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Ikarusblues

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11.07.2021
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Ikarusblues

“Wo sind die denn hin?”, fragte ich mich. Alles fing damit an, dass vor mir nachts zwei schwarzhaarige Männer über die Lichtenberger Brücke liefen. In jeder Hand trugen sie eine fast leere, weiße Plastiktüte. Ich hielt sie für Angehörige eines fahrenden Volkes. In Andalusien würde man Gitanos zu ihnen sagen.

Plötzlich waren sie weg, mitsamt ihren Tüten. Neugierig geworden blickte ich ihnen hinterher, in die Richtung, in der sie verschwunden waren. Ich entdeckte eine Treppe, die von dichtem Buschwerk verdeckt wurde, weshalb sie mir vorher wohl noch nie aufgefallen war. Sie führt von der Brückenauffahrt hinein in einen Tunnel für Autos und Fußgänger.

Ich erkannte in ihm den Tunnel wieder, durch den ich vor vielen Jahren oft mit dem Dreißiger-Bus gefahren bin. Er hatte mich immer begrüßt, wenn ich sonntags wieder in Berlin eingetroffen bin. Das war, wie wenn einem unverhofft ein alter Bekannter über den Weg läuft. Was das Wiedersehen mit ihm in mir auslöste, nennt man wohl Déjà-vu oder ein Flashback.

Ich fuhr immer zusammen mit Angelika, Petra, Karin und Susi, vier Kommilitoninnen, die auch aus dem Norden waren. Ich und die drei ersteren stiegen zusammen in einer Kleinstadt in Mecklenburg in den Zug. Am nächsten Halt steckten wir den Kopf aus dem Abteilfenster, damit Susi wusste, wo wir saßen.

Der Geschmack von H-Milch erinnert mich immer an diese langen D-Zugfahrten in gemütlichen, abgedunkelten Abteilen, wo man mit Freundinnen saß und draußen in der Dunkelheit die Welt an einem vorbeirauschte. Das liegt daran, dass früher H-Milch nur in den Mitropa-Abteilen der D-Züge verkauft wurde, in tetraedrischen Packungen. Im normalen Handel gab es gar keine H-Milch.

Mit Angelika verband mich außerdem noch, dass wir drei Jahre in einem Viermannzimmer im Lehrlingswohnheim verbrachten und zusammen Abi gemacht hatten.
Sie ist auch in Berlin geblieben.

Ich werde nie vergessen, wie ich bewundernd zusah, wie sie gleich an unserem ersten Tag im Lehrlingswohnheim eine Packung mit Verhütungspillen aus ihrer Tasche nahm und in ihr Regalfach legte. Da hatte ich mit sechzehn noch keine Verwendung für.

“Ist das vielleicht schon Angelikas Sohn?”, fragte ich mich und sah mir das Foto in der Zeitung an. Das Alter könnte hinkommen. Als ich sie das letzte Mal traf, schob sie ihn im Kinderwagen. "Die Geschichte unserer Liebe" hieß die Kolumne, die ich jeden Sonntag in der Morgenpost las, die sich mein Freund wegen dem Stellenmarkt kaufte. Der, der den gleichen Namen trug wie er, war gerade dabei, eine Lehrerin zu heiraten.

Petra dagegen war auf der Penne vier Jahre die Freundin von einer aus meiner ehemaligen Klasse gewesen, mit der ich bis zur achten die Schulbank gedrückt hatte. Die war naturwissenschaftlich hochbegabt und stammte aus einer Alkoholikerfamilie. Wie ich kannte auch sie ihren Vater nicht. Im Dorf wurde gemunkelt, dass er Student war, und sie bei einem Ernteeinsatz entstanden war. “Ihr Bruder und ihr Stiefvater sind zusammen mit Hund und Katze im Suff verbrannt”, erzählte mir meine Mutter später. Ihre Mutter hatte sie schon vorher an den Alkohol verloren. Durch ihre große Intelligenz konnte sie Abi machen, studieren und den Verhältnissen entfliehen.

