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Rückkehr nach Bresenhain
Der letzte Zug für diesen Tag spuckt seine Passagiere aus. Es sind nur wenige Leute. Die meisten Gesichter kennt Magnus, doch noch bevor eines grüßt oder ihm lächelnd zunickt, sind sie verschwunden. Der Zug fährt ab, verschmilzt mit der Nacht und für Magnus endet schließlich die Schicht.
Mit schmerzendem Knie und einer Thermoskanne unter dem Arm hinkt er zu der Bank auf der er, seit beinahe vierzig Jahren, seinen Feierabend beginnt.
Griffbereit legt er seine Zigaretten neben sich, öffnet die Thermoskanne und trinkt den letzten Rest kalten Kaffees.
Mit einem bitteren Geschmack im Mund schließt er die Augen.
Ein abendlicher Wind rauscht durch die Baumkronen und lässt das rostige Ortsschild sachte pendeln. Ein Zeitungspapier raschelt irgendwo zwischen Schotter und Gleisen. Ein paar Straßen weiter hupt ein Auto.
Egal wie lang du dich auf einem Bahnsteig aufhältst, nie wird er ein Zuhause sein. Auch nach vierzig Jahren nicht.
Ein Schmerz sticht in sein Knie und gemahnt ihn an seine Zigarette. Er lockert seinen Krawattenknoten, öffnet sein Jackett und klopft seine Taschen ab. Als er nichts findet, klopft er noch einmal und stülpt schließlich jede einzelne Tasche um. Das Feuerzeug bleibt verschwunden.
„Hol‘s der Teufel.“
Aber der hat es längst, denkt er, als er den Boden vor sich absucht. Die Zigarette, nutzlos im Mundwinkel klebend, wird vom Speichel nass.
„Kann ich Ihnen helfen?“
Eine junge Frau steht vor ihm. Sie trägt ein buntes Pulloverdings und ein silbernes Kettchen funkelt an ihrem Hals.
Magnus fühlt sich auf seltsame Art ertappt, woraufhin er die Zigarette aus dem Mund nimmt und dabei ein Stück festgeklebter Haut von der Lippe abzieht.
„Ich …“, er räusperte sich, „mein Feuerzeug ist weg. Ich hab es gesucht, wissen Sie.“
„Rauchen ist ungesund.“
„In meinem Alter spielt das keine Rolle mehr.“
Die junge Frau sieht in an und kaut auf ihrer Unterlippe. Irgendwie kommt sie ihm bekannt vor. Trotzdem bleibt sie eine Fremde, eine mit einem Problem; zwei Problemen, um genau zu sein. Das Zweite war, dass sie zögerte um Hilfe zu bitten.
Da musst Du allein durch, Mädchen.
„Ich bin heute mit dem Zug gekommen und suche ein Haus. Vielleicht kennen Sie es, Matthi Hellwig hat darin gewohnt.“
„Rune? Sie suchen das Haus von Rune?“
Einen Moment lang blickt sie ihn irritiert an, schließlich nickt sie.
„Könnten Sie mir vielleicht den Weg erklären?“
Plötzlich weiß Magnus, wer vor ihm steht. Er sieht ein kleines Mädchen mit langen Zöpfen. An einem Sommertag öffnet sie Runes Kaninchenställe, weil sie Tierschützerin spielt. Nur die fette Emma bleibt übrig und Rune bringt sie später zu Magnus, um sie vor den guten Taten seiner Nichte zu schützen. Runes Nichte – Vivien.
„Sie sind Vivien, habe ich Recht? Sie waren lange nicht mehr hier. Als Rune noch lebte, hat er nur von ihnen gesprochen.“
Für einen Moment huscht ein Ausdruck von Unsicherheit über ihr Gesicht, dann ist er verschwunden. Mit fester Stimme sagt sie: „Ich werde das Haus verkaufen.“
Magnus sieht ihr in die Augen, aber er findet nur Entschlossenheit, keine Bitterkeit.
