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Cool?
„Es ging sehr schnell: Er holte aus, traf mich, ich ging zu Boden, er trat eine Weile auf mich ein und ließ mich blutig zurück.“
Es war eine kurze Geschichte, und als ich das Vorlesen beendet hatte, gab es nur betretenes Schweigen im Raum. Ich wusste, das war eine Gnadenfrist, bevor der Tumult losgehen würde. Die Aufgabe war klar: die Geschichte kopieren, mit eigenen Worten und eigenem Sinn füllen. Schreibübungen waren sie gewohnt, dazu waren sie ja hier. Das Problem war die Geschichte: kurz, knapp, wenig Handlung. Eine Ghetto-Situation, Jugendliche wie sie, einer wird zu einer Schlägerei herausgefordert, bei der er keine Chance hat. Über so was würden sie nicht schreiben wollen, und dann auch noch mit einem so provokanten Titel wie „Coolness“.
Andererseits wussten sie, dass ich mir bei meinen Übungen was dachte. Wie beim letzten Mal bei der „Ja-Nein“-Aufgabe. Was hatten sie da zuerst gemeutert!
„Tut euch paarweise zusammen, und für fünf Minuten sagt der eine immer nur „Ja“, der andere immer nur „Nein“.“
„Das ist viel zu abstrakt, so ohne Kontext“, hatte jemand eingeworfen.
„Probiert es doch einmal aus“, war ich standhaft geblieben.
Und dann hatten sie es durchgezogen, zunächst steif und peinlich berührt, dann spielerisch, bis bei jedem eigene Bilder im Kopf erschienen waren, und kein „Ja –Nein“ dem anderen glich. Es hatte sich Stöhnen entwickelt, Wimmern, Kämpfen, Schreien, und erst, als ich das Zeichen zum Abbruch gab, hatten sich alle hingesetzt und ihre Geschichten dazu aufgeschrieben.
Das ging ihnen wohl jetzt durch den Kopf, bevor Simon das Schweigen brach: „Warum diese Geschichte? Das ist dreist. Keine Überraschung, keine Pointe. Und das sollen wir kopieren?“
„Ein Typ verabredet sich zu einer Schlägerei und wird zusammengeschlagen. Was hat das mit „Coolness“ zu tun?“, fragte jetzt auch Rob ratlos. „Ist der Erzähler mutig oder schlicht ein Idiot?“
„Tja, Coolness, was soll man dazu sagen?", überlegte Michi. "Ich lass den Prot einfach so cool wie er ist, er stellt sich, fürchtet sich nicht, es ist ihm vielleicht schlicht egal.“
„Da steckt doch nichts dahinter.“ Judas schnaubte, und ein kleines Bläschen bildete sich an einem seiner Nasenlöcher. Mit jedem Atemzug schwoll es an und wieder ab, bis es bei seinem letzten Wort zerplatzte: „Ist doch einfach hingerotzt.“
„Das erinnert mich an einen Witz.“ Nick fielen zu allem und jedem Witze ein. „Kennt ihr den? Ein Mann kommt in den Saloon und sagt: `Man hat mir mein Pferd geklaut. Wenn das nicht gleich wieder da steht, geschieht das, was vor genau einem Jahr in Santa Fé passiert ist´.“
„Und, was war da passiert?“, spielte Simon müde lächelnd mit.
„Er hat sich ein neues Pferd gekauft.“ Nick strahlte.
„Und was hat das jetzt mit der Geschichte zu tun?“ Ein ungeduldiger Judas.
„Keine Pointe!“, triumphierte Nick. „Das ist die Pointe!“
„Oder ein ganz anderer Aspekt“, meldete sich jetzt Sascha zu Wort. „Diese Parallele: der Typ hat keine Chance und geht trotzdem hin. Die Geschichte wird verrissen, und der Autor hat sie trotzdem veröffentlicht. For Shizzle.“
Große Augen. Alle sahen mich jetzt an.
Nun, das ist ein Jugendwerk von einem Freund von mir. Ich dachte kurz an Stefan. Aber doch, er fand sie gut. Ich grinste. So, und jetzt mal zur Arbeit. Die Geschichte ist offen in Plot, Charakteren und Schauplatz. Ideal, damit ihr eure Fantasie spielen lassen könnt. Überlegt mal, was könnte den Helden denn bewogen haben?
