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Sehen Sie es ein?

Seniors
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03.04.2003
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Sehen Sie es ein?

Als sie zu sich kam, fand sie sich mit Handschellen an ein Bett gefesselt. Es war ein altmodisches Teil mit schmiedeeisernem Gitterrahmen. Im ersten Augenblick fand sie dies nicht weiter störend, zu schwer war der Kopf und zu traumartig das Erlebnis. Ein kleiner fensterloser Raum mit sonderbarer Wandverkleidung aus Schaumstoff, erhellt von einer grellen Neonröhre an der Decke. Sie war nackt, aber sie fror nicht. Es war viel zu warm in diesem Zimmer …
Sie schlief wieder ein.

Ein Zucken durch den ganzen Körper ließ sie wieder erwachen. Diesmal war ihr Kopf völlig klar und der Schrecken gewaltig. Was tat sie hier? Sie konnte es kaum fassen, aber offenbar hatte sie jemand entführt. Wer? Keine Ahnung.
Die Tatsache, daß sie sich nicht erinnern konnte, wie sie hierhergekommen war, steigerte ihre Angst ins Unerträgliche. Zu schreien wagte sie aber nicht, denn wenn sie überhaupt jemand hören würde, dann der, der sie hierhergeschafft und aufgespannt hatte. Und der hatte mit Sicherheit noch etwas mit ihr vor, das sie gar nicht wissen wollte. Das einzig Sinvolle war eine sofortige Flucht. Sie zog an ihren Fesseln, versuchte, Arme und Beine freizubekommen, zuerst vorsichtig, dann immer heftiger, bis ihre Sehnen zu schmerzen begannen.
Während sie sich einen Moment lang ausruhte, raste ihr Gehirn auf der Suche nach Antworten. Das letzte, woran sie sich deutlich erinnern konnte, war, daß sie aufgestanden war. Sie sah sich noch ganz deutlich, wie sie duschte, sich anzog, schminkte, die Ohrringe einsetzte und die Wohnung verließ. Aber danach – kompletter Filmriß. Sie versuchte sich krampfhaft daran zu erinnern, warum sie die Wohnung verlassen hatte. Am wahrscheinlichsten war es, daß sie ins Büro gegangen war. Aber Wahrscheinlichkeit war eine Sache, Gewißheit die andere. Welche Schuhe hatte sie angezogen? Wenn es die mit den Absätzen waren, war sie ins Büro gegangen, wenn es die flachen gewesen waren, war es ein Ortstermin gewesen …
Harndrang. Plötzlich und heftig. Und keine Möglichkeit, ihm nachzugeben.

Sie versuchte es lange. Erst als die wundgescheuerten Handgelenke begannen, rot und feucht zu werden, hörte sie auf. Sollte sie rufen? Angesichts der Ausweglosigkeit ihrer Lage machte es keinen Sinn, weiter zu schweigen.
„Hilfe!“ rief sie. Zuerst zaghaft, dann immer lauter, schließlich aus vollstem Halse brüllend, bis die Stimmbänder versagten. Erst jetzt merkte sie, daß sie weinte. Die Nase war zu, und kein Taschentuch zur Hand.
Sie versuchte, die Sekunden zu zählen, um später sagen zu können, wie lange man sie hier festgehalten hatte. Doch als sie bei fünftausend ankam, verließ sie die Motivation.
So wie sich sich anfangs gefürchtet hatte, daß jemand zur Tür hereinkam, so sehr fürchtete sie sich nun, daß niemand kommen würde. Doch ihre Gebete wurden erhört, es kam jemand. Wenn auch erst eine halbe Ewigkeit später.

„Na, wen haben wir denn da? Unartiges Mädchen, hat Pipi ins Bett gemacht.“
Der Mann war mittelgroß und unscheinbar. Sie schätzte ihn auf Ende Dreißig, also etwa in ihrem Alter. Eine gepflegte Erscheinung mit einer goldgeränderten Brille. Einzig auffällig waren die tiefen Falten um die nach unten gebogenen Mundwinkel. Er machte ihr Angst, und sie empfand grenzenlose Scham.
„Was wollen Sie von mir?“ fragte sie. Und im gleichen Augenblick wußte sie, daß sie diesen Mann schon einmal gesehen hatte. Aber wann und wo, das konnte sie nicht sagen.
„Was denken Sie denn, was ich wollen könnte?“ erwiderte der Mann und kam langsam näher.
„Ich habe keine Ahnung! Ich weiß ja nicht mal, wer Sie sind!“
„Das spricht nicht zu Ihren Gunsten, Frau Hildebrandt. Seine Opfer zu vergessen, ist die höchste Form der Arroganz, die ich mir vorstellen kann.“
„Wovon reden Sie da? Wer ist hier das Opfer?“
„Im Moment Sie, zweifellos. Allerdings würde ich den Ausdruck Gefangene vorziehen. Sie werden bald wissen, warum. Ich gebe Ihnen etwas Bedenkzeit, um sich an mich zu erinnern. Besser, Sie machen mich nicht wütend.“ Der Mann ging wieder aus dem Zimmer.
„Mein Name ist Udo Seidel“, sagte er noch, bevor er die Tür hinter sich schloß.

Natürlich wußte sie, wer er war. Den Namen würde sie nicht so schnell vergessen wie das Gesicht, das sie lediglich dreimal gesehen und sich nie eingeprägt hatte. Er war ein Statist in einem Fall von vielen gewesen – jedenfalls bis zur Strafanzeige. Eine heikle Sache, doch der Staatsanwalt hatte schließlich darauf verzichtet, ein Ermittlungsverfahren einzuleiten. Soweit sie erfahren hatte, war auch niemand der zahlreichen Zeugen angehört worden. Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus. Plötzlich befiel sie ein mulmiges Gefühl.
Sie rief nach ihm, um das Gespräch fortzusetzen, doch es dauerte weitere zwei Blasenentleerungen, bis er sich wieder zeigte. Mit Ekel dachte sie inzwischen daran, was passieren würde, wenn sich der Stuhlgang melden würde.

