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Ende und Anfang
Mein Herz klopft wild, als mir von hinten eine Hand auf meine Schulter gelegt wird. Ich zucke zusammen, der MP3-Player, den ich unter der Jacke an meinen Bauch gepresst habe, fällt zu Boden. Wie ein Vorwurf, liegt er vor mir.
Ich drehe mich um, mein Blick fällt auf eine große Frau. Ihr Gesicht ist vor Zorn gerötet und sie sieht aus, als wollte sie mich verprügeln.
„Komm mit“, sagt sie.
In ihrem Büro steht ein riesiger Schreibtisch, hinter dem sie sich verschanzt, während ich auf der anderen Seite Platz nehmen soll.
„Du weißt, dass ich die Polizei anrufen muss?“, fragt sie.
Ich nickte, mir wird kurz übel doch gleich darauf fühle ich mich seltsam wohl.
„Warum macht ihr Jungen das?“, will sie wissen. „Ihr habt doch heutzutage alles, was ihr euch wünschen könnt.“
„Keine Ahnung.“
„Wie heißt du?“
„Phillip Broder.“
Die Frau hämmert die Nummer in die Tasten.
„Ich möchte einen Diebstahl melden“, sagt sie. Während sie ihre Personalien und den Namen des Geschäftes durchgibt, lässt sie mich nicht aus den Augen. Vermutlich fürchtet sie, ich könnte mich aus dem Staub machen.
„Er wollte einen MP3-Player stehlen.“
Sie lauscht.
„Ja, ich habe ihn erwischt. Er sitzt in meinem Büro. Sein Name ist Phillip Broder.“
Ich trommle mit den Fingern auf dem Tisch herum.
„Phillip Broder."
Sie nickt eifrig mit dem Kopf, als könnte das Gegenüber sie sehen.
„In Ordnung. Bis gleich.“
Vater wird sicherlich davon erfahren, womöglich war er der Beamte, mit dem sie gesprochen hatte. Vielleicht auch Lehmann, sein Kollege, der uns manchmal zu Hause besucht. Ich stelle mir Vaters Gesicht vor, rot vor Zorn und dieser verständnislose Blick, der mich immer auf die Palme bringt. Es wird ihm sicherlich peinlich sein und der Gedanke erfüllt mich mit Genugtuung. Natürlich wird er selbst hier auftauchen, er wird keine Gnade walten lassen. Pflichterfüllung steht für ihn an oberster Stelle. Das betont er mindestens einmal in der Woche.
Ich kann mich noch so gut daran erinnern wie es war, wenn Vater von der Arbeit nach Hause kam. Sobald ich hörte, wie er den Schlüssel im Schloss drehte, rannte ich zur Türe und fiel ihm um den Hals. Er hob mich hoch und sagte:
„Na, mein kleiner Polizist, wie geht es dir?“
Mit einem schnellen Handgriff schnappte ich mir seine Dienstmütze und setzte sie auf meinen Kopf. Sie war viel zu groß und ich musste sie ständig nach oben schieben, um wieder freie Sicht zu haben.
„Eines Tages wird sie dir passen“, sagte Vater und lachte. Ich flitzte vor den Spiegel und starrte mich an. In meiner Vorstellung jagten wir beide einen gefährlichen Verbrecher.
Und dann war da dieser heiße Sommernachmittag. Ich hatte mit den anderen Jungen Fußball gespielt und zum ersten Mal war es meinem Team gelungen, den Sieg zu erringen. Drei Tore gingen auf mein Konto, die anderen Kinder gaben mir ein Eis aus und klopften mir auf die Schulter.
Das Polizeirevier, in dem mein Vater arbeitete, lag in der Nähe und ich wollte ihm unbedingt sofort von meinem Erfolg erzählen.
Seine Sekretärin lächelte freundlich und gab mir einen Schokoriegel, mein Vater hob nicht einmal seinen Kopf.
Er brütete zusammen mit einem Kollegen über einem großen Papierstapel. Sein Gesicht war gerötet und eine große Falte zeichnete sich auf seiner Stirn ab.
„Papa, du kannst nicht erraten, was passiert ist!“, rief ich.
