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Neuschnee
In das Dorf meiner Kindheit zurückzukehren war wie aus einem belebten Umfeld in einen schallsicheren Raum zu treten, wie in einem Schwimmbad voller Menschen einfach unter Wasser zu tauchen und plötzlich nichts mehr zu hören als das eigene Blut in den Ohren; als würden einem unvermittelt die Kopfhörer abgenommen, aus denen man soeben noch Musik gehört hat. Und dann blinzelt man benommen in die Szene, die man kennt, die eine Zeit lang aber so weit weg gewesen ist.
Sogar der Winter war noch derselbe in diesem verschlafenen Zweihundert-Seelen-Nest im Herzen der Eifel. Während sich in der Stadt, die seit acht Jahren mein Zuhause war, der Winter nur durch Kälte, eingefrorene Autoschlösser und gelegentlichen Schneeregen bemerkbar machte, war es hier wie im Bilderbuch: meterdick lag der Schnee links und rechts der gestreuten Gehwege, Eiszapfen hingen von den Dächern und gelegentlich stand eine Schneehütte im Garten. Völlig fehl am Platz kam ich mir vor, als ich meinen Koffer durch das Dorf balancierte, darauf bedacht, nicht auszurutschen mit den Ledersohlen, und mich ein Mann grüßte, der gerade Schnee vom Dach schippte. Mir dämmerte, dass ich ihn erkennen sollte, aber ich ging weiter, bis ich vor meinem Elternhaus stand.
Vor etwa einer Woche hatte mich meine Mutter angerufen. Schon das Knacken in der Leitung verhieß nichts Gutes, das ahnte ich, noch bevor ich ihre Stimme hörte, die seit zwölf Jahren für mich stumm gewesen war.
„Hier ist deine Mutter.“
Ob ich kommen könne, hieß es, Pfarrer Albrecht sei gestorben. Ich fragte mich, wieso es gerade der Tod des Pfarrers war, der meine Mutter dazu brachte, wieder mit mir Kontakt aufzunehmen. Ich musste zwei Mal durchatmen, bevor ich antworten konnte.
„Ja … klar. Wann ist die Beerdigung?“
„Nächsten Freitag.“
Ich nahm mir Urlaub und kaufte ein Zugticket für den Donnerstag vor dem Begräbnis. Der Zug würde in aller Frühe losfahren und trotz der verhältnismäßig kurzen Strecke erst am Nachmittag im Dorf ankommen, da ich drei Mal würde umsteigen müssen und die Reisegeschwindigkeit der Bummelzüge die eines Mopeds wohl nicht überstieg.
Ein seltsames Gespräch war das gewesen; wir hatten nur die nüchternen Fakten abgesprochen, so als telefonierten wir jeden zweiten Tag und als gäbe es zwischen uns nichts, das nicht im Reinen gewesen wäre. Alles in Allem hatte das Gespräch vielleicht zwei Minuten gedauert.
„Komm rein, Junge“, sagte meine Mutter und trat zur Seite, um mich einzulassen. Es war alles beim Alten: die Möbel, der Geruch, und auch jetzt umarmte oder küsste mich meine Mutter nicht, wie andere Mütter es tun würden. Es hatte nie irgendwelchen Körperkontakt, der über das Nötigste hinausging, zwischen uns gegeben. Eine Weile standen wir einfach nur da und ich wartete darauf, was passieren könnte. Es erschien mir absurd, nach zwölf Jahren einfach wieder anzutanzen und jetzt in der Diele herumzustehen.
Sie führte mich in die Küche, wo der Tisch schon gedeckt war, obwohl es gerade mal sechzehn Uhr war und es bei meiner Mutter traditionell um achtzehn Uhr Abendbrot gab. Es hätte mich sehr gewundert, wenn sich daran in all der Zeit irgendetwas geändert hatte.
„Was möchtest du trinken?“, fragte sie. „Kaffee? Tee?“
„Tee, danke.“
Ich beobachtete sie, wie sie sich an der Teekanne zu schaffen machte. Ihre Mimik war gefasst, wenngleich Sorgenfalten das Gesicht zierten, ihre Kleidung alt, aber gepflegt, die ergrauten Haare streng zurückgebunden. Nichts konnte sie aus der Ruhe bringen, nicht mal ihr Sohn, der, so schnell es nur irgendwie möglich gewesen war, ausgezogen war und so lange jeglichen Kontakt verweigerte; zunächst aus Protest, später aus Hartnäckigkeit und zuletzt aus Gewohnheit.
