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Rotkäppchen und der graue Wolf
Graue Wölfe haben graue Schwänze, sagt man.
Nur streng gläubige Katholiken werden hier weiter lesen. Wen sonst interessieren Grauwölfe? Vielleicht folgen noch einige gedankenverlorene Leser den schwarzen Zeilen bis zu ihrem roten Ende.
Peter Klamm, oder Perté, wie er sich selbst nennt, betrachtet im Spiegelbild seinen – nein, nicht seinen Schwanz, der wartet auf andere Augen – er betrachtet seinen silbern glänzenden Viertagebart. Mit der linken Hand streicht er über sein Kinn. Sein Daumen ist zufrieden, weich ist der Bart, kitzeln wird er die Dame. Sie wird eine zärtliche Bemerkung machen, wenn er mit seiner Wange die ihre streichelt. Wer auch immer sie sein wird, heute Abend.
Ein kräftiger Druck auf den Sprühknopf der ozeantiefblauen Flasche nebelt ihn ein mit dem Duft von Attaqué, der ultimativen Komposition aus jenen Gerüchen, die durch die Nase wirkend dem Frauenhirn das Signal zum Ausziehen geben.
Der graue Wolf verlässt seinen Bau und folgt, seinem biologischen Auftrag gemäß, den Geruchsspuren williger Weibchen.
Was nun, wonach spürt seine rechte Hand auf der Höhe des Herzens? Stiche? Spürt er sein Alter? Beginnt die gefürchtete Zeit des Leidens?
Keep cool, es ist nur der Griff an die Brieftasche, ein Ritual, ein Vergewissern seiner Potenz.
Ein kurzer Pfiff, eine lässig gehobene Hand, das Taxi hält, Perté steigt ein, die große, schwere Limousine fährt, eine schwarze Rußwolke ausstoßend, an und verschwindet hinter der nächsten Kurve.
Rosa heißt sie, groß ist sie und schlank. Streichholz wurde sie früher gehänselt, wegen ihrer knallroten Haare auf dünnem Stiel. Rote, rufen sie ihre Freunde, nicht nur wegen der Haare. Sie trägt gerne rote Kleider, rote Pullis, rote Mäntel und sieht dann nicht nur aus wie eine Dynamitstange, sondern verhält sich zuweilen auch so: Wird ihr Druck zu berstend, Lust zu geil, Ungeduld zu kurzatmig und Unrecht zu schreiend, dann reicht ein kleiner Funke und die dünne Dame wird zur explodierenden Erinye.
Es sind diese ersten Augenblicke, die er über alles liebt, diese großartigen Momente, die so nur wenige Männer erleben dürfen. Er, der Wolf, patrouilliert in seinem Revier. Zwei, drei Schritte durch diese Tür reichen aus für Tiefenwirkung, dann stehen bleiben, sich zeigen; nicht denken, wirken; die Weibchen riechen ihn, sie wittern ihren Alphamann, sie werden unruhig, sind bereit und willig.
Die Wandspiegel zeigen ihm, was die Damen sehen. Und was er dort sieht, gefällt ihm. Seine Hand streicht zart über sein Kinn, den Kopf streckt er wie von einem Faden gezogen der Decke entgegen, ein alter Trick, er weiß, so wirkt er schlanker.
Trotz all seiner wichtigen Gedanken nimmt er das kurze Stocken der Gespräche wahr, sieht das Spreizen der Nasenflügel, spürt die schnellen, neugierigen Blicke, die ihn erfassen, weiß von dem genetisch verankerten Verlangen nach ihm, dem Mann, dem Garanten der Lust und der Zukunft.
Er, Perté, der graue Wolf, ist hier, stellt sich hin – schaut her! - zeigt sich, seinen Körper, und damit der Konkurrenz ihre Grenzen auf. Keiner kann länger als Perté, der graue Wolf, so nah am Eingang stehen bleiben, ohne verloren zu wirken.
Rosa, die rote Rosa, muss los, in einer halben Stunde beginnt ihr Dienst, eine lange Nachtschicht liegt vor ihr. Sie geht rückwärts die Treppen hinab, vorwärts kennt sie die Strecke zur Genüge. Auf dem letzten Treppenabsatz begegnet sie Frau Gerster, einer älteren, verwitweten Schullehrerin.
„Eine so hübsche Frau, wie Sie, sollte zu dieser Zeit nicht allein auf die Straße gehen“, mahnt diese.
„Aber Frau Gerster, es ist doch erst kurz vor neun.“
„Ja, aber bereits dunkel. Und er ist da draußen.“ Ein Zittern liegt in ihrer Stimme.