„Ich hoffe, Ihre grauen Zellen sind zu einem Ergebnis gekommen“, sagte Seidel. Er hatte eine Teekanne mitgebracht sowie ein frisches Bettlaken.
„Was ist da drin?“ fragte sie mit Blick auf die Kanne.
„Wasser. Sie sollen schließlich nicht verdursten. – Wollen Sie?“
Ihre Zunge klebte am Gaumen, aber der Gedanke, von ihrem Entführer eine Gefälligkeit anzunehmen, gefiel ihr nicht.
„Ich weiß nicht, was Sie noch vorhaben“, sagte sie und versuchte dabei ihren streng-vorwurfsvollen Gesichtsausdruck aufzusetzen, der sich durch häufigen Gebrauch in den letzten Jahren in ihre Gesichtszüge gegraben hatte. „Aber Sie haben sich bereits strafbar gemacht. Wenn Sie mich jetzt freilassen, kommen Sie noch mit einer relativ milden Strafe davon.“
Seidel sah sie an mit einem Blick, der sie wünschen ließ, das nicht gesagt zu haben.
„Sie überraschen mich immer wieder“, erwiderte er mit der sanftesten Stimme, die man sich vorstellen konnte. „Ich hätte gedacht, Sie flehen um Ihr Leben, Ihre Freiheit; versprechen mir, der Polizei nichts zu verraten, wenn ich Sie gehen lasse … Doch alles, was Sie mir anbieten ist eine ‚relativ milde Strafe’. Das bestätigt mir, daß ich es eigentlich nicht mit einem Menschen zu tun habe, sondern mit einer bürokratischen Maschine ohne Seele.“
Er holte etwas Kleines aus seiner Hosentasche, befreite es aus einer Hülle von Papier und durchsichtigem Plastik. Es war eine Infusionsnadel, wie sie in Krankenhäusern verwendet wurde. Noch ehe sie etwas sagen konnte, hatte er sie ihr bis zum Anschlag in den Oberschenkel gestochen.
Der Schmerz war heftig, sie schrie und wand sich.
„Zumindest Schmerz scheinen Sie empfinden zu können“, meinte Seidel tonlos. „Das ist schon mal ein Anfang. Vielleicht besteht für Sie noch Hoffnung.“
„Das ist Körperverletzung!“ rief sie.
„Was Sie nicht sagen – das hier auch?“ Er zog die Nadel blitzschnell heraus, nur um sie dicht neben der Einstichstelle erneut in ihr Fleisch zu versenken. „Und das? Und das? Und hier? – Hören Sie auf zu schreien, das nervt. – Ja, weinen dürfen Sie. Weinen reinigt. Sogar solche verdorbenen Wesen wie sie. Es macht sie menschlich.“

Er hatte sie mit einem Waschhandschuh abgewaschen, die Wunden mit einem Pflaster überklebt und das Laken gewechselt. Das neue besaß ein Loch, welches mit einem metallverkleideten Loch in der Matratze korrespondierte. Direkt unter ihrem After. Der Sinn war klar.
Wasser hatte sie keines bekommen. Dazu müsse sie kooperativer werden, hatte er ihr gesagt. Sie weinte noch eine Weile, nachdem er gegangen war. Dann begann sie, ihre Gedanken zu ordnen.
Seidel war ein Psychopath. Als sie das seinerzeit in das Gutachten geschrieben hatte, das dem Gericht vorgelegt worden war, war sie sich dessen noch nicht sicher gewesen. Sie hatte sogar ein schlechtes Gewissen deswegen gehabt. Aber sie hatte recht behalten. Ein kurzes Lächeln der Zufriedenheit huschte über ihr vorzeitig gealtertes Gesicht. Dann wurde sie sich wieder ihrer Lage bewußt.
Wahrscheinlich wurde sie bereits vermißt. Und möglicherweise war der Verdacht auch schon auf Seidel gefallen; er hatte ein aktenkundiges Motiv, so krank und verdreht es auch sein mochte. Nur, ob ihr das etwas nützen würde, war zweifelhaft. Sofern dieses Zimmer in seiner Wohnung oder seinem Haus lag, würde es früher oder später durchsucht werden, aber vielleicht lag es auch in irgendeinem verlassenen Bunker oder einer Jagdhütte.
Wenn sie hier mit heiler Haut davonkommen wollte, mußte sie vielleicht sein Spiel mitspielen. Drei Semester Psychologie, fast zwei Jahrzehnte zurückliegend, waren keine taugliche Grundlage für Überredungsversuche.
Wahrscheinlich ging es Seidel nur um Erniedrigung und Schmerz. Je bockiger sie sich anstellte, desto wütender würde er werden. Sie mußte ihm geben, was er wollte, bevor er es sich mit Gewalt holte. Ja, genau so.
Allerdings würde das sehr schwer werden. Sie war es gewohnt, ihren Willen durchzusetzen und dabei keine große Rücksicht auf die Gefühle anderer nehmen zu müssen.

„Bitte, lassen Sie mich gehen. Ich verspreche auch, niemandem etwas zu erzählen! Ich werde sagen, daß ich eine Grippe hatte, ich …“
„Schön auswendig gelernt, der Text“, sagte Seidel und schob einen Servierwagen heran, der mit einem grünen Tuch bedeckt war. Plözlich roch es im Zimmer nach Desinfektionsmittel.
„Was wollen Sie denn von mir? Ich tue alles, was Sie wollen, aber bitte tun Sie mir nichts.“ Sie fühlte selbst, daß es nicht sehr glaubwürdig klang. Das weinerliche Flehen, das sie geübt hatte, ließ sich nicht auf Knopfdruck abrufen. Sicher wollte sie nicht, daß er ihr etwas tat, aber sie spürte immer noch Verachtung und Trotz. Dieser Geisteskranke war ein wertloser Haufen Hundedreck, nicht wert ihr die Füße zu küssen. Sie konnte keinen Respekt vor ihm entwickeln, und was sie seinerzeit getan hatte, war völlig korrekt gewesen.
„Wenn es in Ihrer oder meiner Macht läge, die Dinge ungeschehen zu machen, wäre es das, was ich verlangen würde“, sagte Seidel und nahm das grüne Tuch ab. Darunter lagen Werkzeuge: Hammer, Bohrer, Säge, Tapeziermesser … Ihr Augen weiteten sich vor Schreck, und Seidel sah es.
„Ja, Angst …“, sinnierte er. „Angst ist immer gut. Die Angst ist die Vorfreude auf den Schmerz.“
„Warum?“ Sie merkte, wie ihr jetzt doch Tränen in die Augen traten. Echte Tränen. „Das ergibt doch keinen Sinn, ich habe nur meine Pflicht getan, ich …“
„Sie wissen, daß das eine Lüge ist“, fiel Seidel ihr ins Wort. „Und ich werde nicht eher ruhen, bis ich das aus ihrem eigenen Mund höre.“
„Ja, es ist eine Lüge“, keuchte sie hastig. „Ich habe Sie betrogen, ich habe gegen Gesetze verstoßen, ich …“
„Nein nein, so wird das nichts“, unterbrach Seidel sie. „Sie leiern das herunter aus Angst, daß ich Ihnen weh tue. Aber es muß Ihre tiefste Überzeugung sein, was Sie sagen. Sie müssen Ihr Unrecht einsehen. Verstehen Sie?“
Sie nickte hastig. Ihr Herz klopfte im Hals und sie war nicht mehr in der Lage, zu sprechen.
Seidel schüttelte den Kopf. „Sie werden verstehen. Früher oder später müssen Sie das.“
Sie schrie, weinte und zappelte, als er ein Loch von fünf Millimetern Durchmesser in ihre linke Kniescheibe bohrte.
Aber auch die anderen Werkzeuge kamen zum Zuge. Eines nach dem anderen. Das Loch in der Matratze leistete dabei gute Dienste.
„Sehen Sie es ein?“ fragte er immer wieder. Doch es war egal, was sie antwortete, er hörte nicht auf. Auch nicht, als nur noch tierhafte Laute ihre Kehle verließen.
Als sie wieder alleine war und auf ihre dick bandagierten Beine blickte, waren ihre Gedanken ausgebrannt. Sie empfand nichts, wünschte nichts, dachte nichts.

