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Der Blick des Basilisken
Sie hatte noch nie solche Schmerzen empfunden. Als der Junge den Stein nach ihr warf, als sie halb bewusstlos zu Boden fiel und er sie aufhob, hatte die Elster gemeint, dies sei bereits das Äußerste. Doch das Äußerste kam erst noch, als der Junge sein Taschenmesser zückte und ihr langsam und sehr gründlich die Augen ausstach. Sie hatte gemeint, sterben zu müssen, aber es war viel schlimmer; sie lebte noch immer und fühlte die Schmerzen. Und sie sah nichts mehr.
Später, als dieser grässliche Junge sie losgelassen hatte, floh die Elster, halb fliegend, halb hüpfend, ohne zu wissen wohin, in der Kralle noch eine Spiegelscherbe, Diebesgut, das für sie jeden Wert verloren hatte. Um sie herum war Dunkelheit, und sie hatte keine Ahnung, in welchem Teil des idyllischen Mischwaldes sie endlich zur Ruhe kam, auf einem Moospolster sitzen blieb und die rasenden Schmerzen abklingen ließ.
Plötzlich merkte die Elster, dass sie nicht allein war. Es war sehr still um sie her, zu still. Kein Vogel sang. Keine Maus huschte durchs Unterholz, ja, nicht einmal das Flügelbrummen irgendwelcher Insekten war zu hören. Und nun fühlte sie die Anwesenheit eines weiteren Wesens. „Geh weg, Elster“, sagte dieses Wesen, das sie nicht sehen konnte, zu ihr. „Flieg weg, sonst wird es dein Tod sein.“
„Das wäre mir sehr lieb“, erwiderte die gequälte Elster leise. „Wer bist du?“
„Ich bin ein Basilisk, eine Missgeburt, aus einem Hahnenei geschlüpft“, sagte das Wesen. „Und wenn du nicht fliehst, Elster, werden unsere Blicke sich kreuzen, und dann wirst du sterben, denn mein Blick ist tödlich.“
„Dann bin ich außer Gefahr“, seufzte sie, „denn ich bin blind. Ein Mensch hat mir die Augen ausgestochen, und nun lebe ich in ewiger Dunkelheit. Denke nur! Nie wieder werde ich das Funkeln und Glitzern von Schmuck und Glas sehen, und du weißt sicher, wie wir Elstern das lieben.“
„Blind?“, fragte der Basilisk. „O du Glückliche.. Wie gern wäre ich blind, denn mein Blick hat schon zuviel Unheil angerichtet..“
Und weil die Elster erstaunt den Kopf hob, erzählte er ihr seine Geschichte.
„Ich bin, wie gesagt, aus dem Ei eines Hahnes geschlüpft. Mein Vater hatte aber nicht viel Freude mit mir, denn als ich geschlüpft war und ihm in die Augen sah, zerfiel er zu Staub. Ebenso verhielt es sich mit der Henne, die mir kurz darauf über den Weg lief. Da merkte ich, welche Macht in meinem tödlichen Blick lag, und ich ging zu den anderen Hühnern, um sie mir zu unterwerfen. Sie wussten aber nicht, was ein Basilisk ist; so lachten sie mich aus und nannten mich Missgeburt. Darüber ärgerte ich mich so sehr, dass ich die Hälfte von ihnen mit meinen Blicken tötete. Da wurden die anderen ängstlich und waren bereit, mir zu gehorchen. Auf ähnliche Weise unterwarf ich auch die Kühe, Schafe, Pferde und Gänse, die auf jenem Hof lebten, und die Menschen dort tilgte ich ganz aus. Ich liebte meinen Blick, und ich genoss die Macht, die er mir verschaffte.
Mit der Zeit füllte sich der Hof aber mit Häufchen aus Staub und Asche, denn ich, der Tyrann, machte mir hin und wieder einen Spaß daraus, irgendeinem unschuldigen Tier in die Augen zu sehen. Und weil es immer wieder versehentlich geschah, dass ich mit jemandem in Blickkontakt trat, zerbröselte mein Hofstaat im wahrsten Sinne des Wortes. Bald gab es niemanden mehr, den ich beherrschen konnte. Also verließ ich den Hof. Wo ich hinkam, starb das Leben, Schmetterlinge fielen als kleine Pulverwolken vom Himmel, Blumen verwelkten, und trank ich aus einem der munteren Bäche, führten die schon bald die Asche unglücklicher Fische mit sich.