„Runes Grab ist bei den kleinen Birken, falls sie mal ...“
„Ich weiß, wo es liegt! Nur weil ich damals nicht bei der Beerdigung war, heißt das nicht, dass ich ihn nie besucht hätte! Wenn Sie es genau wissen wollen: Ich war zwei Tage nach der Beerdigung auf dem Friedhof um mich von Rune zu verabschieden. Können Sie sich denken, warum? Weil ich meine Trauer nicht öffentlich zur Schau stellen wollte. All diese Betroffenheitsblicke und Beileidsbekundungen! In Wirklichkeit ist man doch froh, dass man endlich wieder ein Thema hat, über das man reden kann. Und was da alles zerpflückt wird. Beim Friseur wird über den Grabschmuck diskutiert, beim Bäcker erfährt man, wer alles auf der Beerdigung war und beim Metzger ereifert man sich über Angemessenheit und Schicklichkeit von Rocklängen!“
„Ich ... Ich wollte Sie nicht ...“
„Wenn Sie mir vielleicht jetzt den Weg beschreiben könnten.“
Magnus nickt. Mit steifen Beinen erhebt er sich und humpelt mühsam die drei Schritte, die Vivien von ihm entfernt steht.
„Sie müssen hier lang. Die Straße runter und ...“
„Tut mir leid, dass ich Sie so angefahren habe. Es war nicht einfach für mich nach all der Zeit nach Bresenhain zurückzukommen.“
„Sie müssen sich nicht entschuldigen, wenn sich jemand entschuldigen muss, dann bin ich das. Alte Männer neigen dazu zu glauben, dass sie alles am Besten wissen.“
Ein kleines Lächeln huscht über ihr Gesicht.
„Was sagen Sie zu einer Tasse Tee? Ich lade sie ein. Außerdem müsste ich dann nicht nachts alleine durch die Straßen laufen.“
Magnus denkt an seine Zigarette, die noch immer mit durchgeweichtem Filter nutzlos in seiner Hand liegt. Seine Augen suchen den Boden ab, aber das Feuerzeug bleibt verschwunden.
„Also schön, wenn sie einen alten Klepper, wie mich ertragen können.“
Auf ihrem Weg durch das Dorf schweigen sie. Magnus bemerkt, dass jeder Schritt Vivien ein Stück in die Vergangenheit trägt.
Als sie am Waldblick vorbeikommen, sieht er Fritz seinen Tresen polieren. Bei einem flüchtigen Blick auf das ungleiche Paar nickt ihm Magnus freundlich zu. Doch ein paar krause Falten auf der Stirn sind Fritz einzige Antwort. Dann sind sie vorbei.
Kurz vor dem Ortsausgang treffen sie auf den Weg, der über die Felder führt. Jenseits davon liegt der Friedhof. In diesem Moment öffnet der Himmel seine Wolkendecke und bleiches Mondlicht fällt auf den Hain, der die Gräber vor aufdringlichen Blicken schützt.
Magnus bleibt stehen, doch Vivien eilt gedankenversunken weiter. Ihre Füße scheinen sich an die Wege ihre Kindheit erinnert zu haben und er beeilt sich hinterher zukommen. Dann stehen sie vor Runes Haus. Im Garten ist die verkleinerte Version Bresenhains auf Stöcken aufgespießt, das Sommer wie Winters von zahlreichen Vögeln bewohnt wird. Jetzt wirken die kleinen Häuser dunkel und tot. Als er bemerkt, dass auch Vivien die leeren Vogelhäuser beobachtet, fröstelt es ihn plötzlich.
So ist Bresenhain nicht, will er sagen. Es ist ..., aber er weiß nicht, was es ist.
„Kommen sie. Mir ist kalt und ich brauche jetzt unbedingt was Warmes.“
Der Tee in seiner Tasse dampft. An den Wänden der Küche hängen noch immer die Postkarten, die Rune während all der Jahre von Vivien erhalten hat. Budapest, London, Sri Lanka, Oakland - aus allen Ländern der Welt. Rune hatte ihm jede Einzelne vorgelesen und herzhaft gelacht, wenn er an die Stelle kam, wo Vivien schrieb: Komm her und sieh es Dir mit eigenen Augen an.