Ich konnte mir gar nicht vorstellen, dass ein so nettes, gutmütiges, vielleicht ein bisschen verpeiltes Mädchen wie Petra die Freundin von meiner Klassenkameradin war. Die war nämlich ganz schön unangenehm geworden. Wie viele, die es mal nicht einfach gehabt hatten, übertrieb sie es jetzt ein bisschen und hielt sich für ein Genie. Wahrscheinlich hatte sie in der Freundschaft die Führungsposition inne und Petra ordnete sich unter. Ich konnte bei den beiden keine charakterlichen Übereinstimmungen erkennen. Meistens sind sich Freunde ja ziemlich ähnlich.


Von uns fünfen war eigentlich nur eine vergeben. Wir anderen hatten komische One-Night-Stands, damit gingen alle sehr offen um, und hangelten uns durch Prüfungen.

Die Studentenbewegungszeiten waren lange vorbei, und die gab es wohl sowieso nur im Westteil Berlins. Bei Mädchen wie uns, die in kleinbürgerlichen Verhältnissen in der ostdeutschen Provinz aufgewachsen waren, ging es eher darum unauffällig und bescheiden zu sein, fleißig zu sein, sich anzupassen und einen Ehemann zu erobern.

Wir lebten leider nicht in einer Hippiekommune in der Haight Ashbury sondern ziemlich isoliert im Studentenwohnheim in der Storkower Straße, mitten in Lichtenberg, wo wir eigentlich keinen Kontakt zu Berlinern hatten sondern nur zu unseren Kommilitonen.

Wir hatten den Eindruck, dass das Leben an uns vorüberzog und hatten Angst, dass das so bleibt.
Die Tatsache, dass man erst zwei Lebensjahrzehnte auf dem Buckel hatte, und angeblich alles noch vor einem lag, musste etwas zu oft als Trostpflaster herhalten.

„Unsere Jugend ist Wasserfarben." Dieser Satz aus dem gleichnamigen Roman von Thomas Brussig trifft es genau.

Noch heute denke ich mit Grausen an das langweilige Herumgestehe auf den Berliner Diskos, wo meine Freundin Doreen und ich die Berliner dabei beobachteten, wie sie miteinander Balzrituale vollführten, während im Hintergrund zum zehnten Mal am Abend „99 Luftballons“ gespielt wurde.

In der langsamen Runde, für die meist Neil Young herhalten musste, tanzten die Pärchen mit verklärten Augen Wange an Wange und schoben in Gedanken wohl schon Kinderwagen. Aber wenigstens war er musikalisch noch das einzige Erträgliche an dem Abend.
Wir gingen frustriert in unser Studentenwohnheim zurück.

„Wir wären viel lieber mit einem anderen Gefühl nach Hause gegangen, wahnsinnig glücklich oder so.“ Ebenfalls aus „Wasserfarben“.

Doreen und ich hatten uns gleich am allerersten Tag im Studentenwohnheim spontan angefreundet und sind zusammen in ein Zimmer gezogen. Das offene, fröhliche Mädchen mit dem Lockenkopf, dass wie ich auch aus Norddeutschland stammte, nahm mich sofort in Beschlag. Da hatte ich also eine Freundin gefunden.

Eigentlich war Doreen immer die Verrücktere von uns beiden, wobei ich aber mit den Jahren aufgeholt habe. Ich werde nie vergessen, wie wir an einem knallheißen Hochsommertag mit dem stickigen Dreßiger Bus, der vor unserem Wohnheim in der Storkower Straße abfuhr, durch ganz Berlin gondeln mussten, weil meine Freundin unbedingt eine Schar Meerschweinchen und Kaninchen für unser Zimmer im Studentenwohnheim erwerben wollte.
Die Idee gefiel mir gar nicht. Sie ließ sich aber nicht davon abbringen. Zum Glück für mich fanden wir keine offene Tierhandlung.