Während ich mir die Finger am heißen Tee wärmte, saß meine Mutter mir gegenüber und stellte Fragen über mein Leben. Wir blieben bei den greifbaren Tatsachen, über Gefühle sprachen wir nicht; in meiner Jugend war ich der festen Überzeugung gewesen, dass meine Mutter so etwas wie Gefühle überhaupt nicht kennt. Mir brannte die Frage auf der Zunge, warum sie mich gerade zum Tod des Pfarrers Albrecht angerufen hatte, aber ich wusste schon, wie ihre Reaktion aussähe. Den Mund schmaler als schmal, die Augen starr geradeaus gerichtet würde sie antworten: „Ich dachte, es wäre an der Zeit, nach all den Jahren. Schließlich ist Pfarrer Albrecht gestorben.“ Überhaupt traute ich mich nicht, die wirklich interessanten Fragen zu stellen, etwa, was denn aus Toni würde, von dem niemand wirklich wusste, ob er denn Toni hieß.
Meine erste Erinnerung setzt ein, als ich fünf war. In diesem Jahr starb mein Vater, an den ich keine Erinnerungen habe. Erst der sonderbare Moment, in dem mir bewusst wurde, dass wir nur noch zu zweit am Tisch saßen, ist mir im Gedächtnis geblieben. Meine Mutter saß da und löffelte ihre Suppe, ohne aufzusehen und ohne irgendetwas zu erklären. Die Zeit nach dem Tod meines Vaters war keine Zeit, in der meine Mutter und ich uns gegenseitig Trost spendeten. Im Gegenteil, ich sah sie selten, und wenn ich sie sah, dann kam sie mir nicht vor wie meine Mutter, sondern wie eine alte, vergrämte Fremde. Blass war sie und krank, und die meiste Zeit verbrachte ich bei den Eltern meines damaligen besten Freundes. Diese Phase dauerte ein Jahr, vielleicht mehr, vielleicht auch weniger, die Erinnerung daran ist wie ein Puzzle, in dem einige Teile fehlen.
„Amen.“ Während meine Mutter nach dem obligatorischen Tischgebet die Hände noch eine Weile flach auf der Decke ruhen ließ und den Kopf andächtig gesenkt hatte, als wartete sie auf eine Antwort, hörte ich die Uhr ticken. Mit vierzehn hatte ich aufgehört, vor dem Essen zu beten, die Hände faltete ich nur noch zum Schein, mit siebzehn ließ ich es ganz bleiben. Es hatte mir Spaß gemacht, zu sehen, wie meine Mutter mit sich rang, um nichts zu sagen und ihren blasphemischen Sohn zu ignorieren.
Wortlos bestrich sie ihr Brot mit Butter. Während des Essens sprach meine Mutter wenig, wenn überhaupt, dann nur, wenn gerade niemand den Mund voll hatte.
„Ich werde dann wohl noch einen Spaziergang machen“, sagte ich.
„So spät noch?“
„Ein bisschen frische Luft schnappen.“
„Aber komm nicht so spät heim.“
„Gut.“ Ich starrte auf meinen Teller. Vor zwölf Jahren wäre dies der Punkt gewesen, an dem ich einfach aufgestanden und gegangen wäre, jetzt blieb ich sitzen, sagte „gut“ und aß zu Ende.
Die Nachtluft war eisig und bald war mein Gesicht taub vom Wind, der mir beharrlich um die Ohren pfiff. Schwarz-weiß ragten die kahlen Äste von Obstbäumen hier und da gegen den sternenklaren Himmel. Ich erinnerte mich, wie wir als Kinder Räuber gespielt hatten und so taten, als wären die Bäume Burgen, die wir erobern mussten. Manchmal bombardierten wir uns dann mit Äpfeln oder Pflaumen und starteten regelrechte Kämpfe, aber nur bis zum Herbst. Dann nämlich waren die Früchte süß und wir aßen sie lieber, als damit herumzuwerfen. Nur die faulen dienten dann noch als Schusswaffen oder Steine. Einmal warfen wir ein Fenster ein, was ziemlichen Ärger einbrachte. Doch nach ein paar Tagen hatten wir den Vorfall vergessen und setzten unser Spiel fort.
