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Nachts

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08.11.2004
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Nachts

Sie gingen alle fort. Verließen sie. Ließen sie im Stich. Nur sie war noch da. Musste fliehen aus der Heimat. Musste Söhne beerdigen. Musste Töchter beerdigen. Eltern, Ehemann. Blieb allein. Konnte nichts anderes tun. Voller Erinnerung, voller Vergangenheit, ohne Perspektiven, ohne sich.
Sie lebte fortan in einem kleinen Haus. Fern ab von der Stadt. Bei einem Wäldchen. Im Herbst fielen seine Blätter. Sie wehten durch ihr Fenster. Die alte Frau, früher wurde sie Dame genannt, kümmerte sich nicht darum. Warum auch? Sie träumte nur. Träumte ständig; oder kümmerte sich um ihren Kater. Er war schwarz, ganz schwarz.
Er saß oft bei der alten Frau und schaute mit ihr fern. Bis sie einschliefen. So ging es jeden Tag. Sie schauten fern und schliefen ein. Tranken Tee, schliefen ein.
Tag für Tag.
Wie schön sind doch jene Tage gewesen, als sie nicht wusste, was der Tag bringen würde. Doch nun, Stille.
Manchmal, jedoch nur manchmal, liefen Kinder durch das Wäldchen; lachten. Wie ihre Kinder. Wie sie selbst damals.
Jetzt hatte sie nur noch den Kater.
Es war ein Sonntag. Der Fernseher war angeschaltet. Es lief Gottesdienst. Es war evangelischer. Sie war katholisch. Sie achtete auch gar nicht darauf. Sie kochte Wasser. In einem alten Kessel. Den fertigen Tee stellte sie auf einen kleinen Tisch. Er war schon sehr alt. Dunkles Holz. Viele Verzierungen. Er stand neben ihrem Sessel; beim Fernseher.
Auf dem Sessel lag schon der Kater, schlief. Sie schaltete den Fernseher aus. Trank den Tee. Er war in einer weißen Tasse. Viele Verzierungen. Der Teebeutel war noch im Tee. Sie nahm den Beutel, zwirbelte ihn um einen alten Silberlöffel und ließ die letzten Tropfen hinaus.
Sie starrte den Tee an. Solange bis er ganz kalt war. Das tat sie jeden Sonntag. Sie liebte den Geruch, nicht den Geschmack.
Der Tee war noch von ihrem Mann. Er hatte ihn jeden Sonntag getrunken. Er hatte den Tee von einer Reise mitgebracht. Der Geruch des Tees war immer so lebendig, so voller Lebensfreude, Träumerei.
Nun war der Geruch schon fast verflogen. Nahm sie ihn überhaupt noch wahr? Vielleicht.
Die Erinnerung war einfach wichtiger.
So war es auch bei dem Silberlöffel. Er hatte ihrem Sohn gehört. Sein Name war eingraviert. Zittrig strich sie mit ihren alten runzeligen Fingern über die Gravur. Sie seufzte, schloss die Augen.
Sie sah ihn vor sich. Wie er in seinem Bett lag. Krank. Weinend.
Wieder und wieder musste sie es sehen. Sie öffnete die Augen.
Sie saß nur da. Einfach da. Bis es dunkel wurde. Sie schaltete den Fernseher ein. Es war spät; wurde immer später. Langsam verschwammen die Farben, die Formen. Die Bilder wurden klarer. Sah ihre Söhne, ihre Töchter, ihren Mann. War der Vergangenheit so nah. Sah all das Gute, all das Schlechte.
Wachte wieder auf. Strich sich die Tränen aus dem Gesicht.
Sie wollte wieder zurück. Sie konnte aber nicht.
Oft nahm sie sich ein Messer aus der Schublade. Legte es auf ihren kleinen Tisch. Sah es an. Überlegte. Nahm es in die Hand. Zögerte. Sie brachte es doch wieder zurück. So konnte sie nicht gehen. Und so brachte sie es jedesmal wieder zurück. Sie schlug gegen die Schublade, weinte.
Manchmal konnte sie gar nicht weinen so stark war der Schmerz. Konnte es jemandem noch schlechter gehen? Durch den Tod sollte man doch stärker werden. Warum konnte sie nicht stärker werden? Sie fühlte sich so schwach. So gern hätte sie ihre Vergangenheit.
Wie sollte sie mit allem ganz allein umgehen? Es ging einfach nicht. Sie wollte so gern schreien. So traurig, wütend war sie. Es ging einfach nicht. Sie gab sich auf, für diesen Tag, für diese Stunde.
Morgen war ein neuer Tag.
Tag für Tag.
Ihr Kater schlich sich zu ihr. Holte sie zurück. Sie setzte sich mit ihm in den Sessel, sah fern. Bis sie ganz fern war. Fern von dem Kater, dem Sessel, dem Tisch, dem Tee, dem Schmerz. Ganz nah an der Vergangenheit.
War so weit weg und doch so nah.
Am nächsten Tag wachte sie auf. Ein Teil von ihr war gestorben, nachts. Sie hatte nur noch den Kater. Was würde sie nur tun, wenn er auch noch gehen würde? Sie musste sich mehr um ihn kümmern. Sie konnte jedoch nicht. Sie weinte, wenn sie ihn fütterte, weinte, wenn sie ihn bloß sah.
Wieder saß sie vor dem Fernseher. Es war Sonntag. Der Tee stand noch neben ihr. Der Kater lag vor dem Sessel.
Langsam entfernte sie sich von ihrer Trauer. Doch der Schmerz blieb. Sie konnte kaum sehen, weil ihre Augen mit den Tränen kämpften.
Sie konnte nicht mehr. Sie war so kraftlos. Die Welt um sie herum verschwamm. Die Farben, die Formen. Die Bilder wurden klarer. Sah ihre Söhne, ihre Töchter, ihren Mann. War der Vergangenheit so nah, ganz nah. Sah alles Gute, alles Schlechte.
Ihr letzter Atemzug. Keine Kontrolle mehr. Verlor das Gleichgewicht. Fiel vom Sessel. Riss den Tisch mit zu Boden. Die Tasse zerbrach. Schade um die Verzierungen. Der Tee hatte seinen Geruch verloren.
Sie lag nur dort, auf dem Boden.
Der Kater schleckte ihre Hand. Was soll jetzt nur aus ihm werden?
Sie gingen alle fort.