Ich sehe sie noch, wie sie mit Wandergitarre und Metronom dasitzt und stundenlang angestrengt Griffe übt. Nur mit Hilfe einer Schallplatte hat sie sich selbst mit eisernem Willen das Gitarrenspiel beigebracht, als ihr Freund sie verlassen hatte, und spielte schon nach kurzer Zeit phantastisch, viel besser als andere, die jahrelang Unterricht hatten.

Ihre einzige Voraussetzung, die sie mitbrachte, war, dass die Pastorin aus ihrem norddeutschen Heimatstädtchen ihr das Notenlesen beigebracht hat. Merkwürdigerweise war meine Freundin über Nacht zur Gitarrenvirtuosin geworden. Da hatte eine Krise auch mal was Positives bewirkt.

Bei ihrem Liebeskummer habe ich ihr übrigens nicht viel Trost gespendet, da ich so was nicht kannte. Später, als ich mich auch verliebte und verlassen wurde, bereute ich das und wollte alles wiedergutmachen. Damit ging ich ihr, die langsam drüber weg kam, bloß auf den Wecker.

Wenn ich sie beim Spielen beobachtete, staunte ich, was in meiner Freundin, die mir vorher als ganz normales Mädchen erschienen war, so Verborgenes steckte. Hier war Jemand begabt. Ich glaube im Grunde kannten wir uns beide gar nicht richtig, und jede hatte wohl eine falsche Vorstellung von der Anderen.

Das Gitarrenspiel war für sie wohl auch so eine Art Ausbruch.

Vielleicht sind wir auch Freundinnen gewesen, weil wir alle beide zu Leichtsinn, Vertrauen und spontanen Entschlüssen neigen.

Leider stand der musikalisch begabten Doreen der Weg in eine Band oder so etwas nicht offen. Dafür kannten wir viel zu wenig Leute.

Obwohl, einmal hatte Doreen einen Musiker getroffen. Es war noch in ihrer Lehrlingszeit. Mit ihrer besten Freundin saß sie spätabends in der Broilerbar in Rostock, und die beiden langweilten sich. Ein Trupp Musiker aus Berlin trudelte ein. Sie hatten gerade ein Konzert in Rostock gegeben. Ein Gitarrist interessierte sich für Doreen und lud sie zu einer Fete ins Hotel ein. Er, der auch erst 18 war und als großes Talent galt, spielte ihr Blues auf seiner Gitarre vor. Später hat sie mir mal sein Bild in einer Zeitung gezeigt. Er war ein offen wirkender, langhaariger Bursche.

Zum Glück hat wenigstens Janis für uns die Kartoffeln aus dem Feuer geholt und ist nicht bloß nur wieder eine von den Frauen geworden ist, die vor der Bühne stehen und die Musiker anhimmeln. Meine Lieblingsszene aus dem Film „The Rose“, der an ihr Leben angelehnt ist, ist die Stelle, wo sie dem bekannten Musiker begegnen soll und der sie einfach rauswirft: so nach dem Motto „Was willst Du überkandidelte Schlampe hier?“. Er hatte sich gemütlich eingerichtet in seiner Männerdomäne Musik.

Vor einigen Jahren lief ich ihr hier am Ostkreuz mal zufällig in die Arme. Doreen freute sich sehr, ich glaube, wenn sie mich trifft, wird sie wieder 19, und ich wurde prompt zu ihrem Geburtstag am selben Abend in die Lichtenberger Parkaue eingeladen.

Doreens Söhne wundern sich, dass sie mich nicht kennen und fragen ihre Mutter nach mir. Doreen und ich drucksen beide verlegen herum. Wir haben uns wohl irgendwann verloren. Aber wenigstens schicke ich nicht noch jedes Jahr eine Weihnachtskarte.


Mich erregte es jedes Mal, wenn der Zug sich langsam Berlin näherte. Die Leute auf den S-Bahnsteigen, durch die wir durchfuhren, sahen ganz anders aus, als da wo wir herkamen.

