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HenkersMahl (erste Hälfte 16. Jhdt.)
Nachdenklich betrachtete er die Szene.
Der abgemagerte, junge Mann würde keine Probleme bereiten. Ein Schlag müsste reichen.
Kaum vorstellbar, dass der Jüngling seinen Onkel vergiftet haben sollte. Wahrscheinlich stand er nur irgendwem im Weg. Da ging es um Geld oder, schlimmer noch, um Politik. Gefoltert hatten sie ihn auch - das sah man gleich. Eigentlich seltsam, wo das gar nicht mehr gern gesehen wurde. Die Zeiten änderten sich, die Reformierten waren am Vormarsch.
Seine Sinne nahmen alles in dem fackelbeleuchteten, runden Steinraum wahr. Auch das Zittern der beiden Buben, die ihm der Abdecker als Gehilfen beigestellt hatte. Sie fühlten sich unwohl in den samtenen Gewändern. War ja auch ihr erstes Mal.
Kurz dachte er an sein erstes Mal, damals, als er noch seinem Vater zur Hand ging. Dabei fiel ihm der unrühmliche Tag ein, als sie seinen Vater hängten, weil er fünfmal zugeschlagen und eine ziemliche Sauerei angerichtet hatte.
Da konzentrierte er sich lieber auf die ewig gleiche Litanei des Priesters, der beleibt und hochmütig - wie man wohl wurde, wenn man Gott so nahe war - neben dem halbverhungerten Todeskandidaten stand und Psalme spuckte, als könne er damit das Fegefeuer löschen.
Nicht, dass er selbst Gott verachtete, aber seit er diesen Posten innehatte, musste er oft erkennen, dass sich Gott am allerwenigsten in der Nähe von Römischen Pfaffen aufhielt. Wie die reformierten Fürsten mit diesem Umstand umgingen, würde sich noch zeigen. Der Ruf der Gnade eilte ihnen nicht gerade voraus.
Sein Blick blieb an dem Schreiber hängen, den der Ältere Bürgermeister geschickt hatte. Ein pickeliger Knabe - vermutlich aus einer der besseren Bürgerfamilien. So, wie dessen Adamsapfel nervös hüpfte, erlebte auch er sein erstes Mal. Noch vor kurzem hatte sich niemand um so etwas geschert. Noch so ein Zeichen, dass neue Zeiten herandämmerten. Hauptsache, die Stadtherren standen gut da.
Endlich verstummte das lateinische Geplapper, das sowieso keiner verstand. Ob die Reformierten ihre Messen wirklich in Deutsch abhielten?
Ah, sein Auftritt. Er trat vor und sein morgiger Kunde starrte ihm ängstlich entgegen.
Seine dunkle Kapuze machte allen Angst, selbst den übelsten Gesellen - erst recht solch unschuldigen Jünglingen wie diesem. Herzlich, aber nicht zu kräftig, drückte er die Hand des blassen und zerbrechlich wirkenden, jungen Mannes und sprach seine üblichen Worte.
"So wahr mir Gott helfe. Mein Schwert ist scharf und meine Hand ist sicher. Du wirst keine Schmerzen erleiden. Gott wird sich deiner Seele erbarmen."
Der junge Mann wartete kurz und lächelte verträumt. Schließlich nickte er und ein kaum hörbares "Danke" kam über seine Lippen.
Der Henker war immer wieder verwundert, wie seine Worte die Opfer scheinbar beruhigten. Vermutlich lag es daran, dass ihre Zukunft so ein absehbares Ende bekam.
Noch einmal drückte er die Hand des Verurteilten und stellte sich dann zu seinen Gehilfen.
Gleich darauf brachten zwei Wachen Wein in tönernen Krügen und üppig mit frischem Brot, würzig duftenden Braten und anderen Leckereien bestückte Speiseplatten. Das Henkersmahl.
Ein Blick auf das feiste Grinsen des Priesters sagte ihm schon jetzt, wer Nutznießer des reichlichen Mahls sein würde. Die Gefangenen aßen selten viel zu diesem Zeitpunkt. Mit etwas Glück bekamen die Wachen noch das eine oder andere ab.
Zeit zu gehen. Der Wachkommandant entließ ihn und seine Gehilfen.
Mit knurrenden Mägen gingen sie zu ihren Wohnstätten, zogen sich um und trafen sich dann beim Abdecker wieder, wo sie gemeinsam ihrer blutigen und übelriechenden Tätigkeit nachgingen.
Auch nicht schöner als das Reinigen der städtischen Kloake, aber hier redete wenigstens wer mit ihm.
Nachdem sein Tagwerk erledigt war und er sich gereinigt hatte, machte er sich auf zur Wirtsstube an der Stadtmauer. Als er eintrat, wurde das laute Gelächter und Gerede zu einem Murmeln. Dem einen oder anderen nickte er zu, obwohl er wusste, dass seine Grüße unerwidert blieben. Sein Beruf brachte es mit sich, dass man lieber mit dem Teufel Umgang pflegte als mit ihm. Dafür hatte es den Vorteil, dass im hintersten Winkel immer ein Platz für ihn freigehalten wurde, wo er auch meist unbelästigt blieb.
Kaum saß er, kämpfte sich der närrische Schankjunge durch das Gedränge und brachte einen Krug Bier und eine dampfende Schüssel mit dem üblichen, aber schmackhaften Eintopf. Der Junge rannte wieder weg, bevor der Henker sich auch nur bedanken konnte. Mittlerweile waren wieder alle Gespräche munter im Gange.