„Er?“
Frau Gerster haucht in Rosas Ohr: „Der Vergewaltiger.“
„Upps.“ Rosa weiß von ihm. Mehrere Frauen wurden in den letzten Monaten in der Stadt vergewaltigt. Die Zeitungen schreiben von einem Serientäter.
„Eine Gefahr, die man kennt, ist keine Gefahr mehr“, sagt sie beruhigend.
„Von Zietzen, preußischer General“, gibt die Lehrerin zurück. „Aber: Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um, sagt die Bibel.“
„Hallo.“ Eine rauchige Frauenstimme klingt in seinem Rücken. Er mag sie nicht, diese Stimme. „Schön, dich hier zu sehen.“
Nach einer Viertelumdrehung seines Kopfes sieht er die hagere Frau. Sie ist größer als er selbst, beinah so alt; mit seinen Augen schiebt er sie weg, sie versteht. Was glaubt sie denn? Er nimmt die breiten Becken, die großen Brüste, seit alters her sind das die Garanten für kräftigen Nachwuchs.
Und außerdem ergreift er die Initiative zu einem Gespräch!
„Jeder das ihre“, sagt er rau und leise mit seiner männlichsten Stimme, wendet sich ab und lässt sie verdutzt stehen.
„Whisky.“
Der Barkeeper weiß Bescheid. Perté trinkt stets die gleiche Marke: Glenrothes, ein Single Speyside Malt, mit einem Spritzer Wasser auf den Zielwert von vierzig Prozent verdünnt. Das zeichnet den Kenner aus, hat er gelesen, und lässt, bei freiem Geist, den Mann seinen Mann stehen, weiß er aus eigener Erfahrung.
Rosa tänzelt den Bürgersteig entlang, nur auf die Pflastersteine tretend, die Linien dürfen nicht berührt werden. Ab und an erfordert diese Aufgabe einen kleinen Zwischenhopser. Der Gedanke, von einem Kollegen beobachtet zu werden, amüsiert sie. In ihrer Arbeitswelt ist sie die Ernste, die Seriöse und Autoritäre, und hier hüpft sie, einem jungen Mädchen gleich, den Weg entlang.
Bis sie eingeholt wird von dem Gedanken an Frau Gerster und den Vergewaltiger. Warum gibt es diese Männer? Natürlich kennt sie Antworten auf diese Frage, aber sie will sie nicht verstehen. Viel lieber denkt sie an einen Anderen, den Anderen, an den neuen Pfleger ihrer Oma. Er ist ein ganz süßer Kerl, so schüchtern, aber sie wird ihn schon ermutigen. Es gefällt ihr einfach alles an ihm, bis auf seinen Namen, Stephan Sackleder, aber dafür kann er ja nichts.
„Wie heißen Sie?“, säuselt er in ihr aufreizendes Dekolleté.
Sie gefällt ihm. Prall findet er sie, rund und fest ist sie; egal, wohin er greifen wird, er wird viel in bester Konsistenz zu fassen bekommen: nachgiebig Widerstand leistendes Fleisch.
Sie sitzt neben ihm am Tresen und wartet, bis er das Spiel auf seine gewohnt originelle Art eröffnet.
„Darf ich Ihnen etwas zu Trinken bestellen?“
„Gerne, ein Wasser vielleicht.“
„Mein Name ist Perté.“
„Sind Sie Schweizer?“
Überrascht schaut er in ihr Gesicht.
„Nicht?“ Klingt ihre Stimme enttäuscht?
„Doch, doch.“ Er nickt. Wieso nickt er? Sie hat ihn überrumpelt mit ihrem Schweizer, darauf war er nicht vorbereitet. Er trinkt sein Glas mit einem kräftigen Zug leer, verschluckt sich, hustet, das Zeug brennt in der Luftröhre, seine Augen werden feucht.
„Hier, Cowboy, lösch dein Feuer.“ Sie schiebt ihm die von ihm bestellte Flasche Mineralwasser zu.
Zorn steigt in ihm auf, Wut, er fühlt sich gedemütigt. Was ist heute los mit diesen Weibern? Glauben sie, er sei alt, schwach, halten sie ihn für ein einfaches Rudeltier? Es ist wohl an der Zeit, ein Zeichen zu setzen. Es treibt ihn hinaus in die Nacht, er muss sich zurückziehen in sein vertrautes Habitat – frei atmen und riechen, sich bewegen.
„April in Paris, this is a feeling ...“, singt sie in den späten Novemberabend hinein. Ihr Weg wird sie noch an dieser stillen Häuserreihe entlang führen, an der nächsten Querstraße links, zweites Gebäude, dritter Stock, umziehen und hinein in den Dienst zum Wohle der Gesellschaft. Wirkliche Lust verspürt sie nicht, zu Hause auf dem Sofa zu lümmeln wäre mehr, als nur eine reizvolle Alternative. Mit Stephan ...