Sie blieb sehr lange alleine, schlief immer wieder ein, wachte vor Hunger und Durst auf, schlief wieder ein. Genug Zeit, um über einige Dinge nachzudenken.
Seidel war Architekt gewesen. Sie hatte ihn vor sieben Jahren kennengelernt, seine Frau wollte sich scheiden lassen und sie hatten unterschiedliche Ansichten darüber gehabt, wer die beiden Kinder bekommen sollte. Ein Fall für das Jugendamt, und sie war die zuständige Sachbearbeiterin gewesen.
Seidel hatte behauptet, seine Frau sei zu blöd, um Kinder zu erziehen. Ein dominanter Macho, der andere Leute nicht zu Wort kommen ließ. Frau Seidel dagegen war ein verhuschtes kleines Wesen, das sich kaum getraut hatte, den Mund aufzumachen. Sie hatte sich mit ihr auf Anhieb verstanden und beschlossen, ihr zu helfen.
Seidel hatte anfangs kaum Schwierigkeiten gemacht, war aus der Wohnung ausgezogen und hatte seine Frau nicht weiter belästigt. Aber dann hatte Frau Seidel stressbedingt einen Nervenzusamenbruch erlitten und mußte für einige Wochen in die Klinik. Sofort war der vergessen geglaubte Macho wieder auf dem Plan erschienen und hatte die Herausgabe der Kinder gefordert. Er konnte jedoch dazu überredet werden, eine Einverständniserklärung zu unterschreiben, daß die Kinder für die Dauer des Klinikaufenthaltes seiner Frau in einer Tageseinrichtung untergebracht wurden.
Leider war danach der Zirkus erst richtig losgegangen. Seidel behauptete, die Kinder seien gegen seinen Willen in ein Heim gesteckt worden. Er beantragte beim Familiengericht das Sorgerecht, belästigte das Heimpersonal und schrieb ans Jugendamt Drohbriefe. Er schien auch seine Frau in der Klinik unter Druck zu setzen, denn diese war plötzlich bereit, ihm die Kinder abzutreten. Es hatte sehr viel Kraft und Nerven gekostet, sie von dieser Idee wieder abzubringen.
Seidel hatte sogar sie selbst bedroht und am Telefon die „Freilassung“ seiner Kinder aus dem Heim gefordert. Sie hatte versucht, ihm ruhig zu erklären, daß er doch selbst die Einverständniserklärung unterschrieben hatte und eine schriftliche Rücknahme nicht vorlag. Ein Fehler vielleicht, denn das hatte Seidel danach umgehend nachgeholt. Frau Seidel war mit den Kindern daraufhin ins Frauenhaus geflüchtet und dortgeblieben, bis das Gericht den Sorgerechtsantrag Seidels abgelehnt und das Sorgerecht auf die Mutter übertragen hatte.
Und nun, sieben Jahre später war der Psychopath wieder aufgetaucht und versuchte, sie mittels Folter dazu zu bringen, daß sie einsah, daß sie damals im Unrecht gewesen war. Völlig verrückt …
Sie hätte alles dafür getan, wieder nach Hause zurückkehren zu können. Aber ihr Verstand ließ sich nicht überlisten. Sie hatte richtig gehandelt und bereute nichts. Und Seidel spürte das. Natürlich konnte es auch sein, daß er nur so tat. Vielleicht war es egal was sie sagte und wie sie es sagte, diese Vorstellung war beängstigend …

Am nächsten Tag – sofern man in einer fensterlosen Zelle noch von einem Zeitgefühl sprechen konnte – brachte Seidel ihr zu Essen und zu Trinken und wechselte die durchgebluteten Verbände. Widerwillig ließ sie sich von ihm füttern; es brachte nichts, die Stolze zu spielen. Sie würde hier nicht wegkommen, außer er ließ es zu.
„Haben Sie nachgedacht?“ fragte er.
Das vielversprechende Gespräch endete mit mehreren Schnittwunden und neuen Löchern.
„Sehen Sie es ein?“
Bevor sie das Bewußtsein verlor, dachte sie noch daran, daß ihr Schienbein nach ihrem Tod als Querflöte verwendet werden konnte.

„Das sieht nicht gut aus“, sagte Seidel, als er den von gelber Flüssigkeit durchtränkten Verband vom Fuß wickelte. Er klebte in der Wunde, doch mit einem beherzten Ruck ließ sich das Problem lösen. Sie schrie, doch nur bis ihr vom Anblick ihres Fußes der Atem stockte.
Zwischen den Zehen befand sich keine Haut mehr, nur rotes rohes Fleisch, und was an Haut noch übrig war, hatte sich dunkel verfärbt.
„Hm …“ Seidel tastete die graue Haut ab, die sich problemlos ablösen ließ. „Da scheine ich wohl eine Arterie erwischt zu haben …“
Sie spürte ein Würgen im Hals.
„Tja, ich fürchte, wenn Sie nicht an Wundvergiftung sterben wollen, muß der Fuß ab.“
Das Würgen gewann an Substanz und bahnte sich einen Weg nach draußen.
„Pfui Teufel“, kommentierte Seidel. „Sie machen mir wirklich Arbeit, Frau Hildebrandt.“ Er ging kurz und kehrte mit einer Spritze zurück, ihr „Nein, bitte nicht“ beharrlich ignorierend.
Der zweite Filmriß.