Ein Mann wie Rune in der großen weiten Welt? Das war wirklich zum Lachen.
„Er ist nie von diesem Ort weggekommen.“
Viviens Stimme klingt neutral. Jeglicher Vorwurf, dem man diesem Satz beimessen könnte, schien schon vor langer Zeit getilgt worden zu sein. Sie bläst auf den Rand ihrer Tasse und nimmt einen vorsichtigen Schluck.
„Rune war kein Mensch, den es in die Ferne zog. Alles, was er brauchte, hatte er hier.“
Vivien sieht ihn mit einem langen Blick an.
„Hat er ihnen die Geschichte von seinen Kaninchen erzählt?“
Magnus schüttelt den Kopf, aber sie scheint es nicht zu bemerken. Sie dreht ihre Tasse ein paar Mal in den Händen und starrt auf die goldschimmernde Flüssigkeit, als ob sich die Vergangenheit darin spiegelt.
„Damals konnte ich nicht verstehen, warum sie Tag für Tag in ihren Käfigen eingesperrt waren. Ich habe die Tiere geliebt und ich dachte ich täte ihnen was Gutes, wenn ich sie befreien würde. Stattdessen hat es sie alle erwischt. Entweder zu Brei zerquetscht unter einem Autoreifen oder von Fuchs und Marder totgebissen. Ich durfte mir damals eine lange Gardinenpredigt anhören und als ich eine Woche später darum bettelte einen Ausflug in den Zoo zu machen, weigerte er sich. Lange Zeit dachte ich, er befürchtete ich könnte auch die großen Tiere aus ihren Käfigen befreien. Aber in Wirklichkeit hatte er Angst Bresenhain zu verlassen. Er war selbst wie eines dieser Kaninchen und er schien zu denken, dass irgendetwas Schreckliches geschähe, wenn er seinen eigenen Käfig verließe.“
Magnus sagt nichts. Er nippt an seinem Tee und wünscht sich er könnte eine Zigarette rauchen.
„Stört es sie, wenn ich meine Kamera hole und ein paar Bilder schieße? Ich möchte dem Makler ein paar Aufnahmen schicken, damit er einen Eindruck von dem Haus gewinnt.“
„Nein ganz und gar nicht. Ich sollte sowieso gehen. Es ist schon spät und ein Mann meines Alters sollte um diese Zeit längst im Bett sein.“
„Tut mir leid, ich wollte sie nicht hinauswerfen.“
„Nein schon gut, wirklich. Sie haben noch viel zu tun und ich gehöre zweifellos in die Falle. Hat mich gefreut Sie kennenzulernen.“
In die Nacht verabschiedet, steht Magnus noch eine Weile allein im Garten herum. Er fummelt eine Zigarette aus der Verpackung, als ihm wieder einfällt, dass sein Feuerzeug verschwunden ist. Während er überlegt noch einmal zurückzugehen und Vivien um Feuer zu bitten, gehen in Runes Haus alle Lichter an. Kurz darauf zucken helle Blitze durch die Fensterscheiben in die Nacht hinaus.
„Jetzt fotografiert sie“, murmelt er leise für sich. In Wahrheit denkt er jedoch: Jetzt exorziert sie Runes Geist aus dem Haus hinaus.
Stumm beobachtet Magnus wie das Blitzlicht von Zimmer zu Zimmer wandert, doch als es zum Speicher gelangt, erlischt es.
Jetzt hat sie das Puppenhaus entdeckt, das Rune für sie gebaut hat, und ihm wird klar, dass er heute kein Feuer mehr für seine Zigaretten bekommen wird.
In der Nacht findet Magnus wenig Schlaf. Unruhig wälzt er sich im Bett und durchwühlt die Kissen. Als er sich morgens herausquält, gleicht sein Knie einem Eisbein. Mühsam schleppt er sich ins Bad und verspürt seltsamerweise eine drängende Eile, so als ob er verschlafen hätte.
Du alter Zausel, sie ist doch längst weg! Ist bestimmt mit dem ersten Zug heute Morgen zurück in die Stadt gefahren.