Petra, Susi, Angelika und Karin hatten herausgefunden, dass man am bequemsten zum Wohnheim in der Storkower Straße gelangt, wenn man in Oranienburg vom D-Zug in die S-Bahn umstieg, damit bis zum Ostbahnhof fuhr und danach mit dem Dreißiger-Bus nachts stundenlang durch ganz Friedrichshain und Lichtenberg gondelte. Ansonsten hätten wir ständig umsteigen müssen.

Ich brauche ihre Namen nicht zu ändern, da erkennt sich sowieso niemand, denn unsere Eltern wollten nichts falsch machen und gaben uns Dutzendnamen ohne Wiedererkennungswert, weil sie dachten, dass welche, die auf Phantasie hindeuten, oder überhaupt etwas bedeuten, uns nur Schwierigkeiten im Leben bereiten werden.

Wir Provinzmädchen blickten neugierig durch die Busfenster des orangeroten Schlenkis, wie die tschechischen Ikarus Busse genannt wurden, auf das nächtliche Berlin.

Draußen lag eine unbekannte Welt, die uns erwartungsvoll machte. Man träumte von Abenteuern, Erfolgen und natürlich von der Liebe. Aber unsere Gemeinschaft im vertraut nach Diesel riechenden Schlenki gab uns auch eine Sicherheit und einen Schutz vor der nächtlichen unbekannten Außenwelt.

Petra und Karin hatten mir erzählt, wie sie und andere, während einer Nachtschicht im Studentensommer in der Großbäckerei in der Saarbrücker Straße, ein warmes Bauernbrot vom Band nahmen und aus dem Fester warfen. Eine schräge Idee über die viele, die davon hörten, mit dem Kopf schüttelten. Nach Feierabend war das Brot verschwunden. Sie konnten sich nicht einkriegen vor Lachen darüber. Ihre Fröhlichkeit konnte ich nicht verstehen. Im Grunde waren sie nette Mädchen, aber wir kannten das Leben nicht.

Da lebten wir also in einer Stadt, wo es Leute gab, die es nötig hatten, Brot von der Straße aufzuheben.

Insgeheim wusste man irgendwie, eines Tages wäre man alleine mit der Realität außerhalb der Busfenster konfrontiert. Das machte uns auch irgendwie Angst. Nach Beendigung unseres Studiums verlor ich den Kontakt zu meinen nächtlichen Reisegefährtinnen. In vielem ist es so gekommen, wie ich damals im Geheimen befürchtet habe.

Besonders tief hat sich der Augenblick in meine Erinnerung eingegraben, wenn der Bus, vom Bahnhof Lichtenberg kommend, den Tunnel verließ, und auf der ansteigenden Skandinavischen Straße nach oben fuhr und der Blick plötzlich auf eigenartige meterhohe Wände fiel, von denen die Fahrbahn links und rechts wie ein Hohlweg umschlossen war.

Das war ein herrliches Gefühl, denn in dem Moment waren wir allein, die Stadt und ich. "Guten Tag Berlin. Wirst du mir ein Feind sein? Wirst du mir ein Freund sein?", eröffne ich das Gespräch.*

Und was bekam ich zu hören: “Verpiss dich gefälligst. Die Stadt ist zu hart für dich. Von deiner Sorte haben wir hier schon genug.”

“Du bist ganz schön fies zu mir. Du könntest ruhig etwas netter sein zu deiner Neubürgerin”, erwidere ich.

“Mädel, ich geb dir einen guten Rat. Das hier ist nichts für dich. Fahr nach Mecklenburg und heirate den Nachbarsjungen.”

Darauf ich: “Halt das Maul du fiese, eingebildete City. Du bildest dir wohl ein, du bist die größte. Aber gegen New York bist du nur ein Fliegenschiß. Sogar Sankt Petersburg ist größer als du.”