Wie einen Reißzahn drückt er die Messerspitze gegen ihre Halsschlagader. Sie war mutig, wehrte sich heftig und erst, als er den Druck auf die Klingenspitze verstärkte und die ersten Bluttropfen aus der Haut quollen, war ihre Angst groß genug und sie ging vor ihm in die Knie. Brav schält sie ihm nun den Schwanz aus der Hose und klein ist der, wirkt zerbrechlich, wie ein kleiner Vogel liegt er in ihrer Hand. Er wird nicht klein bleiben, keine Sorge, gutes Weib.
Er ärgert sich über sich selbst. Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit ging er seine Jagd zu ungeduldig an, nahm sich nicht die bedeutsame Zeit des Aussortierens und griff überhastet zu. So fing er sich dieses lange, dürre Weib, das an ihm vorbei hüpfen wollte, gerade mal zwei Minuten, nachdem er seine Jagdposition eingenommen hatte. Übereilt zerrte er sie in diese dunkle Hofeinfahrt.
Seine linke Hand fährt tief in ihre Lockenpracht, umfasst ihren Hinterkopf, drückt ihn zu sich. Er knurrt erregt, trotz ihr, gleich wird sie ...
Als Perté die Einfahrt betritt, er wohnt als letzter Mieter in dem zum Abbruch vorgesehenen Hinterhaus, erfasst er mit einem Blick die Situation: Ein fremder Wolf ist in sein Revier eingedrungen und greift sich eines seiner Weibchen.
„Was machen Sie hier?“ Verflucht, seine Stimme könnte fester klingen.
Der Konkurrent schreckt hoch, dreht sich zu Perté, stopft hastig sein blank stehendes Geschlecht in die Hose. Die Frau entwindet sich dem gelockerten Griff, stolpert, stürzt nach hinten, das Messer fällt klirrend auf den Betonboden. Erst jetzt erkennt Perté die Waffe. Für einen Augenblick stehen sich die beiden Männer schweigend gegenüber, in der Dunkelheit erkennen sie nur schemenhaft ihre Umrisse.
Die Frau rappelt sich hoch, drückt sich an der Wand entlang an Beiden vorbei, rennt hinaus auf die Straße, sie hören sie weglaufen.
Auch der Eindringling rennt los, nach hinten, in den dunklen Hof hinein. Perté lächelt, dort gibt es kein Entrinnen, das weiß er, hier kennt er sich aus, das ist sein Revier. Er bückt sich, greift nach dem Messer, will die Verfolgung aufnehmen, doch er wird von einem heftigen Motorengeräusch überrascht. Ein Wagen biegt mit Reifenquietschen von der Straße ab in die Einfahrt, direkt auf ihn zu, grelles Licht blitzt auf, Autoscheinwerfer blenden ihn. Zwei Autotüren werden aufgestoßen, zwei junge Männer steigen aus.
Peter Klamm steht geblendet im Licht, das Messer in der Hand, die Klinge blitzt. Die beiden Männer stellen keine Fragen, einer tritt ihm mit dem Fuß mächtig zwischen die Beine, der andere verdreht ihm den Arm schmerzhaft nach hinten und zwingt ihn zu Boden.
„Ruf die Polizei“, hört er ihn zu seinem Begleiter sagen.
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Peter Klamm sitzt im Vernehmungsraum auf einem harten Holzstuhl, ihm gegenüber Rosa. Die ernste Rosa, die ihre erste Kaffeetasse noch nicht leer getrunken hatte, als ihr dieser Mann vorgeführt wurde. Es könnte der Vergewaltiger sein, wurde ihr gesagt. Sie betrachtet still sein Gesicht. Grau ist er, denkt sie, er saß wohl zu selten in der Sonne.
Sie hat ihn über seine Rechte belehrt, ihn danach zu seiner Person befragt und wird nun mit der Vernehmung beginnen. Noch hat sie nur die Aussage der beiden jungen Männer, die ihn überwältigt haben. Die Frau, die offenbar um Hilfe rief, hat sich leider noch nicht gemeldet. Sie wird nach ihr suchen lassen. Ohne ihre Aussage wird es schwer werden, diesen Peter Pervers länger fest zu halten.
Sie wird dieses Schwein zu einem Geständnis bringen. Bürschchen, denkt sie, das wird eine lange Nacht. Morgen früh gehören uns die Schlagzeilen, du wirst der Böse sein und ich die Gute.
In seinen Augen kann sie nichts von ihm erkennen, sie spiegeln nur sie selbst als rot loderndes Feuer.