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Bruno
Himbeergrütze / Morgennebel / Eisbär / lachen / erkältet
Halb sechs am Morgen, Lynn steht mit einer Tasse Kaffee in der Küche und schaut aus dem Fenster. Der Morgennebel liegt, tausend Jahre alten Spinnweben gleich, auf der Wiese, hüllt Blumen und Sträucher darin ein. Eine wundervolle Stille und Einsamkeit erfüllt das kleine Haus. „Ach, ich liebe diese Zeit am Morgen. Max ist schon weg und die Kleinen schlafen noch. Eine Stunde, manchmal fast zwei, die mir gehört. Wohl die einzige Zeit am Tag, die ich ganz alleine geniessen kann!“ Ein wehmütiges Lächeln zeichnet sich kurz auf Lynns Gesicht ab.
Lynn ist von ganzem Herzen Mutter. Sie liebt ihre Kinder und würde für nichts auf der Welt tauschen. Nicht einmal für die allerbeste Himbeergrütze der Welt, obwohl sie diese fast so sehr liebt, wie die Kinder.
Lynn schenkt sich noch einen Kaffee nach und während sie zu schaut, wie sich der Nebel langsam verzieht um der Sonne Platz zu machen, denkt sie über den bevorstehenden Tag nach: “Hoffentlich hat Alisha vergessen, dass sie unbedingt wieder in den Zoo will! Hab heute eigentlich keinen Bock `drauf. Aber lieber Zoo als Gezwängel!“ Und es kommt wie es kommen musste, Alisha im Nachthemd und ihrer Knuddelschildkröte im Arm, tänzelt aufgekratzt in die Küche und singt vor sich hin: „Heute gehen wir in den Zoo, Zoo, Zoo und sehen einen Floh!“ „Guten Morgen Schatz. Einen Floh werden wir wohl kaum sehen. Aber viele andere Tiere und deine Lieblingsschildkröte besuchen wir auch! Aber zuerst wird gefrühstückt und im Nachthemd geht man nicht in den Zoo! Wo ist deine Schwester?“ „Will nicht Frühstück haben, will jetzt in den Zoo, jetzt sofort!“
Lynn klemmt ihre Grosse unter den Arm und geht mit ihr hoch, um eine anständige Morgentoilette durchzuführen und Lucy muss auch geweckt werden.
Nach einem dreistündigen Kampf gegen zwei kleine, überdrehte Monster parkiert Lynn das Auto auf dem Zooparkplatz und lädt die ganze 'Überlebensausrüstung' aus. Die dreijährige Lucy hat das Privileg im Kinderwagen sitzend – ist eher eine grosse Erleichterung für Lynn – durch den Zoo zu reisen. Alisha allerdings rennt bereits voraus, die Knuddelschildkröte unter dem Arm.
Als Erstes besuchen sie die Affen. Alisha und Lucy schauen ihnen gerne beim klettern zu. Letztes Mal hatten sie Glück und ein Schimpanse kam zur Scheibe und presste seine Lippen dagegen, es sah so aus, als wollte er ihnen einen Kuss schenken. Da mussten sie alle laut lachen und Alisha drückte ihren Mund sofort auf die gleiche Stelle. Das sah toll aus und Lynn hatte zur richtigen Zeit ihren Fotoapparat zur Hand. Das `Schimpansen-Kuss-Foto` wurde auf Wunsch von Alisha an die ganze Familie verteilt.
Heute jedoch sind die Affen nicht zu Spässen aufgelegt. Sie sitzen auf ihren künstlichen Bäumen und glotzen die Besucher an, denken sich wahrscheinlich: „Was seit ihr für komische Käutze?“
„Mama, ich hab` Hunger!“ „Och, Alisha! Ich hab` dir gesagt, du sollst deine Schnitte essen. Jetzt musst du noch etwas warten, bis wir bei unserer Bank sind, ok?“ Lynn hat eine Lieblingsbank im Zoo und wenn sie hier sind, wird nirgendwo sonst zu Mittag gegessen. Die Bank bietet eine tolle Sicht aufs Gehege des Eisbären, das Lieblingstier von Lynn. Auf der anderen Seite befindet sich ein wunderschöner Garten, der die Riesenschildkröten beheimatet, sehr zu Freude von Alisha.
Diese stürmt und jammert immer mehr und Lynn, total erleichtert als sie die Bank endlich erreichen, fängt sogleich an, den Lunch auszupacken. Sandwichs, Limo und zum Nachtisch natürlich selbst gemachte Himbeergrütze.
Lynn verteilt die Stullen und beisst herzhaft in ihr Luxus-Schinken-Käse-Brot, mit Salat und frischen Tomatenscheiben. Beim Kauen stellt sie fest, dass das Eisbärgehege einsam und verlassen vor ihr liegt. Bruno, der Eisbär, ist nicht da. Normalerweise liegt er um diese Zeit auf einem Felsen, krault sich mit seiner grossen Tatze den Bauch und lässt sich die Sonne auf den Pelz scheinen. Aber wo ist er heute? Lynn nimmt einen weiteren Bissen und schaut sich um. Kein Tierwärter ist in der Nähe, niemand den sie fragen kann.
Eine innere Unruhe kriecht in ihr hoch und sie schlingt ihr Sandwich `runter ohne, dass sie registriert, was sie isst. „Wo ist mein Bruno? Bruno ist nicht hier! Warum?“ Lynn springt von der Bank auf und läuft, wie ein aufgescheuchtes Huhn, hin und her. Sie geht zum Gelände, beugt sich darüber, in der Hoffnung, Bruno habe sich versteckt, doch er ist und bleibt verschwunden.
Als sie an der Eisbär-Erklär-Tafel vorbei kommt, sieht sie einen Zettel mit folgender handschriftlichen Notiz:
leider muss ich heute mein Bett hüten, ich bin erkältet.
Bitte entschuldigen Sie meine Absenz.
Liebe Grüsse Ihr Bruno“