Er ließ ihr vier Tage Zeit, den Verlust ihres Vorfußes zu beweinen, dann kehrte er mit dem Werkzeugwägelchen zurück.
„Habe ich Ihnen schon gesagt, wie sehr ich es hasse, Ihnen weh zu tun?“
Sie sagte nichts, aber ihr Atem wurde schneller, ebenso der Herzschlag. Sie wand sich in ihren Fesseln. Die Fluchtreflexe mochten nutzlos sein, aber sie waren nicht so einfach abzustellen.
Diesmal holte er eine kleine Zange hervor und näherte sie ihrem Gesicht. „Ich probiere heute mal etwas Neues aus. Vielleicht klappt es ja diesmal.“
„Es ist genug“, hörte sie sich selbst sagen. „Ich will sterben.“
Sie wußte nicht, was sie mehr überraschen sollte: Die Worte, die sie gesprochen hatte oder daß er die Zange wieder weglegte.
„Der erste vernünftige Vorschlag, den ich von Ihnen höre. Aber ich halte nichts von alttestamentarischer Rache.“
Sie glotzte verständnislos. Das Herzklopfen wurde nicht weniger.
„Jemanden zu töten, um damit den Tod eines anderen auszugleichen, ist nicht mein Stil“, erklärte Seidel. „Obwohl ich uns beiden damit sicher viel ersparen würde …“
Was faselte der irre Metzger da?
„Herr Seidel …“
„Ja, bitte?“
„Wessen Tod würden Sie mit mir ausgleichen?“
Seidel blickte sie stumm an. Lange. Für einen Moment schien in seinen Augen so etwas wie eine entsetzte Erkenntnis aufzublitzen.
„Sie wissen das nicht? Ihretwegen ist meine Tochter doch gestorben.“
Sie fühlte, wie ihr abwechselnd heiß und kalt wurde. „Das … Das wußte ich nicht. – Wieso denn? Ich meine …“
„Bakterielle Sepsis, verursacht durch eine unbehandelte Nierenentzündung.“
„Das … tut mir leid, Herr Seidel. Aber … warum geben Sie mir die Schuld? Was habe ich damit zu tun?“
„Sie haben die Umstände geschaffen, unter denen das geschehen konnte. Sie haben dafür gesorgt, daß die Kinder meiner Frau zugesprochen wurden. Obwohl Sie genau gewußt haben, daß sie aufgrund einer psychischen Erkrankung nicht in der Lage war, ihren Aufgaben als Mutter nachzukommen.“
„Nein … Ich habe nicht …“
„Eine Woche lang hatte meine Tochter hohes Fieber.“ Seidel schluckte schwer. „Aber meine Frau brachte sie nicht zum Arzt. Erst als sie kalt war, rief sie eine Nachbarin zu Hilfe, und die rief dann mich. Aber ich …“ Seidel brach in Tränen aus und wandte sich ab.
Er vergaß, die Türe hinter sich zu schließen. So hörte sie sein Schluchzen, irgendwo ein oder zwei Stockwerke weiter oben.
Sie wußte nicht, was sie davon halten sollte, sie wußte noch nicht einmal, ob er die Wahrheit sagte. Sie war nur froh, daß er die Zange weggelegt hatte.

Seidel kehrte einigermaßen bald zurück. Er hatte Papiere dabei, die er ihr zeigte. Eins war ein Zeitungsausschnitt, der darüber berichtete, wie ein Kind in einem verwahrlosten Haushalt gestorben war. Er zeigte ihr die Sterbeurkunde von Tanja Seidel, sie war nur vier Jahre alt geworden. Er zeigte ihr auch ein Gutachten, das Frau Seidel als nicht erziehungsfähig einstufte und einen Beschluß des Familiengerichts, das Sorgerecht für das verbleibende Kind auf den Vater zu übertragen.
„Sie haben damals alles versucht, mich als Psychopathen hinzustellen“, sagte Seidel. „Mit Erfolg. Mit einem sehr bedauerlichen Erfolg. Dabei war meine Frau es, die krank gewesen ist. – Nein, sagen Sie nichts. Sie denken mit Sicherheit, daß Sie im Nachhinein recht haben, weil ich Ihnen all die Sachen hier antue. Aber da verwechseln Sie Ursache und Wirkung. Ein unschuldiges Kind mußte sterben und ich habe jahrelang gelitten wie ein Tier, weil eine selbstherrliche Zicke gegen jede Vernunft ihre feministischen Ansichten durchboxen wollte.“
„Das ist doch gar nicht wahr!“ protestierte sie. „Sie hatten doch die Einverständniserklärung unterschrieben. Sie hätten nur den entsprechenden Antrag zu stellen brauchen, anstatt mit Anwalt und Drohungen …“
„Nanana! Wir beide wissen, was da abgelaufen ist. Ich denke, daß ich Ihnen diesen Zahn noch ziehen muß.“
Was er dann auch tat – buchstäblich. Das war der Sinn der Zange. Jammernd folgte sie dem Ziehen an ihrem Schneidezahn mit Kopf und Oberkörper soweit es nur ging, bis die Handschellen und die knackenden Schultergelenke sie stoppten.
Als sie das gräßliche Knirschen im Kopf spürte und ein blendener Feuerball aus Schmerz in ihrem Oberkiefer explodierte, brach etwas in ihr zusammen. Für immer.
„Sehen Sie es ein?“
Sie sah es ein.