Am spannendsten war für uns das Pfarrhaus, das hinter der Dorfkirche auf einem waldgesäumten Hügel stand: Von dort hörte man des Öfteren merkwürdige Geräusche, ein Ächzen und Schreien, auf das die Erwachsenen – jedenfalls uns Kindern gegenüber – mit tauben Ohren reagierten. Das Pfarrhaus war ein Tabu, in seine Nähe zu gelangen strengstens verboten und deshalb unser neues Ziel, die Hauptburg, die es zu erobern galt. Wir belagerten das Wäldchen rings um den kleinen Hügel, streunten auf dem Hügel herum um auszukundschaften, was im Pfarrheim sein Unwesen trieb. Wir schickten stets Kundschafter, und jeder von ihnen erzählte haarsträubendere Geschichten, von geflügelten, feuerspeienden Monstern, Höllengestank und einem rußigen Gesicht am Fenster, das angeblich das des Pfarrers gewesen sei. Oft wurden wir erwischt und unter Zetern und Fluchen vom Pfarrer vertrieben, was unseren Verdacht, der Pfarrer sei ein Abgesandter der Hölle, noch bestärkte.
Je älter ich wurde, desto weniger glaubte ich an das Monster im Pfarrhaus. Dessen ungehindert gingen die Spiele weiter. Wir versuchten, einen Blick auf das Wesen zu erhaschen, das der Pastor versteckt hielt, mit dem Unterschied, dass es nicht mehr darum ging, eine feindliche Burg zu erobern und gefährliche Drachen zu töten, sondern um herauszubekommen, was so unsittlich war, dass es von den Erwachsenen unbedingt geheim gehalten werden musste. Das alles, das Getue der Dorfbewohner, der verkniffene Mund meiner Mutter, wenn ich Fragen stellte, und die scheinheiligen Predigten des Pfarrers waren mir so zuwider, dass ich irgendwann aufhörte, beim Gottesdienst zuzuhören. Den Pfarrer erklärten wir für einen verlogenen Sack, der Nachts irgendwelche Jungfrauen vögelte und das Ergebnis dessen jetzt in seinem Keller eingesperrt war. Seinen Fehltritt nannten wir Toni.
Am Fuße des kleinen Hügels kam ich zum Stehen. Im Pfarrhaus brannte kein Licht. Eine Weile blieb ich stehen und wartete darauf, dass sich irgendetwas tat, doch erwartungsgemäß geschah nichts, und als die Kälte anfing, mir in den Nacken zu kriechen, setzte ich meinen Weg fort.
Für die Begräbniszeremonie am nächsten Morgen hatte man Pater Rinser aus dem Nachbardorf kommen lassen. Ich zeigte meinen guten Willen und versuchte, mich auf die Messe zu konzentrieren, doch immer wieder schweifte ich ab. In der Nacht hatte ich schlecht geschlafen, die alten Gerüche, das Ticken der Uhr in der Stille und meine Gedanken hatten mich wachgehalten.
Die Fistelstimme des Pastors war unerträglich, die Messe langweilig. Ich konnte nicht mal sagen, ob die ganze Prozedur lange dauerte oder nicht, sie zog völlig an mir vorbei. Es wurde gebetet, dann gesungen, wieder gebetet, hin und wieder schluchzte irgendjemand auf; ich ahmte die Bewegungen und Tätigkeiten meiner Umgebung nach, aber dass mir die Augen hin und wieder zufielen, konnte ich nicht verhindern.
