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Mein Vater

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10.10.2006
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Mein Vater

Manche sagen, mein Vater sei schon immer seltsam gewesen. Schon als Kind. Er habe so eine Art gehabt, einen anzuschauen, sagen sie. Aus diesem hageren Gesicht, mit den dünnen, weizenblonden Haaren. Er hätte etwas an sich gehabt, was nicht in die damalige Zeit gepasst hätte. Etwas Altes. Einmal seien sie auf einer Brücke gesessen, keiner sehr hohen, es gibt sie heute noch, vielleicht drei, vier Meter über einem Bächlein, hätten die Füße hinunterbaumeln lassen und herumgekaspert. Und der größte von ihnen, Herr Marquardt hieß er später - er hat den Schuhladen seines Vaters übernommen und ist vor ein paar Jahren an Darmkrebs gestorben -, der meinte: „Lasst uns springen.“ Und die anderen natürlich auch: „Ja, genau. Wer nicht springt, ist ein Feigling.“ Und mein Vater, der ganz links gesessen hatte, das wissen die Leute noch, sei einfach runtergesprungen. Obwohl die anderen das natürlich nur als Scherz gemeint hatten, als Mutprobe. Und mein Vater sei dann mit Schrammen im Gesicht im Wasser gestanden und hätte sie von da unten mit grimmigen Augen angesehen, das sagen sie: „grimmig“. Und ihnen oben hätte es die Sprache verschlagen. Aber mein Vater habe kein Wort gesagt, habe sie auch nicht aufgefordert, jetzt doch auch zu springen oder sie geneckt mit ihrer Feigheit, mein Vater sei mit nassen Kleidern nach Hause gegangen. Und danach habe er nie wieder mit ihnen gespielt.

Wenn ich meine Mutter frage, ob mein Vater seltsam gewesen sei, sagt sie nichts. Es ist nicht so, dass sie mir nicht antwortet oder dass sie mich ignoriert. Sie hört die Frage einfach nicht. In ihrer Welt gibt es diese Frage nicht. Wenn ich sie frage, wie sie ihn damals kennengelernt hat, ob sie ihn geliebt hat, ab wann sie ihn geliebt hat, wann sie sicher gewesen sei, ihn geliebt zu haben? Ob es da einen Punkt gegeben habe, einen magischen Moment, etwas, von dem sie erzählen könne, als sei es gestern passiert, dann gibt es diese Fragen für sie nicht. Sie macht mit dem weiter, was sie gerade gemacht hat. Legt die Wäsche ordentlich zusammen, rührt im Topf umher oder liest in ihrem Buch.

Und wenn mich jemand fragt, wie mein Vater so gewesen sei. Dann ist es eine Mutprobe. Derjenige hat sich überwinden müssen, mich das zu fragen. Meist sagt er vorher, dass es okay sei, wenn ich nicht darüber sprechen wolle. Müsse ja schwer für mich sein, darüber zu sprechen. Aber ich solle mir keine Sorgen machen. Man höre mir zu. Man sei nur interessiert. Aber es ist nichts, was man so eben fragt. Es ist keine Frage nach einem unwichtigen Detail, nach einem Puzzlestückchen, das man noch braucht, um ein Bild vollständig zu haben. Wenn mich jemand fragt, wie mein Vater so gewesen sei, sage ich immer: Still. Ein ruhiger Mensch. Rauchte nicht, spielte nicht und ich habe nie etwas über andere Frauen gehört. Und dann trauen sie sich manchmal, vielleicht wenn sie schon etwas getrunken haben, dann trauen sie sich und fragen: „Und zu Kindern?“ Nein, sage ich dann. Gar nichts. „Und zu dir?“, fragen die Allermutigsten. Und ich weiß natürlich, was sie hören wollen, dass er mich angefasst hat, dass es schlimm war, ganz grausig, aber Nein. Nein, Nein und nochmals Nein. Still sei er gewesen. Ganz still.

Wenn mich meine Kinder mal nach ihm fragen werden, obwohl ich nicht weiß, ob ich je Kinder haben werde, weil mich ihre Mutter wahrscheinlich nach meinem Vater fragen wird, wenn mich meine Kinder mal nach meinem Vater fragen werden, weil sie von ihm gehört haben, weil sie immer von ihm hören werden, weil so etwas einen verfolgt, weil es wie ein Schatten über einem kreist, weil man daran denkt, wenn man sich die Zähne putzt, wenn man den Wagen anlässt und wenn man auf einen alten Baum starrt, im Winter, wenn er kein Laub mehr trägt. Wenn mich meine Kinder nach ihm fragen werden, werde ich sagen: Er hat nichts mit euch zu tun. Gar nichts. Und ich werde sie anlächeln.