 

Anubis737,

über den Titel habe ich mir bisher noch keine Gedanken gemacht. Ich muss dir aber in dem Punkt widersprechen, dass "Nachts" zu unscheinbar ist. Ein einfacher Titel sagt manchmal mehr als komplizierte Formulierungen. Wenn du den Titel also wirklich ändern willst, weil du "Nachts" als nicht stark genug empfindest, empfehle ich dir ebenfalls eine simple Überschrift zu wählen.
Leider habe ich keinen Vorschlag parat, aber ich halte es auch für besser, das dem Autor zu überlassen.

Gruß, Saffron.

 

Andererseits wurde die Unterbrechung durch die Nacht bemängelt...
Ist der Titel denn wirklich das zentrale Thema der Geschichte? Eigentlich nicht...
Wieder zweifle ich an mir selbst...typisch für mich ;)

 

Anubis737,

ich erinnere mich, dass ich die Unterbrechung durch die Nacht kritisiert habe. Mir hat der Titel vor allem wegen seiner Einfachheit gefallen, ich sehe aber ein, dass die Haupthandlung am Tage passiert und nicht in der Nacht. Wenn du also den Titel ändern willst, weil der Einschub der Nacht kritisiert wurde, weshalb streichst du dann nicht diesen Teil aus dem Text? Dann wäre auch ein anderer Titel sinnvoll.
Deine Geschichte kreist zum Beispiel um Tee und den Kater. Vielleicht solltest du also versuchen, einen Titel zu finden, der eines dieser Motive beinhaltet.
Dennoch glaube ich, dass der Titel nicht den Dreh- und Angelpunkt darstellt. Das Problem ist nach wie vor das Ende. Es muss einfach stärker sein.
Alles Gute auch für die neue Geschichte. Es ist immer wieder schön zu sehen, dass sich die Autoren auch später noch Gedanken über "alte" Geschichten machen.

Gruß, Saffron.

 

Ist die Geschichte wohl melancholisch genug, um sie bei einem Melancholie-Kunst-Projekt eines Kurses an meiner Schule zu verwenden? Was denkt ihr?

 

Nachdem ich "O bittersuesses Weihnachtsfest" gelesen habe und mir dein Schreibstil gefaellt, moechte ich mich einmal ein paar anderen deiner Geschichten widmen.
Hier gefallen mir die elliptischen Satze besonders. Sehr schoen. Wirklich.
Die Handlung ist sehr schluessig, die Protagonistin wundervoll dargestellt, der Tod sehr gut inszeniert. Hat mir sehr gefallen.

 

Das ist nett. Es gab um die elliptischen Sätze ja schon eine Diskussion. Mensch, jetzt habe ich mich hier so lange nicht mehr gemeldet, vielleicht sollte ich mal wieder eine elliptische Geschichte verfassen.
Danke für deine Kritik.

 

Hi anubis...

Woher kanntest du meine Oma?
Ich mag diese elliptischen Sätze, sie transportieren den Wehklang immer recht gut. Aber um Bilder zu erzeugen, sind doch aufwendigere Umschreibungen von Nöten. Und deine KG schwangt so zwischen beidem. Ich könnt mcih jetzt auch nicht entscheiden, ob ich mit dieser Geschichte eher in die poetische, bildhafte Sprache gehen würde, oder sie durch abgehakte, lieblose Sätze quasi vertrockne. Da ich den Inhalt eher tralalümochjakennichschonallesschonmalgelesenundjaganznettachichweißjaauchnicht finde, würde die zweite Variante zumindest die Stimmung treffen. Die Metaphern und Bilder dienen zur Einleitung recht gut, du solltest aber dann markanter in die trockene Stimmung meiner Oma überleiten.

Gruß

 

Was genau hat denn meine Geschichte mit deiner Großmutter zutun?

Verwundert,
André

 

Hi Andre

War mehr ein Scherz. Ich könnte mir aber vorstellen, dass sich meine Oma, wie viele Omas ihres Alters sich ab und an so fühlen wie du es beschrieben hast. Meine Oma lebte zum Glück bis sie starb in dem Haus meiner Eltern mit denen zusammen. Ich denke, es ging ihr ganz gut. Aber manchmal hab ich mir Vorwürfe gemacht, nicht genug Zeit mit ihr verbracht zu haben. Jetzt, postum!

Gruß

 

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