Nur kurz währte seine Ruhe. Am erneuten Verstummen der anderen Gäste erkannte er eine neuerliche Veränderung. Als er von seinem Mahl aufblickte, sah er Stadtwachen auf seinen Tisch zukommen - zwischen ihnen ein geknebeltes, gefesseltes, schmutziges und viel zu junges Mädchen. Nach einem rüden Stoß landete sie auf seinem Tisch.
"Mit bestem Gruß der Stadtherren. Sozusagen als kleine Anzahlung, haha. Deinen Henkerslohn bekommst du morgen, aber sauber arbeiten und schnell. Das war's schon. Erstick nicht an dem Fraß."
Der Wächter salutierte spöttisch und ging. Als die Wachen das Wirtshaus verlassen hatten, konnte man spüren, wie die Anspannung der anderen Gäste sank. Da musste er lächeln. Mit ihm wollte man zwar nicht wirklich etwas zu tun haben, aber die angeberische Stadtwache in ihrer schmucken Uniform war verhasst.
Danach betrachtete er nachdenklich das Mädchen, deren gehetzte Augen verzweifelt einen Fluchtweg suchten. So sanft, wie er konnte, fasste er sie am Arm.
"Ruhig, Kleine. Ich werde dir nicht weh tun. Beruhige dich einfach. Ich werde den Knebel herausnehmen und dann können wir reden. Doch beiß nicht, sonst kannst du was erleben! Verstanden?"
Obwohl das Mädchen sichtlich Angst vor ihm hatte, nickte sie. Vorsichtig entfernte er den schmutzigen und speichelnassen Knebel aus ihrem Mund und fragte: "Hast du Hunger?"
Wieder nickte sie und der Henker brüllte eine Bestellung durch den Raum. Wieder versiegten alle Gespräche. Gierige Blicke tasteten das Mädchen ab. Nach einer Weile brachte der Schankbursche das Essen, kicherte blöd und spuckte das Mädchen an. Danach schaute er sich triumphierend in der Gaststube um und wurde mit Gelächter, Gegröle und Beifall belohnt.
Mit einem festen Tritt beförderte der Henker den Jungen quer durch den Raum. Als der Schankbursche in eine Gruppe zechender Gäste flog und dort den ganzen Tisch abräumte, erreichte das Gegröle einen neuen Höhepunkt.
Hauptsache, die Leute hatten etwas zum Jubeln. Immer das Gleiche mit dem Pack. Zuerst verlachten sie die Geschändeten, gleich darauf die Schänder. Morgen würden sie jubeln, wenn der Kopf in den Korb fiel und noch mehr, wenn er daneben fiel. Sie machten die Scheiße, die er nächtens wegräumte und auch sie waren es, die zu den Frauen und Mädchen kamen, die er in der Stadtherren Gnade gefügig machen sollte.
Er beobachtete das Mädchen, das gierig ihr Essen hinunterschlang und scheinbar nicht einmal mitbekam, was um sie geschah. Noch wahrscheinlicher war es nichts Neues für sie. Sie mochte vielleicht dreizehn Jahre alt sein. Eine weitere kleine Bettlerin, die er zur Hure machen sollte, damit die hohen Herren der Stadt noch mehr Geld in ihre prall gefüllten Säcke bekamen. Sie wurden immer jünger. Wohl hatte er schon manches Weib, auch junge, mit aller Gewalt im Auftrag der Stadt abgerichtet, aber eine wie die - in Gottes Namen - sie könnte seine Tochter sein.
Das Mädchen leckte bereits die Schüssel aus. Er machte dem Burschen ein Zeichen. Schnell und unterwürfig brachte er noch Eintopf und einen Krug mit Wasser. Er traute sich nicht einmal, den Henker anzuschauen. Der Tritt von vorhin brannte wohl noch.
Dies war einer der seltenen Momente, wo ihm recht war, dass man ihn fürchtete. Ansonsten war er sowieso von nahezu allem ausgeschlossen. Keine Kirchfeste, kein Wandeln auf Freiersfüßen. Immer nur Scham. Sicher, er wurde gut bezahlt, doch sehen wollte ihn keiner bei seinen Arbeiten. Ob er nächtens Abwässer reinigte, außerhalb der Stadtmauern Kadaver abdeckte, in dunklen Winkeln Dirnen abrichtete oder mit blutigem Schwert am Richtplatz stand. Bürger, Priester, Edelleute - sie brauchten jemanden wie ihn, aber wissen wollten sie nichts von ihm. Auch wenn alle tuschelten, der Vormarsch der Reformierten würde alles zum Besseren wandeln - so wirklich glauben konnte er nicht daran. Die Herren würden weiterhin die besten Stücke abbekommen und der Rest konnte leben oder sterben, das war ihnen egal.
Noch einmal betrachtete er das Mädchen und nickte selbstbestätigend. Nach diesem Essen würde er ihr ein paar Gulden geben und ihr raten, zu verschwinden. Vielleicht in ein besseres Leben. Danach konnte er nur hoffen, sie weder entlang der Stadtmauer noch auf seinem Richtplatz wiederzufinden.
Obwohl ... Ziemlich sicher würde er sie doch wiedertreffen.
Mit dem Löffel kratzte er die bereits kalten Reste seines Mahls aus der Schüssel.