 

Hallo, Quinn,
beim ersten Mal lesen gefiel mir die Geschichte zwar, jedoch störten mich die Sätze mit Einschüben, die scheinbar nichts mit der Sache zu tun hatten, wie z.B. bei der Brücke (es gibt sie heute noch) oder bei den Jungen (er ist an Darmkrebs gestorben). Beim zweiten Mal Lesen jedoch empfand ich ganz anders: Ist es nicht genau so, wie man wirklich denkt? Wenn man an etwas denkt, bleiben die Gedanken nie immer nur bei der Sache. Diese Kleinigkeiten gehörten also wirklich nur scheinbar nicht dazu. Die Gedanken des Jungen oder jetzt Mannes kamen dadurch noch viel stärker herüber. War das ein gewollter Kunstgriff oder war es Zufall? Jedenfalls war die Wirkung toll.

Im Grunde lässt Du offen, ob der Vater den Sohn missbraucht hat oder nicht. Ich tendiere eher dazu zu glauben, dass es nicht so war. Vielleicht andere Kinder (deshalb die Scheu der anderen zu fragen, wie es mit dem eigenen Sohn war), aber nicht den eigenen Sohn. Denn es wäre schwer zu verstehen, dass ihm dann der Sohn noch Liebe entgegenbringen könnte. Allerdings, wo steht etwas davon, dass der Sohn den Vater noch liebt? Man glaubt es den Zeilen entnehmen zu können, aber ist es wirklich so? Vielleicht versucht er aber auch nur mit dem dreifachen Nein auf die Frage irgendwelche Erinnerungen abzuschütteln und sich selbst zu überzeugen, dass es nicht so war.
Wie auch immer - eine sehr eindringliche Erzählung, die man nicht nur einmal lesen sollte, denn bei jedem weiteren Mal entdeckt man immer wieder neue Aspekte, Facetten und Tiefen.
Vielen Dank dafür
Hannah

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Quinn,
du präsentierst zu einem brisanten Thema eine gute Geschichte, die hautnah rüberkommt, gerade, weil sie weglässt, was unausgesprochen im Raum steht.

Die Wahrheit, wenn sie denn in Worte gefasst würde, wäre sowohl für die Fragenden als auch für den Protagonisten so erschlagend, dass sie umschrieben, versteckt, verschwiegen, ja gar heftig negiert wird.
Zur zentralen Frage wird nicht <Was war wirklich?>, sondern <Wie kann ich die Fragen umgehen?“
Abblocken, damit das Vater-, Großvaterbild aufrechterhalten werden kann!

Eine großartige Verdrängungsstudie: Es ist nicht, was nicht sein darf!
Und was nicht ausgesprochen wird, dem muss man sich auch nicht stellen.
Das betrifft nicht nur den Protagonisten, sondern auch die Fragenden.
Das notwendige Wort <Ja> wird als <Nein> ausgesprochen und beide Gesprächspartner atmen auf, weil sie wieder einmal davongekommen sind.
Und doch steht es im Raum, dieses <Ja>, bedrohlich, vernichtend.

Stilistisch gut gelöst: Hier wird nicht vom Mut des Befragten gesprochen, sich zu seinen Kindheitserlebnissen zu äußern, sondern vom Mut der Fragenden, die zentrale Frage zu stellen, auf die es eine eindeutige Antwort gäbe.
Die Fragenden kreisen ums Zentrum, testen vorsichtig ab. Doch wenn es ans Eingemachte geht, geben sie dem Befragten Gelegenheit zum Ausweichen, zum Abblocken.
Und dann trauen sie sich manchmal, vielleicht wenn sie schon etwas getrunken haben, dann trauen sie sich und fragen: „Und zu Kindern?“ Nein, sage ich dann. Gar nichts.
(Übrigens: Sollte man den Satz nicht in Redezeichen setzen?)