Das Interview wurde auf Band aufgezeichnet. Das meiste von dem, was sie sagte, wußte Seidel offenbar schon, denn er nickte nur. Nur an wenigen Stellen hatte er Zwischenfragen.
Es überraschte ihn nicht, zu hören, daß ihr ursprüngliches Motiv, seine Unterschrift zur Heimunterbringung zu erpressen, tatsächlich Überzeugung gewesen war. Allerdings überraschte es ihn, daß die Hauptquelle der Vorurteile gegen ihn seine Frau gewesen war, die behauptet hatte, er schlage sie und die Kinder. Später, als immer klarer wurde, daß mit Frau Seidel etwas nicht stimmte und ihre Geisteskrankheit nicht mehr zu übersehen war, hatte sich der Leiter des Jugendamtes eingeschaltet und angeordnet, daß man schon zu weit gegangen war, um einen Rückzieher zu machen.
Daß sowohl Seidels Dienstaufsichtsbeschwerde als auch Strafanzeige gegen das Jugendamt ins Leere gegangen waren, war der Tatsache zu verdanken, daß der Amtsleiter ein guter Freund des Bürgermeisters war.
„Tja“, sagte Seidel und stoppte das Band. „Das ist die Ironie des Schicksals. Wenn meine Strafanzeige etwas bewirkt hätte, säßen wir jetzt nicht hier. Sie wären Ihren Job los und hätten eine ordentliche Geldstrafe bekommen, aber dafür hätten Sie noch Ihren Zahn und ihren Fuß. Das Unrecht, das Ihnen einen Vorteil bringen sollte, hat sich am Ende gegen Sie gewendet.“
Sie fühlte bei diesen Worten eine sonderbare innere Leere. Seidel hatte ihr nicht nur eine verborgene Seite von ihr gezeigt, er hatte sie zugleich im Übermaß dafür büßen lassen. Sie wußte nicht, wie sie je wieder ins Büro gehen und ihre Arbeit tun sollte.
„Sind … wir jetzt fertig?“
„Im Prinzip schon“, sagte Seidel. „Sie haben Ihre Tat eingesehen und sie haben Ihre Strafe empfangen. Das war am wichtigsten. Und glauben Sie mir, ich habe es nicht genossen. Ich kann nämlich kein Blut sehen, wissen Sie?“
Wieder schlug ihr Herz schneller. Würde Seidel sie nun freilassen?
„Aber wie Sie selbst wissen, bestehen manche Dinge nicht nur aus einem strafrechtlichen Teil. Oftmals gibt es auch zivilrechtliche Aspekte.“
Seidel begann sich auszuziehen. Das ergab keinen Sinn.
„Wenn jemand durch eine Straftat geschädigt wurde, kann er eine Wiedergutmachung einklagen“, erklärte Seidel weiter. „Ihretwegen ist ein Kind gestorben. Wie könnte wohl eine Entschädigung dafür aussehen?“
„Ich … Ich weiß nicht“, stotterte sie, doch als Seidel nackt zu ihr aufs Bett kroch und sie sein erigiertes Glied sah, wußte sie es genau.
„Ich will ehrlich zu Ihnen sein“, sagte Seidel. „Sie zu quälen war auch eine Tortur für mich, und ich bin froh, daß es vorbei ist. Aber das hier wird mir sehr wahrscheinlich Spaß machen, auch wenn der Spaß nicht das Wesentliche ist.“
„Bitte, lassen Sie mich endlich gehen!“
„Tut mir leid“, sagte Seidel, „mir liegt kein schriftlicher Antrag dazu vor.“
Sie hielt den Atem an, als sein Penis sich in ihr Geschlecht bohrte. Sie war alles andere als feucht, und entsprechend schmerzhaft gestaltete sich die Prozedur.
„Ich hoffe, es wird ein Mädchen“, flüsterte Seidel, während er mit einer Hand sanft über ihre Stirn strich. Und zum ersten Mal ihrem Leben sah sie ihn lächeln.

 

Hallo rel!

Nachdem du mein "The Funeral Song" so gut bewertet hast, nenn ich dich einfach mal "rel". ;)

So: Die Geschichte hat mir, wie fast alle von dir, sehr gut gefallen. Zwar kein Meilenstein von dir, aber doch unterhaltsam. Diesmal wird die Geschichte in erster Linie von Spannung getragen, der Ekel und der Splatter treten hier in den Hintergrund. Aber ganz ohne komms du dann doch nicht aus ^^.

Tja, mehr gibts dann auch schon nicht mehr zu sagen.

Aus meiner Sicht in "Der Notar und das Mädchen" aber die beste Geschichte, die ich jemals hier auf dieser Seite gelesen habe, und auch eine der ersten... Aber das soll dich jetzt nicht unter Druck setzen.

Grüße,

Lestat

 

Diese Geschichte mußte mal raus, weil sie mich seit einiger Zeit beschäftigte.
Die nächste wird wieder ekliger.

Der Notar und das Mädchen ist zufällig meine eigene Lieblingsgeschichte hier...

r

 
Zuletzt bearbeitet:

Hi Relysium,

über Deine Geschichte habe ich eine Weile nachgedacht. Zunächst schreibe ich erstmal allgemein, was ich von einer Horrorstory erwarte, was natürlich völlig subjektiv ist. Ich will mich gruseln und Angst kriegen. Ich will Spannung haben. Ich schreib Dir mal meine Anmerkungen an die Zitate.

<<Als sie zu sich kam, fand sie sich mit Handschellen an ein Bett gefesselt. Es war ein altmodisches Teil mit schmiedeeisernem Gitterrahmen. Im ersten Augenblick fand sie dies nicht weiter störend<<

Okay, das ist Ironie, aber um mich zu gruseln, brauche ich hier nicht so eine Bemerkung sondern eher, wie sie sich fühlt bzw. besser, was sie tut. Sie schläft wieder ein, weil das Betäubungsmittel wirkt. Ergo kann sie meiner Meinung nach nicht detailliert bemerken, in welchen Umgebung sie sich befindet bzw. sie registriert es, kann es aber wegen der Betäubung nicht werten, was durch "sie stört es nicht" aber den Eindruck erweckt. Wenn sie so wach ist, dass sie sich daran stören oder nicht stören kann, ist sie auch so wach, dass sie in Panik ausbrechen könnte, denke ich.
<<zu schwer war der Kopf und zu traumartig das Erlebnis. >>

Schreib, wie ihr der Schädel brummt, was sie empfindet. Dann ist es für mich als Leser nicht von außen betrachtet sondern gefühlsmäßig nachvollziehbar.

<<Ein Zucken durch den ganzen Körper ließ sie wieder erwachen. Diesmal war ihr Kopf völlig klar <<

jetzt könnte sie die Neonröhren wahrnehmen und entsetzt werden. Sie kennt diese Umgebung nicht, was tut sie hier. Nach und nach die Erkenntnis: Jemand hat sie entführt. Ihr schießen Gedanken durch den Kopf, wer es hätte sein können, was wollte der, hatte er sich in sie verliebt, war er ein Killer wie in den Filmen, hasste er sie oder war sie nur zufällig ausgewählt ...