Was haben die Eingeborenen hier schon gerissen gekriegt? Nicht mal Heinrich Zille und Claire Waldoff sind aus Berlin. Sogar das meiner Meinung nach schönste Gebäude der Stadt, das Pumpwerk an der Landsberger, hat ein Engländer erbaut. Manchmal denke ich, dass Berlin nicht viele große Künstler hervorgebracht hat, sie kamen ja meist von außerhalb, liegt daran, dass die Einheimischen zu pragmatisch denken. Hinter ihrem sogenanntem Mutterwitz versteckt sich eine latente Kleinbürgerlichkeit, die ihnen in den Genen liegt. Um richtig abzuheben, dafür sind sie zu zweckorientiert.

Jemand, in den ich mal verliebt war, war auch so. Als eine Freundin bei mir auszog, ihre Möbel mitnahm und die Waschmaschine, und der Raum mit einmal leer stand, war er enttäuscht. Er, als praktisch veranlagter Berliner, hatte den Plan gehabt, bei mir einzuziehen, um sich keine eigene Wohnung einrichten zu müssen. Er übersah aber bedauerlicherweise, das die, von der er Hilfe erwartete, nicht von hier war und eigentlich selber welche brauchte und sich nur schlecht und recht über Wasser hielt.

Diese Stelle, an der die Straße den Tunnel verlässt, ist bei Nacht der aller einsamste Ort in der ganzen Stadt, genauso einsam wie die Kreuzung gewesen sein muss, an der Robert Johnson seine Seele dem Teufel verschrieb und als Gegenleistung dafür mit einmal plötzlich göttlich Gitarre spielte.

Der Teil von Lichtenberg hat um die Zeit hat den Blues. Man hätte sich gar nicht gewundert, wäre vor dem Busfenster plötzlich wie ein Gespenst ein blinder, schwarzer Mann mit Gitarre aufgetaucht, der von einem Jungen an der Hand die Straße entlanggeführt wird. Es war der Höhepunkt der Blueswelle bei uns, und gefühlt jeder zweite versuchte sich am Blues. Auch ich besaß eine Mundharmonika, die mir zum Glück von jemandem geklaut wurde, der das Instrument beherrschte.

Einmal lief ich einem Kumpel über den Weg, der gerade für eine Weile wegen Graffiti hinter schwedischen Gardinen eingesessen hatte. Dort hatte er Zeit gehabt nachzudenken. “Mir ist eins klargeworden: Den Blues haben die Blinden gemacht”, sagte er zu mir. Er war übrigens der Mundharmonikadieb. “Im Grund hat er ja recht. Sie haben aus der Not ´ne Tugend gemacht.”, dachte ich. Aus dem Stehgreif kriegte ich einige zusammen, deren Namen mit dem Vorwort Blind begannen.

Eines nachts lief in der Nähe von unserem Wohnheim ein dicker Junge vor mir her und spielte Mundharmonika. Ich verfolgte ihn eine Weile auf seinem Weg durch die ausgestorbenen daliegenden Straßen Lichtenbergs. Schließlich verschwand er in einem Haus. “Das ist ja die absolute Stadt. Hier spielen die Leute nachts auf der Straße Blues”, dachte ich.

So etwas gab es in meinem Dorf nicht.

Hier hätte er hingepasst mit seinem Blues. Im Inneren vom Tunnel hätte seine Musik bestimmt noch besser geklungen, und das Echo seiner Harp wäre von den Wölbungen der gemauerten Tunnelwände zurückgeworfen worden. Er spielte nicht untalentiert. Außerdem hätte die düstere Atmosphäre dort gut mit seiner inneren Wüste korrespondiert, denn dass der Bursche Liebeskummer hatte, sah ein Blinder mit Krückstock. So richtig fühlt man den Blues ja oft erst, wenn man ihn selber hat.

“Wenn du eine Kneipe für Schwarze betrittst, bekommst du eins auf die Nase. Wenn dagegen ein Schwarzer in eine Kneipe für Weiße kommt, spricht keiner mit ihm”, erzählte mir ein Mann aus Amerika.