Sie hat mir vom Aufbau und der sprachlichen Gestaltung her gefallen, diese kurze Geschichte vom Nein, das ein Ja sein sollte.
(Beim Sujet an sich kann man ja nicht von <gefallen> sprechen)


Gruß
Kathso

 

Hallo regi,

schön, dass du die Geschichte ausgegraben hast. Danke dir für den Kommentar

Quinn

Hallo Pardus,

Betoffen macht mich vor allem der letzte Absatz: das Geschehene wirkt nach, mag der Prot tun oder lassen, was er will, und er wird es in irgendeiner Form an die Kinder weiterreichen. Und sei es in einem Schweigen, bei dem sie genau spüren werden, dass es eine unangenehme Tiefendimension hat.
Das ist schön, dass die Geschichte wirkt, sie ist im Aufbau her auch weniger eine "erzählung", als mehr ein Bewußtsseinsstrom, da spricht jemand über sich, über diesen Konflikt, mehr als die Absicht zu verfolgen, eine Geschichte zu erzählen mit einem chronologischen Aufbau. Ich finde dadurch wirkt sie tatsächlich "realer", wenn auch diese Leerstellen dann offen bleiben, die - und das nehm ich als Kompliment für die Geschichte - auch einige beschäftigt haben.

Danke dir für den Kommentar
Quinn

Hallo Jutta,

ein Narr, wer Zufall darin sieht: An anderer Stelle wird ellenlang über eine unsägliche Missbrauchsgeschichte diskutiert und moralisiert, und hier taucht nach fast einem Jahr diese intensive Geschichte auf, die mir die Schuhe auszieht, weil sie alles andere als reißerisch ist und genau jene Aspekte beinhaltet , die der unsäglichen so völlig abgehen. Wunderbar!
Gut, die andere Geschichte hab ich nicht gelesen, ich würde auch selbst keine Mißbrauchsgeschichte schreiben. Bei der hier handelt es sich für mich auch nicht um eine Mißbrauchsgeschichte, sondern es geht um diesen Schatten, der über seinem Leben kreist und auf es drückt, ohne dass er dafür irgendeine Verantwortung hätte.

Freut mich, dass du die Geschichte so gut fandest
Quinn

Hallo Hannah,

Diese Kleinigkeiten gehörten also wirklich nur scheinbar nicht dazu. Die Gedanken des Jungen oder jetzt Mannes kamen dadurch noch viel stärker herüber. War das ein gewollter Kunstgriff oder war es Zufall? Jedenfalls war die Wirkung toll.
Nein, das war kein Zufall. Ich versuche solche Geschichten auch immer "zu verankern". Wenn man diese scheinbar unwichtigen Details weglassen würde, wie die Brücke oder den Darmkrebs da, würde die Geschichte fast in einem Vakuum spielen. Es sind ja wenig Szenen, die wirklich beschrieben werden, die eigentliche Handlung spielt sich eher in den Gedanken ab, von daher fand ich es schon wichtig, so viel Fleisch dann noch an die Geschichte zu bringen wie es möglich ist, ohne die Komposition zu überladen.

Im Grunde lässt Du offen, ob der Vater den Sohn missbraucht hat oder nicht. Ich tendiere eher dazu zu glauben, dass es nicht so war. Vielleicht andere Kinder (deshalb die Scheu der anderen zu fragen, wie es mit dem eigenen Sohn war), aber nicht den eigenen Sohn. Denn es wäre schwer zu verstehen, dass ihm dann der Sohn noch Liebe entgegenbringen könnte. Allerdings, wo steht etwas davon, dass der Sohn den Vater noch liebt? Man glaubt es den Zeilen entnehmen zu können, aber ist es wirklich so? Vielleicht versucht er aber auch nur mit dem dreifachen Nein auf die Frage irgendwelche Erinnerungen abzuschütteln und sich selbst zu überzeugen, dass es nicht so war.
Das sind die Fragen, die die Geschichte idealerweise auslösen sollte. Durch diese Fragen wird man - wenn es denn funktioniert - dazu gezwungen, sich mit der Geschichte zu beschäftigen und sie zu hinterfragen.

Freut mich, dass dir die Geschichte so gut gefallen hat, danke dir
Quinn

Hallo kathso,

Eine großartige Verdrängungsstudie: Es ist nicht, was nicht sein darf!
Und was nicht ausgesprochen wird, dem muss man sich auch nicht stellen.
Das ist die Tragik des Lebens. Es geht halt irgendwie weiter. Die Geschichte setzt ja dort an, wo das Boulevard schon wieder aussteigt. Es ist etwas Schreckliches passiert und die Wunde verheilt nicht. Hier auf der "Täter"-Seite, wenn man so will, während man häufiger noch etwas von den Eltern der Opfer liest.