Das Ende der Messe weckte mich aus meiner Lethargie. Ich trottete mit der Menge aus der kleinen Kirche, als ich hinter mir jemanden gedämpft sagen hörte: „Was wird denn nun aus dem Jungen, du weißt schon.“
Ich wandte das Gesicht zur Seite, um besser zu hören und aus dem Augenwinkel erkennen zu können, wer da sprach. Dort standen meine Mutter und eine ältere Dame, die ich als die Nachbarsfrau erkannte. Ich spürte den Blick meiner Mutter im Nacken, kurz warf ich ihr einen Blick zu und wandte mich dann wieder ab, bevor sie zischte: „Ich weiß nicht, was du meinst.“
Mit achtzehn hatte ich beschlossen, zum Bund gehen zu wollen. Damals war kurz vor dem Abitur ein Typ in Uniform an die Schule gekommen, hatte von einer Offizierslaufbahn gesprochen, von Studium, Verpflichtung bei guter Bezahlung und so weiter – all das interessierte mich nur mäßig. Aber ich war mir sicher, dass meine Mutter es hassen und es genau deshalb das Richtige für mich sein würde.
An jenem Tag stapfte ich in die Küche, nahm die Milch aus dem Kühlschrank und trank sie kalt wie sie war. Meine Mutter stand daneben und sagte harsch: „Trink die Milch nicht kalt, du verdirbst dir den Magen.“
Mit dem Ärmel wischte ich mir den Mund ab. „Ich gehe zur Armee.“
„Bitte?“, fragte sie höflich.
„Ich werd Soldat.“
Ich sah deutlich, wie sie darum bemüht war, Fassung zu behalten. Ihre Fassung war etwas, das mich unendlich wütend machte; ich wollte sie einmal aufgebracht sehen und schreiend, das Gesicht verzerrt, die Augen Gift versprühend. Nochmals setzte ich zum Trinken an, trank die Milch, die sie sonst am Abend immer extra aus dem Kühlschrank nahm, damit sie zum Frühstück Zimmertemperatur hatte, trank sie, bis sie leer war, ohne meine Mutter aus den Augen zu lassen.
Dann grinste ich. Für einen kurzen Augenblick, es war nur der Bruchteil einer Sekunde, entgleiste ihr Gesicht. Ein kleiner Triumph.
„Ich denke, ich werde dann noch einen kleinen Spaziergang machen.“
„So spät noch?“
„Es ist kurz nach sechs.“ Meine Mutter schwieg und ich räusperte mich. „Nur etwas frische Luft schnappen, die Beine vertreten.“
„Komm nicht so spät heim“, sagte sie. Wie eine zu oft gespielte Kassette wirkte sie auf mich. Ich beeilte mich, mit dem Essen fertig zu werden und verließ fluchtartig das Haus.
Ich wusste nicht einmal, woher mein Ärger so schnell gekommen war. Zügig und den Kopf schützend zwischen den Schultern versteckt lief ich durch das Dorf. In der Kälte verpuffte meine Wut, das Klopfen meines Herzens rührte jetzt von der Anstrengung.
Ich fühlte mich nicht gut in diesem Dorf, hier zu sein rüttelte ein fast vergessenes Gefühl in mir auf, an das ich nicht mehr hatte denken wollen. Die Umgebung war mir bekannt, aber nicht vertraut und ich sehnte den Tag herbei, an dem ich wieder in meiner warmen Wohnung würde sein können.
Um meinen Spaziergang möglichst lang zu gestalten, fegte ich eine Bank in der Nähe des Kirchplatzes vom Schnee frei. Die Sitzfläche war vereist und bald spürte ich die Kälte durch den Mantel. Mein Blick war auf das Pfarrheim gerichtet. Wieder war dort kein Licht. Aber wie auch gestern wollte ich nicht so schnell aufgeben zu warten, irgendetwas könne geschehen.
Scharf stieß ich die Luft aus, als es mir doch zu kalt wurde und stand auf, strich mir über den durchnässten Mantel und stutzte, als ich einen schwachen, aber doch deutlich sichtbaren Schimmer an der einen Seite des Pfarrhauses sah. Es war, als würde ein Licht im Haus brennen, in einem der Fenster, die nicht in meine Richtung, sondern in die des Waldes wiesen.
Eine Weile blieb ich wie angewurzelt stehen, mein Herz klopfte wild in unregelmäßigem Rhythmus. Vielleicht war es Einbildung, vielleicht auch nicht, aber ein Schatten war kurz dort zu sehen, wo das Licht aus dem Haus den Schnee beleuchtete.