Früher hatte ich immer geglaubt, dass Janis und die anderen Musiker, die in den Südstaaten aufwuchsen, auf Schritt und Tritt mit dieser echten, ursprünglichen Musik in Berührung kamen. Sie hatten den Blues ja praktisch vor der Haustür und brauchten nur in den nächsten Ballroom gehen, wo die schwarzen Musiker spielten, um ihm zu lauschen. Erst später ist mir klargeworden, dass das nicht stimmt. Zuerst haben sie die Musik auch nur auf Platten gehört, denn sie hatten kaum etwas mit Schwarzen zu tun.

Das lag daran, dass das weiße und das schwarze Viertel streng voneinander getrennt waren. Man blieb unter sich.


Ich stehe auf der Lichtenberger Brücke und blickte den beiden einsamen Wanderern, die dabei sind, mit ihrem leichten Gepäck die Skandinavische Straße zu erklimmen, die zu einem Berg anwächst, wenn sie aus der Tiefe des Tunnels an die Oberfläche kommt, noch eine Weile hinterher. Ich spürte eine geheime Verwandtschaft mit ihnen. Mich mochten sie auch nicht, und genau wie sie war ich eine Fremde geblieben und gehörte nirgendwo rein.

Der Flamenco ist ja für die Gitanos dasselbe, wie in Amerika der Blues der Schwarzen. In einem Video habe ich mal einen Sänger gesehen, der in einer Tiefgarage neben den Autos stand und aus dem Stehgreif improvisierte. Er entriss seiner Kehle in rauen Tönen, die tiefstes Leid ausdrückten, die uralte Geschichte seines heimatlosen Volkes. Das Lied der Erniedrigten und Beleidigten.

Konnten die beiden eigentlich singen? Nach einer Weile wurden auch sie vom nächtlichen Lichtenberg verschluckt, und diese Ecke der Stadt liegt wieder so verlassen da, wie es sich dort für diese Uhrzeit gehörte. Wo sie wohl hingegangen sind, und was war eigentlich in den Tüten?

*etwas abgewandeltes Zitat aus dem Stück von Walter Mehring “Der Kaufmann von Berlin”

 
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Hey Frieda!

Ich steige in deinen Text ein:

Petra, Karin, Susi und Angelika, vier Kommilitoninnen, die auch aus dem Norden waren, hatten herausgefunden, dass man am bequemsten zum Wohnheim in der Storkower Straße gelangt, wenn man in Oranienburg vom D-Zug in die S-Bahn umstieg, damit bis zum Ostbahnhof fuhr und danach mit dem Dreißiger-Bus nachts stundenlang durch ganz Friedrichshain und Lichtenberg gondelte.
Dass die Freundinnen stundenlang nachts in einem Bus zu fahren als "bequem" empfinden, verstehe ich eher als eine Metapher, richtig? Erscheint mir aber in Bezug auf echte Menschen etwas unglaubwürdig.

Draußen lag eine unbekannte Welt, die uns erwartungsvoll machte. Man träumte von Abenteuern, Erfolgen und natürlich von der Liebe.
Die Studizeit, Anfang, Mitte, Ende Zwanzig, in der man die Freiheiten des Erwachsenenlebens erfährt, aber zugleich noch nicht die Verantwortung hat, welche die spätere Arbeitswelt mitsichbringt. Sie wirkt noch so weit weg und abstrakt und man malt sie sich maximal aus, während man verträumt nachts aus dem Busfenster schaut.

Ich brauche ihre Namen nicht ändern
Den Hinweis habe ich nicht verstanden, warum sollte die Erzählerin die Namen ändern?