Danke auch dir für den Kommentar; ist ein schönes Gefühl, wenn so eine Geschichte, die vor einem Jahr viel Resonanz bekam, dann nochmal einen Wind abbekommt, hat man nicht so das Gefühl nur immer Aktuelles nachschieben zu müssen. ;)
Quinn

 

Eine sehr schöne Geschichte. Mir gefällt es, wie du den Erzähler von seinem Vater sprechen lässt. Auf keinen Fall übertrieben, sondern nachvollziehbar, finde ich.

 

Hallo Yoko,

es freut mich, dass dir die Geschichte gut gefallen konnte.

Gruß
Quinn

 

Hi Quinn,

schöner Text, hat mir gefallen. Du erzählst eine Geschichte, ohne wirklich viel zu erzählen, der Vater wird zwar ein wenig beschrieben, bleibt aber im Großen und Ganzen ziemlich ... neblig. Behaupte ich mal. Und es gibt diese Anspielungen, die aber nichts erklären, sondern eher noch Fragen aufwerfen. Dadurch entsteht eine rätselhafte Atmosphäre, ich hab mich gefragt, ob und was da jetzt passiert ist, aber das hat alles schön zusammengepasst. Jub, ich fand's gut.

Ich hab die Vorgängerkommentare nicht gelesen, eventuelle Interpretationen und/oder Erklärungen kenn ich nicht. Wollte unvoreingenommen meinen Senf dazugeben.

Lieben Gruß
backslash

 

Hallo backslash,

schön, dass es dir gefallen hat. Ja, das "neblige" macht für mich auch den Reiz der Geschichte aus, sie ist ja sehr knapp erzählt und wirft nur ein Schlaglicht auf das Geschehen.

Danke dir für den Kommentar
Quinn

 

Hallo Quinn,

deine Geschichte ist in einem interessanten Stil geschrieben. Wie soll man ihn benennen – karg, schlicht? Auf alle Fälle eindringlich, diese Sprache, reduziert, auf das Wesentliche.
Doch nicht nur dieser Stil hat mich angesprochen, auch die Charaktere der einzelnen Personen. Die Mutter übersieht man leicht – doch was ist das für eine Mutter, für die Dinge, die zur Realität gehören, nicht existieren? Eigentlich ist das die falsche Frage, eher: Welche Umstände haben die Frau so geformt, dass sie sich so verhält?
Die vielen (kleinen) Andeutungen in deinem Text lassen ein Bild von einem Vater entstehen, mit dem der Protagonist wohl Frieden schließen musste, auch Frieden geschlossen hat, lächelnd.
Hat mir gefallen.

Was hältst du davon, bei deiner Geschichte „Mein Vater“ im unteren Abschnitt den Satzteil

„obwohl ich nicht weiß, ob ich je Kinder haben werde“

in Gedankenstriche zu setzen? Ich finde der vorausgehende Satz und der nachfolgende sind dann besser in Beziehung zu bringen.

LG,

Woltochinon

 

Hallo Woltochin,

freut mich, dass dir der Stil und auch die Geschichte gefallen konnten. Ob der Protagonist wirklich Frieden geschlossen hat oder vordergründig Frieden schließen "musste" - ist eine interessante Frage. Die Geschichte hat da ja keine ordnende Funktion, sondern nur eine erzählende, berichtende.
Er schildert einen Zustand eher als sie noch einmal für sich zu ordnen, es findet ja keine erneute Auseinandersetzung mit dem Vater statt, vielleicht bis auf den letzten Abschnitt, den Blick eine mögliche Zukunft, wobei dort eben auch die Angst durchscheint, dass er nicht das bekommen wird, wonach er sich sehnt, eben durch die Vergangenheit.

Freut mich auch, dass dir die Mutter aufgefallen ist.

Zu den Gedankenstrichen: Da bin ich kein großer Freund von, Gedankenstriche benutze ich fast nur um andere Gedankengänge als Einschub deutlich zu machen. In dem Fall hier gefällt mir eher das "Überschlagene" der Gedankengänge,, der Gedanke kommt ihm da in die Quere, ein Gedankenstrich würde da wieder ein ordnendes Element einfügen, was mir an der Stelle gerade nicht so behagt.

Vielen Dank für deine Kritik
Quinn

 

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