<<und der Schrecken gewaltig. Was tat sie hier? Sie konnte es kaum fassen,<<

Beschreibung eines Gefühls. Ich denke als Leser nur "Aha" und nicht "oh Gott!". Vielleicht wäre es gut, ihre Gedanken direkt zu schreiben. Dann ist sie mir näher.

<<Die Tatsache, daß sie sich nicht erinnern konnte, wie sie hierhergekommen war, steigerte ihre Angst ins Unerträgliche. <<

wieder nur eine Beschreibung. Was fühlt/denkt sie genau?

<<Sie zog an ihren Fesseln, versuchte, Arme und Beine freizubekommen, zuerst vorsichtig, dann immer heftiger, bis ihre Sehnen zu schmerzen begannen.
Während sie sich einen Moment lang ausruhte, raste ihr Gehirn auf der Suche nach Antworten. Das letzte, woran sie sich deutlich erinnern konnte, war, daß sie aufgestanden war. Sie sah sich noch ganz deutlich, wie sie duschte, sich anzog, schminkte, die Ohrringe einsetzte und die Wohnung verließ. Aber danach – kompletter Filmriß. Sie versuchte sich krampfhaft daran zu erinnern, warum sie die Wohnung verlassen hatte. Am wahrscheinlichsten war es, daß sie ins Büro gegangen war. Aber Wahrscheinlichkeit war eine Sache, Gewißheit die andere. Welche Schuhe hatte sie angezogen? Wenn es die mit den Absätzen waren, war sie ins Büro gegangen, wenn es die flachen gewesen waren, war es ein Ortstermin gewesen …
Harndrang. Plötzlich und heftig. Und keine Möglichkeit, ihm nachzugeben.<<

Diesen Abschnitt fand ich gut und passend.

<<Sie versuchte es lange. Erst als die wundgescheuerten Handgelenke begannen, rot und feucht zu werden, hörte sie auf. Sollte sie rufen? Angesichts der Ausweglosigkeit ihrer Lage machte es keinen Sinn, weiter zu schweigen.
„Hilfe!“ rief sie. Zuerst zaghaft, dann immer lauter, schließlich aus vollstem Halse brüllend, bis die Stimmbänder versagten. Erst jetzt merkte sie, daß sie weinte. Die Nase war zu, und kein Taschentuch zur Hand.
Sie versuchte, die Sekunden zu zählen, um später sagen zu können, wie lange man sie hier festgehalten hatte.<<

Das auch.

<< Doch als sie bei fünftausend ankam, verließ sie die Motivation.>>

Das wieder nicht so. Ausgerechnet fünftausend, das ist meiner Ansicht nach nicht wichtig. Sie zählt doch, bis es ihr sinnlos vorkommt.

<<So wie sich sich anfangs gefürchtet hatte, daß jemand zur Tür hereinkam, so sehr fürchtete sie sich nun, daß niemand kommen würde.<<

Gut.

<< Doch ihre Gebete wurden erhört, es kam jemand. Wenn auch erst eine halbe Ewigkeit später.>>

Du nimmst die Spannung raus durch die Vorhersage. Die Sätze sind meiner Ansicht nach unnötig, der nächste Abschnitt erklärt es doch.

<<„Na, wen haben wir denn da? Unartiges Mädchen, hat Pipi ins Bett gemacht.“
Der Mann war mittelgroß und unscheinbar. Sie schätzte ihn auf Ende Dreißig, also etwa in ihrem Alter. Eine gepflegte Erscheinung mit einer goldgeränderten Brille. Einzig auffällig waren die tiefen Falten um die nach unten gebogenen Mundwinkel. <<

Ja, sie sieht ihn sich genau an, jeder in der Situation würde das tun.

<<Er machte ihr Angst, und sie empfand grenzenlose Scham.<<

Wieder die Beschreibung, ihr könnte plötzlich wieder auffallen, dass sie nackt ist. Sie windet sich vielleicht, weil es ihr so unangenehm ist, was aber sinnlos ist. Was würde jemand in solcher Lage tun ...


Den folgenden Dialog fand ich gut.

<<Natürlich wußte sie, wer er war. Den Namen würde sie nicht so schnell vergessen wie das Gesicht, das sie lediglich dreimal gesehen und sich nie eingeprägt hatte. Er war ein Statist in einem Fall von vielen gewesen – jedenfalls bis zur Strafanzeige. Eine heikle Sache, doch der Staatsanwalt hatte schließlich darauf verzichtet, ein Ermittlungsverfahren einzuleiten. Soweit sie erfahren hatte, war auch niemand der zahlreichen Zeugen angehört worden. Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus. Plötzlich befiel sie ein mulmiges Gefühl.<<

Auch gut.

<<Sie rief nach ihm, um das Gespräch fortzusetzen<<

Ich fänd es besser, wenn sie wirklich rufen würde. Sie hat die Hoffnung, dass das Gespräch fortgesetzt wird. Sie will vielleicht erklären ... Aber er kommt nicht. Das ist eine verpasste Chance, mich als Leser in ein Gefühlsauf und -ab
zu stürzen.

<<doch es dauerte weitere zwei Blasenentleerungen, bis er sich wieder zeigte. <<

Ist ihr doch bestimmt peinlich. So bürokratisch und mitten-im-Leben, tough und sonstwie sie ist.

<<Mit Ekel dachte sie inzwischen daran, was passieren würde, wenn sich der Stuhlgang melden würde.<<

Nicht nur mit Ekel, oder? Ich denke, es ist ihr auch furchtbar peinlich.

Was jetzt kommt, finde ich gut und passend.

<<„Sie überraschen mich immer wieder“, erwiderte er mit der sanftesten Stimme, die man sich vorstellen konnte.<<

Ich finde, "sanft" reicht. Ich höre es. Der Nachsatz reißt mich eher raus.

<<„Ich hätte gedacht, Sie flehen um Ihr Leben, Ihre Freiheit; <<

wie sieht er dabei aus, was macht er?

<<versprechen mir, der Polizei nichts zu verraten, wenn ich Sie gehen lasse <<

hat er das auch gedacht? Erscheint mir zuviel, aber ich bin nicht sicher.
<<… Doch alles, was Sie mir anbieten ist eine ‚relativ milde Strafe’. <<

Muss ihm ja zumindest ein Lächeln oder eine nachdenkliche Miene entlocken, finde ich.