„Oder den Autor?“ Nick grinste. „Vielleicht wollte der eine Schlägerei-Geschichte schreiben, und dann ist ihm keine Pointe eingefallen. Kein Deus-ex-Machina. Obwohl ... Ist doch klar. Eigentlich hatte er einen Deal mit Außerirdischen. Ich stelle mir das so vor“:
„Ich werde das ein für alle Mal regeln.“ Gelassen blies ich den Rauch aus meiner Lunge. Wenig später stand ich in der Raumstation, die zusehends verfiel. Die Deckenbeleuchtung hatte einen Wackelkontakt und blinkte in unregelmäßigen Abständen. Den Alien schien es nicht zu stören. Er reichte mir seine Tentakel und versicherte: „Wir beamen dein Bewusstsein in dem Moment zu uns, in dem die Schlägerei beginnt. Du wirst nichts spüren. Und wenn er damit fertig ist, enterst du deinen Körper wieder.“
Ich lachte. „Ja, eine gute Idee. Noch welche?“
„Das klingt so sehr nach männlichem Hormon“, meinte Sanne. „Nun, vielleicht war ein Mädchen im Spiel. So wie bei Romeo und Julia.“
„Ah, der weibliche Blickwinkel!“ Natürlich musste Sascha wieder seinen Senf dazugeben.
„Also ...“
„Morgen Abend um zehn“, sagte Kemal zu mir. „Hier unter der Brücke“
Jeder um uns herum sah, dass ich keine Chance gegen diese Traube von Muskeln hatte.
Meryem wartete hinter dem Gebüsch auf mich. „Du musst fliehen. Çabuk. Er meint es ernst.“
„Nein, ich lasse es nicht zu. Du und ab in die Türkei? Niemals.“
„Er wird wirklich kämpfen; es geht um die Ehre.“
„Aber wenn ich nicht komme, wird dein Bruder dich nicht in Ruhe lassen. Soll er sich doch als Sieger fühlen ... soll er doch die Ehre wiederherstellen ... Dann kannst du jetzt dein Abi machen, und wenn ich wieder heil bin, gehen wir zusammen weg ...
„Eh, Leutz! Wie wäre es damit?“ Sascha überlegte. „Die Bitch hat ihn versetzt, und jetzt will er nicht mehr leben. Sozusagen ein geschenkter Selbstmord. Ein Abgang mit Coolness.“
Jetzt hatte auch Gülsen eine Idee. „Oder so in der Richtung, wie Basem es immer erzählt:“
„Warum kämpfst du gegen ihn?“, fragte mich Bernie? “Wir leben in Deutschland, nicht in South Central. Wenn er dir Stress macht, dann hol doch die Polizei.“
„Für dich gilt das, Bernie. Du bist weiß wie er und unauffällig. Was meinst du, was die Polizei machen wird? Die werden mich doch erst mal auf Drogen untersuchen. Weißt du, wie oft ich angehalten werde, wenn ich unterwegs bin? Wie oft den Bullen nur eins einfällt, wenn sie mich und die anderen sehen? Ausweise.“
„So, ich glaube, ihr habt jetzt genügend Ideen. Dann könnt ihr ja mit dem Schreiben beginnen. Ihr habt jetzt noch bis zwanzig Uhr Zeit, und nächste Woche besprechen wir dann eure Geschichten.“ Ich fand es immer wieder toll, was diesen jungen Menschen alles einfiel. Und von Woche zu Woche wurden sie besser, ideenreicher, sprachgewaltiger.
Damals hätte ich auch gern so einen Schreibkurs besucht. Doch es gab noch nicht mal ein Jugendzentrum. Nur diesen Bolzplatz unter der Brücke, mit den Scherben überall. Noch heute habe ich diesen Geruch in der Nase, Teer und Erde und Urin. Noch heute höre ich das Knacken, als Stefans Finger unter den Stiefeln brachen und sein Röcheln, als der andere ihn liegen ließ. Dass das der Zeitpunkt war, als wir beide angefangen haben zu schreiben, haben wir uns erst später erzählt. Unfähig zu reden, haben wir, jeder für sich, einen Weg gefunden, das Erlebte zu verarbeiten, uns nicht zu verlieren. Na ja, für uns war es ein Anfang, und nicht das