Das Leben ist kein Ponyhof.
Weiß nicht, wie ich diese Floskel an der Stelle finde.
eröffne ich das Gespräch.
An dieser Stelle wechselst du ein paar Mal in der Zeit.
“Mädel, ich geb dir einen guten Rat.
Flüchtigkeitsfehler.
“Halt das Maul du fiese, eingebildete City.
Ich weiß nicht, sprechen Leute so? "Halt das Maul"? "City"?
eingebildete City. Du bildest dir wohl ein
Wortdoppelung.
Er übersah aber bedauerlicherweise, das die
dass
auf sich auf allein angewiesen,
Kann weg.
Im Grund hat er ja recht.
Grunde
Aus dem Stehgreif kriegte ich einige zusammen, deren Namen mit dem Vorwort Blind begann.
begannen
von den Wölbungen der gemauerten Tunnelwänden
Tunnelwände

Ich glaube, dass ich bei deinem Text emotional investierter gewesen wäre, wenn du beim Erzählen noch stärker bei einzelnen Figuren (etwa den Kommilitoninnen) geblieben wärst oder nicht immer wieder zwischen Assoziationen herumgesprungen wärst.
Den roten Faden in deiner Geschichte bilden nach meinem Verstehen anstelle von Figuren oder einer Geschichte eher Motive wie der Blues, die Brücke, der Bus, die mehr eine metaphorische Bedeutung verkörpern.

Ich mag die Melancholie, welche deine Geschichte durchzieht und ich bin mir sicher, wenn ich aus Berlin wäre oder einen größeren Bezug zur Stadt hätte, könnte ich mich noch mehr hier wiederfinden.


LG, Markus

 

Hallo @Orange ,
ich finde es super, dass Du die Quintessenz meines Textes herausgelesen hast. Es geht wirklich um Melancholie. Die Hauptakteure sind keine Menschen sondern Tunnel und Brücken.
Die Mädchen, die damals im Schlenki - Ikarusbus - mit mir gereist sind, sollen sich natürlich nicht wiedererkennen, falls der Text einer von ihnen mal in die Hände fällt, was nicht sehr wahrscheinlich ist, aber man weiß ja nie. Unsere Namen sind aber so weitverbreitet, dass das wohl nicht passieren wird. Petra, Susi usw. hieß ja jeder zweite.
Ich fuhr damals zusammen mit ihnen im Dreißiger Bus, fühlte mich aufgehoben und hatte aber irgendwie das unbestimmte Gefühl, dass es nicht immer so bleiben wird, und ich noch ganz schön Stress bekommen werde.

Vielleicht habe ich zu viel über Blues geschrieben. Ich wollte dadurch das Thema Außenseitertum, Einsamkeit, Verlorenheit, nirgendwo zugehörig sein in den Focus rücken. Ich selber und auch die anderen, die mit mir im Bus gefahren sind, waren ja völlig fremd in der Stadt und kannten niemanden.

Und außerdem hat es sich wirklich so abgespielt, dass ich zwei Vertretern eines fahrenden Volkes hinterhergeschaut habe und dadurch den Tunnel wiederentdeckt habe, durch den ich zu Studentenzeiten oft gefahren bin.
Ich habe auch wirklich darüber nachgedacht, wie es mit den Sangeskünsten der beiden aussieht. Sie waren ja Osteuropäer und der Flamenco kommt ja aus Andalusien. Paco de Lucia ist auch ein Gitano.

Ich wollte die Bluesgeschichte aber unbedingt mit reinnehmen, da sie den Zeitgeist widerspiegelt, denn diese Musik war wichtig bei uns. Jede Frau, die Interesse für Musik hatte, hielt sich für die Reinkarnation von Janis Joplin. Ich natürlich auch. Gerade zu meinen Studentenzeiten befand sich in der ehemaligen DDR die Blueswelle auf ihrem Höhepunkt, und viele versuchten sich auch selber an dieser Musik.
Dass ich dem dicken Jungen nachts eine Weile durch Lichtenberg hinterhergelaufen bin und seinem Mundispiel gelauscht habe, ist auch wirklich so gewesen.In den alten Bundesländern spielte zu der Zeit der Punk eine große Rolle. Wir Ostdeutsche waren da Nachzügler.
Gruß Frieda

 

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