Ich wählte nicht den direkten Weg zum Pfarrhaus, sondern den am Rand des kleinen Wäldchens, der den Hügel umgab und in dem wir als Kinder gelauert hatten. Einige Male stolperte ich fast und zerkratzte mir das Gesicht an vereisten Zweigen, die in den Weg ragten. Völlig außer Atem erreichte ich das Gebüsch auf Höhe des Pfarrhauses und versteckte mich dahinter wie ein Einbrecher. Die Vorhänge des Fensters waren zugezogen; es brannte Licht und rings um das Haus war der Schnee zertrampelt. Geduckt eilte ich zum Haus und kauerte mich unter das Fenster, um vielleicht etwas durch den Spalt der Gardinen sehen zu können.
Vom Dorf aus konnte man mich mit Sicherheit sehen, ich dachte an den Schatten, den ich vorhin genau hier beobachtet hatte und verfluchte mich selbst für meine geschwundenen Räuberfähigkeiten. Und während ich noch unter dem Fenster hockte und mich über meine Ungeschicktheit ärgerte, geschah zweierlei: Zuerst sah ich ganz deutlich eine Gestalt sich vom Dorf aus zielstrebig auf das Pfarrhaus zubewegen, und keine Sekunde später ertönte ein gellender Schrei aus dem Innern des Hauses. Wie erstarrt saß ich da. Die Gestalt musste den Schrei auch gehört haben, denn sie lief schneller.
Immer noch geduckt lief ich an der langen Häuserseite entlang, ein Stück weiter, wo kein Licht hinfiel. Ich horchte. Es gab ein Krachen im Haus, dann noch einen Schrei; zwei Personen mussten da drin sein. Die Tür flog auf und etwas Schweres fiel in den Schnee und stöhnte und ächzte. Und dann hörte ich Schritte, eilige Schritte, die im Schnee knirschten; die Gestalt vom Dorf.
„Nein“, hörte ich meine Mutter zischen, etwas unterdrückt Hysterisches schwang in ihrer Stimme mit, „lass das, nein.“ Fassungslos saß ich da. Was hatte meine Mutter hier verloren?
Hin und her gerissen zwischen der Angst, mich zu verraten und dem Drang sehen zu wollen, was dort vor sich ging, war ich unfähig, mich zu bewegen. Doch die Entscheidung wurde mir abgenommen. Ein Schuss wurde abgefeuert, meine Mutter schrie und eine andere Stimme heulte auf, fast schon ein Röhren war es, und es klang schmerzerfüllt.
„Sie Dummkopf!“
Das Geräusch, das folgte war so widerwärtig und gleichzeitig durchdringend, dass ich mir wünschte, mir nicht ausmalen zu können, woher es rührte. Ich rammte mir die Finger in die Ohren, doch trotzdem hörte ich das schlammige Zerren und Dehnen, jemand würde in Stücke gerissen, ein Schnaufen und Keuchen und das Schreien meiner Mutter. Ich fiel auf alle Viere und übergab mich, bis sich nur noch Galle aus meinem Mund ergoss, um die Geräusche nicht hören zu müssen.
Dann war Stille.
Ich hob den Kopf und sah meine Mutter im Schnee kauern. Dicht vor mir stand Toni. Grob und krumm stand er da, mit rasselndem Atem, die rauen Gesichtszüge in Dunkelheit gehüllt, Blut troff von seinen Händen in den Schnee. Wir sahen einander nur an, dann verlor ich die Besinnung.
Ich blieb nicht zum Begräbnis des Bauers Bering. Mein Zug nach Hause ging am Sonntag morgen und ich war froh darüber. Ich wollte nur weg aus diesem Dorf, ich wünschte, all das hätte mich niemals berührt, so wie die letzten zwölf Jahre auch. Meine Mutter sprach nicht, ich fragte auch nicht; ich musste nicht fragen.
Das Dorf meiner Kindheit zu verlassen war wie langsam aus dem Wasser in einem belebten Schwimmbad aufzutauchen, nach Luft zu schnappen, sich das Wasser aus den Ohren zu schütteln und aus den Augen zu reiben. Man ist wieder in der alten Umgebung, aber der Kopf ist nass und es ist seltsam kalt.