Aber das Gefühl irgendwo hinzumüssen bleibt. Schließlich verzichtet er auf das Frühstück und beeilt sich stattdessen nach draußen zu kommen.
Er will zum Waldblick. Dort Spiegeleier und frischen Kaffee bestellen, aber seine Füße wissen es besser. In Gedanken bei Vivien und dem gestrigen Abend findet er sich am Beginn eines Feldweges wieder. Verwirrt blickt er sich um und entdeckt am Ende des Weges den versteckten Friedhof mit seinem vertrauten Birkenhain.
Du hast mich gerufen? Hattest wohl keine Geduld und wolltest gleich von Deiner Vivien hören, was? Schäm Dich einem alten Mann sein Frühstück nicht zu gönnen!
Ergeben schleppt er sich über taunasse Steine und steht schließlich vor dem kleinen Seiteneingang des Friedhofs. Das Tor quietscht begrüßend in der morgendlichen Stille. Er ist alleine hier. Nur das Gezwitscher der Vögel begleitet seine Schritte. Als er Runes Grab zwischen den Birkenstämmen erspäht, bemerkt er ein vertrautes Glitzern.
Langsam nähert er sich dem Grabstein, dem er schon so viele Geschichten, so viele Geheimnisse erzählt hat. Diesmal hat der Stein etwas für ihn. Es ist sein Benzinfeuerzeug, das er verloren geglaubt hat. Es liegt auf dem Sockel und beschwert ein Kuvert.
Vorsichtig bückt sich Magnus und hebt beides auf. Auf dem Kuvert steht kein Name, trotzdem weiß er, wer es für ihn hiergelassen hat.
Mit zittrigen Fingern öffnet er es und findet darin ein handbeschriebenes Blatt Papier. Es sind nur wenige Worte.
Bresenhain ist kein Ort, an dem man lebt.
Es ist ein Ort, wo man stirbt. Seien Sie nicht wie Rune!
Und geben Sie das Rauchen auf!
Gruß
Vivien
***
Einen Monat später ist Runes Haus an irgendeine schrecklich laute Familie aus der Stadt verkauft.
Magnus geht nicht mehr so oft zum Friedhof und auch im Waldblick lässt er sich nicht mehr blicken. Stattdessen unternimmt er ausgedehnte Spaziergänge - unter anderem weil sein Arzt ihm dazu geraten hat.
„Sehen Sie sich die Gegend an, das bringt Ihr Knie ein wenig auf Vordermann und für den Kreislauf ist es auch nicht schlecht.“
Ist besser als Medikamente zu schlucken oder sich unters Messer zu legen, denkt Magnus. Sagt es aber nicht.
An einem Dienstagnachmittag schließlich, nachdem er einen weiten Bogen von Bresenhain nach Ottmaning über Pfarrstatt geschlagen hat, entdeckt Magnus ein dickes Päckchen in seinem Briefschlitz.
Er nimmt es mit in die Küche, wo er sich einen Kaffee aufbrüht.
Während heißes Wasser in den Filter tropft und der Raum von einem aromatischen Duft erfüllt wird, setzt er sich an den Tisch und schlitzt das Päckchen mit einem Messer auf.
Herausfällt eine Ansichtskarte aus Norwegen und ein stinkendes verfilztes Ding. Auf der Karte ist ein langer Fjord zu sehen. Das Wasser ist cobaltblau, die Hänge sind mit dichten Wäldern bewachsen. Auf der Rückseite steht: Kommen Sie her und sehen Sie es sich selbst an. BTW: Die Quaste stammt von einem Fossegrim und ist ein kleines Souvenir für Sie. Gefiel mir besser als ein Stofftroll. Das hier ist wenigsten echt. Gruß V.
Magnus schüttelt den Kopf und betrachtet den stinkenden Trollschwanz. Unbewusst greift er nach seinen Zigaretten, aber der Geruch raubt ihm die Lust, so dass die Bewegung unvollendet bleibt.
„Rune, alter Freund, jetzt hat sie mich am Wickel.“
Geistesabwesend streicheln seine Finger den Trollschwanz und mit jedem Mal schwindet sein Verlangen nach Zigaretten ein bisschen mehr.