Lange Zeit gefiel mir das, auch als ich niemanden fand, den ich beherrschen konnte. Es machte mir Spaß, entsetzte Lebewesen unter meinem Blick sterben zu sehen. Je länger ich jedoch umherwanderte und je mehr Leben meinem Blick zum Opfer fiel, desto deutlicher empfand ich, dass ich einsam war. Zuerst wollte ich es nicht wahrhaben.
Doch dann hörte ich eines Tages den Gesang einer Nachtigall, und er kam mir so unglaublich süß vor, dass ich mich in diese Stimme verliebte. Mehr noch, ich bereute es von Herzen, dass ich einst derart grausam gewesen war. Ohne die Nachtigall anzusehen, unterhielt ich mich mit ihr, und sie erwiderte meine Liebe. Stundenlang saß ich nun unter ihrem Baum und lauschte ihren Liedern, und es war die schönste Zeit meines Lebens. Eines Tages aber überkam mich der Wunsch, meine geliebte Nachtigall einmal anzusehen. Nur ganz kurz wollte ich das tun, und auf keinen Fall wollte ich ihrem Blick begegnen. Also sah ich auf, und im selben Moment schaute sie zu mir hinab. Ich sah in zwei kleine blanke Vogelaugen; und ehe ich noch begriff, was ich angerichtet hatte, rieselten die Überreste meiner Geliebten vom Baum.
Ich war verzweifelt, denn das hatte ich nicht gewollt. Ich wusste nicht, was ich nun tun sollte. Schließlich wanderte ich weiter, jetzt völlig darüber im Klaren, dass ich zu einem Leben in völliger Einsamkeit verdammt war. Wo auch immer ich andere Wesen traf, ich durfte nicht bei ihnen bleiben, und keiner durfte mir Gesellschaft leisten. Und so erkannte ich, dass mein todbringender Blick, den ich als Geschenk angesehen hatte und auf den ich stolz gewesen war, in Wahrheit ein Fluch war. Ich gäbe viel darum, blind zu sein wie du!“
„Wenn ich dich blenden könnte..“, schlug die Elster vor.
Doch der Basilisk sagte traurig: „Meine Augen sind aus Stein, und nichts auf dieser Welt kann sie ausstechen. Weißt du das nicht?“
„Alles, was ich über euch Basilisken weiß, ist, dass ihr nach eurem Tod zu Gold werdet“, sagte die Elster versonnen. „Ach.. Ich habe immer davon geträumt, einmal Gold zu sehen. Es muss ein wunderbarer Anblick sein. Stimmt es denn, dass ihr zu Gold werdet, wenn ihr sterbt?“
„Ich weiß es nicht, ich bin noch nie gestorben; aber ich würde es gern tun, denn was auch immer dann geschieht, es muss etwas Besseres als mein jetziges Leben sein.“
Dann schwiegen sie beide eine Weile. Und plötzlich nickte die Elster, schob die Spiegelscherbe in die Richtung, in der sie den Basilisken vermutete und sagte leise: „Sieh mal!“
Der Basilisk machte den Hals lang und sah in den winzigen Spiegel. Er blickte in zwei stechende, steinerne Augen, die ihn mit einem Blick ansahen, den er nicht ertrug, und es waren seine Augen. Er öffnete den Schnabel. Heiser krächzte er: „Endlich..“
Für einen Augenblick erfüllte ihn ein unbeschreibliches Glücksgefühl. Dann war der Augenblick vorbei. Der Basilisk war tot.
Die Elster wartete. Ihre leeren Augenhöhlen schmerzten wieder.
Niemals, dachte sie, werde ich wissen, ob er wirklich zu Gold geworden ist.
Niemals werde ich dieses Gold in der Sonne funkeln sehen.
Aber trotzdem war sie plötzlich glücklich. Sie hatte etwas Gutes getan.
Ein einziger Augenblick war es gewesen, der einen unglücklichen Basilisken glücklich gemacht hatte.
Dann fielen die Strahlen der Abendsonne auf die Lichtung, beleuchteten das Gefieder der blinden Elster und einen Haufen Gold, der neben ihr lag. Das Gold glänzte und funkelte.
Es gab niemanden, der das Funkeln sehen konnte. Doch die Elster konnte es plötzlich fühlen, wie einen warmen Schauer auf ihrem Gefieder. Und dieses Gefühl war wunderschön. Es war das Dankeschön des Basilisken.
Die Elster seufzte glücklich. Irgendwo über ihr begann eine Nachtigall zu singen.