ich gerne.

War der Arzt beim Gespräch mit Anette dabei? Wäre es hier nicht besser, Anette ganz rauszulassen?
Das geht nicht, da der andreas als Kollege nicht askunftsberechtigt ist, Anette als Lebensgefährtin/Ehefrau schon. Andreas kann es nur von ihr erfahren.
Der Ignorant, das Gewissen, männlich und sächlich. Warum nicht so: ... ist ignorant, es entzieht sich ...?
Persönlich habe ich kein Problem damit, einem Subjekt ein Attribut anderen Geschlechts beizugesellen. Wenn das grammatikalisch falsch ist, lasse ich mich aber gern eines Besseren belehren.
Außerdem pflegt das schlechte Gewissen ein derart penetrantes Eigenleben (kaum zu beeinflussen eben), dass ich es ganz passend finde, es an dieser Stelle zu personifizieren.
Aua! Nix Stein auf das Bein! 'Stein und Bein schwören' ist richtig. Grundlage ist ein uraltes Ritual, die Wahrheit zu beschwören:
Nun habe ich von Dirnicht nur russich gelernt, sondern auch eine kleine Einführung in altgermanische (?) Rituale erhalten. Darf ich Dich als Lexikon engagieren?
Wieso erzählen Wodka und Tabletten etwas anderes, als Jan weiß?
Wodka und Schlaftabletten (die Andreas in der Gegenwart in suizidaler Absicht konsumiert hat) erzählen anderes, als die Autofreaks damals behauptet haben.

LG und schönen Sonntag noch,
Pardus

 

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