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Nachtstadtmenschen

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20.09.2007
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Nachtstadtmenschen

Und manchmal frage ich mich, warum ich meine Stadt so liebe.

Ich mag die Menschen nicht, die hier wohnen. Hier wohnen viele alte Menschen, viele laute und hektische Menschen, schreiende Kinder. Und Frauen, die noch viel lauter schreien. Männer, die im Sommer in Badelatschen und Feinripp-Unterhemden herumlaufen, halbwüchsige Männer mit Bierflaschen in der Hosentasche, die schlecht geschminkten Mädchen hinterherpfeifen. Ich mag die Menschen nicht, die hier wohnen. Und doch fühle ich mich wohl in meiner Stadt.

Es ist nicht überall laut, man muss nur die richtigen Ecken finden. Und den richtigen Zeitpunkt.
Tagsüber ist es laut, ja. Tagsüber lebt die Stadt; bleiche Leiber schwitzen sich durch die Gassen, reiben sich aneinander, grell und wahllos. Tagsüber ist die Stadt ehrlich.
Nachts ist sie sanft und durchtrieben, träge und vital, dunkel und doch funkelnd, ruhig und gleichzeitig aktiv. Nachts leben die kleinen Geister der Stadt.

Ich bin nicht gern unter Menschen. Ich mag die Menschen nicht, die hier wohnen. Beobachte lieber ihr Treiben und Tun, und nachts, wenn die kleinen Geister durch die Häuserritzen spähen.

Ich liebe meine Stadt, soviel ist klar. Ich liebe meine Stadt besonders nachts. Dann schleiche ich durch die verbrauchte, schwere Luft, setze einen Fuß vor den anderen und beobachte den Wechsel von Kopfsteinpflaster, Beton und Asphalt.
Ich liebe auch den Regen, wenn er auf das Pflaster prasselt und den Staub des Tages aus der Luft und von der Straße wäscht. Er bringt die Menschen dazu, sich schneller zu bewegen, noch schneller, als sie es ohnehin schon tun. Ich mag die Menschen nicht, die sich so schnell bewegen, aber ich mag ihnen dabei zusehen.

Manchmal stelle ich mich mitten auf den Marktplatz, dahin, wo der Schein der Straßenlaternen nicht reicht. Stelle mich hin und beobachte das Volk auf den siebzig Sandsteinstufen, die zum Dom führen. Dort sitzt und steht eine Gruppe, barfuß, mit Gitarren und singend, was ich von hier nicht hören kann. Einige Meter weiter oben stehen dunkle Gestalten, gepackt in Leder, die Hälse und Handgelenke metallisch funkelnd. Etwas abseits sitzt ein Pärchen, eng umschlungen.
Und ich sehe das Glitzern, das von den kleinen Geistern ausgeht, sich in den Sandsteinstufen bricht und auf den Körpern der Menschen tanzt.

Du bist nicht von hier. Du bewegst dich nicht schnell. Du bist nicht laut. Wir sprechen selten, und wenn wir sprechen, dann ist es ein Flüstern, oder ein Zwinkern, eine Geste oder ein Wink. Du bist bei mir, seit Wochen schon und es fühlt sich gut an, nachts mit dir durch die Straßen zu huschen. Ich liebe meine Stadt mit dir. Ich zeige dir die kleinen Geister, hoffe, dass du sie siehst, wie sie schattenartig über die Fassaden schleichen. Ich stelle mich mit dir auf den Marktplatz, schmiege mich an deinen Arm und beobachte das Glitzern der Nacht. Ich sage: „Siehst du das?“ Und du sagst nichts und ich sehe auf, sehe deinen weißen Hals und die Kontur deines Kiefers und nicht deinen Blick, der nordwärts gerichtet ist.

 

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