<<Das bestätigt mir, daß ich es eigentlich nicht mit einem Menschen zu tun habe, sondern mit einer bürokratischen Maschine ohne Seele.“>>

Konnte ich jetzt nicht aus dieser Bemerkung schließen.

<<Er holte etwas Kleines aus seiner Hosentasche, befreite es aus einer Hülle von Papier und durchsichtigem Plastik. Es war eine Infusionsnadel, wie sie in Krankenhäusern verwendet wurde. Noch ehe sie etwas sagen konnte, hatte er sie ihr bis zum Anschlag in den Oberschenkel gestochen.<<

Könnte mehr Horror erzeugen.

<<Der Schmerz war heftig, sie schrie und wand sich.
„Zumindest Schmerz scheinen Sie empfinden zu können“, meinte Seidel tonlos. „Das ist schon mal ein Anfang. Vielleicht besteht für Sie noch Hoffnung.“
„Das ist Körperverletzung!“ rief sie.
„Was Sie nicht sagen – das hier auch?“ Er zog die Nadel blitzschnell heraus, nur um sie dicht neben der Einstichstelle erneut in ihr Fleisch zu versenken. „Und das? Und das? Und hier? – Hören Sie auf zu schreien, das nervt – Ja, weinen dürfen Sie. Weinen reinigt. Sogar solche verdorbenen Wesen wie sie. Es macht sie menschlich.“>>

Du schreibst es so hinter einander weg. Nach "Und hier" könnte sie sich doch ein bisschen winden, die Tränen könnten ihr vor Schmerz in die Augen schießen, obwohl sie es vielleicht gar nicht will, damit man keine Schwäche sieht.

<<Er hatte sie mit einem Waschhandschuh abgewaschen, die Wunden mit einem Pflaster überklebt und das Laken gewechselt. Das neue besaß ein Loch, welches mit einem metallverkleideten Loch in der Matratze korrespondierte. Direkt unter ihrem After. Der Sinn war klar.
Wasser hatte sie keines bekommen. Dazu müsse sie kooperativer werden, hatte er ihr gesagt. Sie weinte noch eine Weile, nachdem er gegangen war. Dann begann sie, ihre Gedanken zu ordnen.
Seidel war ein Psychopath. Als sie das seinerzeit in das Gutachten geschrieben hatte, das dem Gericht vorgelegt worden war, war sie sich dessen noch nicht sicher gewesen. Sie hatte sogar ein schlechtes Gewissen deswegen gehabt. Aber sie hatte recht behalten. Ein kurzes Lächeln der Zufriedenheit huschte über ihr vorzeitig gealtertes Gesicht. Dann wurde sie sich wieder ihrer Lage bewußt.
Wahrscheinlich wurde sie bereits vermißt. Und möglicherweise war der Verdacht auch schon auf Seidel gefallen; er hatte ein aktenkundiges Motiv, so krank und verdreht es auch sein mochte. Nur, ob ihr das etwas nützen würde, war zweifelhaft. Sofern dieses Zimmer in seiner Wohnung oder seinem Haus lag, würde es früher oder später durchsucht werden, aber vielleicht lag es auch in irgendeinem verlassenen Bunker oder einer Jagdhütte.
Wenn sie hier mit heiler Haut davonkommen wollte, mußte sie vielleicht sein Spiel mitspielen. Drei Semester Psychologie, fast zwei Jahrzehnte zurückliegend, waren keine taugliche Grundlage für Überredungsversuche.
Wahrscheinlich ging es Seidel nur um Erniedrigung und Schmerz. Je bockiger sie sich anstellte, desto wütender würde er werden. Sie mußte ihm geben, was er wollte, bevor er es sich mit Gewalt holte. Ja, genau so.
Allerdings würde das sehr schwer werden. Sie war es gewohnt, ihren Willen durchzusetzen und dabei keine große Rücksicht auf die Gefühle anderer nehmen zu müssen.<<

Diesen Abschnitt fand ich gut.

<<„Bitte, lassen Sie mich gehen. Ich verspreche auch, niemandem etwas zu erzählen! Ich werde sagen, daß ich eine Grippe hatte, ich …“
„Schön auswendig gelernt, der Text“, sagte Seidel und schob einen Servierwagen heran, der mit einem grünen Tuch bedeckt war. Plözlich roch es im Zimmer nach Desinfektionsmittel.>>

Plötzlich roch SIE ...

<<„Was wollen Sie denn von mir? Ich tue alles, was Sie wollen, aber bitte tun Sie mir nichts.“ Sie fühlte selbst, daß es nicht sehr glaubwürdig klang. Das weinerliche Flehen, das sie geübt hatte, ließ sich nicht auf Knopfdruck abrufen. Sicher wollte sie nicht, daß er ihr etwas tat, aber sie spürte immer noch Verachtung und Trotz. Dieser Geisteskranke war ein wertloser Haufen Hundedreck, nicht wert ihr die Füße zu küssen. Sie konnte keinen Respekt vor ihm entwickeln, und was sie seinerzeit getan hatte, war völlig korrekt gewesen.
„Wenn es in Ihrer oder meiner Macht läge, die Dinge ungeschehen zu machen, wäre es das, was ich verlangen würde“, sagte Seidel und nahm das grüne Tuch ab. Darunter lagen Werkzeuge: Hammer, Bohrer, Säge, Tapeziermesser … Ihr Augen weiteten sich vor Schreck, und Seidel sah es.
„Ja, Angst …“, sinnierte er. „Angst ist immer gut. Die Angst ist die Vorfreude auf den Schmerz.“
„Warum?“ Sie merkte, wie ihr jetzt doch Tränen in die Augen traten. Echte Tränen. „Das ergibt doch keinen Sinn, ich habe nur meine Pflicht getan, ich …“
„Sie wissen, daß das eine Lüge ist“, fiel Seidel ihr ins Wort. „Und ich werde nicht eher ruhen, bis ich das aus ihrem eigenen Mund höre.“
„Ja, es ist eine Lüge“, keuchte sie hastig. „Ich habe Sie betrogen, ich habe gegen Gesetze verstoßen, ich …“
„Nein nein, so wird das nichts“, unterbrach Seidel sie. „Sie leiern das herunter aus Angst, daß ich Ihnen weh tue. Aber es muß Ihre tiefste Überzeugung sein, was Sie sagen. Sie müssen Ihr Unrecht einsehen. Verstehen Sie?“
Sie nickte hastig. Ihr Herz klopfte im Hals und sie war nicht mehr in der Lage, zu sprechen.>>

das fand ich gut, dh. ich kann gefühlsmäßig nachvollziehen.