Verwirrt hob mein Vater den Kopf. „Nicht jetzt, Phillip.“
„Papa, ich war heute so gut beim Fußballspielen. Ich hab...“
„Toll Phillip“, sagte er, kramte seine Geldbörse aus der Schublade heraus und drückte mir einen Zehner in die Hand.
Ich starrte den Schein an und dann wieder zu meinem Vater, der sich schon wieder in die Akte vertieft hatte.
„Geh jetzt. Ich habe wirklich keine Zeit“, murmelte er.
Meine Augen begannen zu brennen und ich rannte aus dem Gebäude.
Später, beim Abendbrot, wartete ich vergeblich darauf, dass Vater mich doch noch nach meinem Erlebnis fragte. Daran reihten sich eine Anzahl von ähnlichen Erlebnissen. Nie war genug Zeit.
Vaters Gesicht ist angespannt, als eine Verkäuferin ihn hereinführt. Er sieht mich nicht einmal richtig an. Er schüttelt der Frau die Hand, holt einen Fragebogen heraus und beginnt, mich mit Fragen zu löchern. Als er mich nach meinem Namen und meiner Adresse fragt, muss ich beinahe grinsen. Ein Wunder, dass er mich unseren Straßennamen nicht auch noch buchstabieren lässt. Mit starrer Miene notiert er meine Antworten. Andere Polizisten würden vielleicht versuchen, ihren Sohn aus dieser Situation herauszumanövrieren, doch an so etwas denkt mein Vater nicht einmal.
Ich antworte brav auf jede Frage, er klärt mich über die Folgen meines Handelns auf. Danach steht er auf und schüttelt der Frau die Hand.
„Bitte entschuldigen Sie die Unannehmlichkeiten“, sagt er und das bleibt der einzig väterliche Ausspruch, den er sich hier erlaubt.
„Komm Phillip, wir gehen.“
„Schnall dich an“, weist er mich im Auto mechanisch an.
Das Schweigen macht mich nervös und ich drehe die Musik lauter.
„Hör auf“, schimpft er und schaltet das Radio aus. „Warum hast du das getan? Du hast doch schon so ein Teil. Fehlt dir irgendetwas?“
Ich schweige, starre aus dem Fenster und möchte mir die Ohren zuhalten.
„Gebe ich dir nicht genug Geld?“
Er schlägt mit der Hand auf das Lenkrad, weil ich nicht antworte.
„War das deine Mutprobe? Haben dich deine Freunde überredet? Der Dunkelhaarige?“
„Du kennst ihn doch gar nicht“, rief ich. „Wann interessierst du dich schon dafür?“
Er zuckt zusammen und sieht mich an, wie in einem dieser amerikanischen Filme, in denen die Leute beim Fahren nie auf die Straße achten.
„Ich hätte so etwas nie von dir gedacht, Phillip.“
„Aha.“
„Geb nicht so blöde Antworten.“
„Was soll ich denn sagen?“
„Du sollst mir das erklären.“
Ich zucke nur mit den Schultern.
Wir fahren am Revier vorbei, ich erwarte, dass er anhält, doch er schlägt den Weg nach Hause ein. „Die Lust auf Arbeit ist mir für heute gründlich vergangen. Was denkst du, wie die Kollegen mich morgen ansehen werden?“
„Ich bitte höflichst um Verzeihung, dass ich dich von deiner überaus wichtigen Arbeit abgehalten und dir deine überaus kostbare Zeit gestohlen habe.“ Die Worte sprudeln aus mir heraus, ich weiß, dass sie gemein sind, doch ich fühle mich wohl dabei.
Die erwartete böse Antwort bleibt aus. Er schweigt und an seiner Stirnfalte kann ich sehen, dass er nachdenkt.
„Und ich wette, dass gleich wieder ein Vortrag kommt, wie toll du in meinem Alter warst. Den kannst du dir sparen, ich weiß es inzwischen.“
„Ach Phillip“, murmelt er. Er sieht plötzlich traurig aus, von der Wut ist nichts mehr übrig geblieben.
„Was hältst du davon, wenn ich dir am Samstag beim Fußball zusehe?“, fragt er nach einer Weile.
„Was?“, frage ich. Ich habe ihn verstanden, aber ich kann kaum glauben, dass er das wirklich gesagt hat.
„Na ja, ich war lange nicht mehr dabei. Was meinst du?“
„Das wäre toll“, sage ich. Er lächelt.