<<Seidel schüttelte den Kopf. „Sie werden verstehen. Früher oder später müssen Sie das.“>>

Das auch.

<<Sie schrie, weinte und zappelte, als er ein Loch von fünf Millimetern Durchmesser in ihre linke Kniescheibe bohrte.>>

Warum nicht den Horror auskosten? Welches Gerät sieht sie plötzlich, wie ist das Geräusch, wenn es strombetrieben ist, wenn nicht, wie fühlt es sich an.

<<„Sehen Sie es ein?“ fragte er immer wieder.<<

Ich finde, Du könntest ihn das Werkzeug benutzen und dann fragen lassen. Sie antwortet vielleicht mit "was?!" Nochmal. Sie antwortet natürlich mit "Ja!". Er weiß, sie lügt. (Kennst Du den Film "Der Marathon-Mann"? "Sind sie außer Gefahr?")

<<Am nächsten Tag – sofern man in einer fensterlosen Zelle noch von einem Zeitgefühl sprechen konnte<<

Kann man nicht, denke ich, daher würde ich diese relativ exakte Zeitangabe nicht machen.

<<Bevor sie das Bewußtsein verlor, dachte sie noch daran, daß ihr Schienbein nach ihrem Tod als Querflöte verwendet werden konnte.<<

Entweder oder. Entweder Du machst durchgehend solche Witze oder Du willst beim Leser ein horrormäßiges Gefühl erzeugen. Wer denkt schon sowas, wenn er Löcher in seinem Schienbein sieht. Und wenn, dann muss sie sich auch irgendwie in diese Stimmung denken. Das ist ja irgendwie völliger Sarkasmus sich selbst gegenüber. In einer solchen Lage finde ich das unglaubwürdig. Es wäre ein Gag, wenn die ganze Geschichte nicht so realistisch und eher schwarzer Humor wäre.


<<Sie sagte nichts, aber ihr Atem wurde schneller, ebenso der Herzschlag. Sie wand sich in ihren Fesseln. Die Fluchtreflexe mochten nutzlos sein, aber sie waren nicht so einfach abzustellen.<<

Genau so.

Diesmal holte er eine kleine Zange hervor und näherte sie ihrem Gesicht. „Ich probiere heute mal etwas Neues aus. Vielleicht klappt es ja diesmal.“

Was fühlt sie, denkt sie, schreit sie, keucht sie?

<<Seidel kehrte einigermaßen bald zurück<<

Das "einigermaßen" klingt unpassend.

<<„Nanana! Wir beide wissen, was da abgelaufen ist. Ich denke, daß ich Ihnen diesen Zahn noch ziehen muß.“
Was er dann auch tat – buchstäblich. Das war der Sinn der Zange.<<

Wieder verschenkter Horror meiner Ansicht nach. Ich fänd hier Langsamkeit horrormäßiger. Er zieht die Zange aus der Ansammlung von Werkzeugen. Was empfindet sie beim Anblick? Beim Ziehen meines Weißheitszahnes hat es ziemlich geknirscht.

<<Jammernd<<

ohne Betäubung trotz bereits erlittener Qualen meiner Ansicht nach untertrieben.

<< folgte sie dem Ziehen an ihrem Schneidezahn mit Kopf und Oberkörper soweit es nur ging, bis die Handschellen und die knackenden Schultergelenke sie stoppten.
Als sie das gräßliche Knirschen im Kopf spürte und ein blendener Feuerball aus Schmerz in ihrem Oberkiefer explodierte, brach etwas in ihr zusammen. Für immer.<<

Aha, hier kommt es ja. Warum vorweg nehmen?!

<<Sie wußte nicht, wie sie je wieder ins Büro gehen und ihre Arbeit tun sollte.<<

Hier fände ich "Wie sollte sie ..." besser.

<<Wieder schlug ihr Herz schneller. Würde Seidel sie nun freilassen?<<

Sie kommt mir zu mitgenommen vor, als würde sie sofort mit Hoffnung reagieren, kann aber täuschen.

<< doch als Seidel nackt zu ihr aufs Bett kroch und sie sein erigiertes Glied sah, wußte sie es genau.<<

Ist sie so gefasst oder fühlt sie noch mehr Entsetzen, ich kann es nicht sagen.

Insgesamt finde ich, dass Du oft durch Vermeidung von gefühlsreicher Schreibe verhinderst, dass sich echter Horror einstellt. Und die humorige Bemerkung ist meiner Ansicht nach unpassend, da die Story insgesamt nicht so ist.
Der Plot ist realistisch, daher in meinen Augen schon mal eine gute Quelle für nachvollziehbaren Horror.

vio

 

Hallo, vio!

Danke für den Kommentar. Das meiste davon ist nachvollziehbar und macht Sinn.
Diese Geschichte ist sicher keins meiner Meisterwerke, aber leider fehlen mir zur Überarbeitung sowohl Zeit als auch Motivation. Bin ja eh im Moment etwas rar hier, und das wird sich in den nächsten Wochen leider nicht bessern. Selbst wenn der Tag 72 Stunden hätte, nicht. Sogar meine neueste Story bekomme ich einfach nicht fertig.

Na ja, mal sehen, wie es im nächsten Quartal aussieht, wenn ich die ganzen Projekte und die Frankfurter Buchmesse hinter mir habe.

Nochmals Danke für die Anmerkungen.

r

 

Hallo relysium!

Tja, diese Geschichte veranschaulicht auf eindrucksvolle Weise durchaus nachvollziehbaren Horror. Der Prot. gibt das selbst erlebte Grauen in rigoros verstärkter Dosis an die Urheberin zurück, wobei die Schilderung einsichtsfördernder Maßnahmen außergewöhnlichen Ideenreichtum erkennen läßt. Ganz besonders gut gelungen ist der abgedrehte Schluss!

Gefällt mir! :thumbsup:

Hier noch Konstruktives:

Das einzig Sinvolle war eine sofortige Flucht.
... Sinnvolle ...
Plözlich roch es im Zimmer nach Desinfektionsmittel.
Plötzlich ...
Aber dann hatte Frau Seidel stressbedingt einen Nervenzusamenbruch erlitten und mußte für einige Wochen in die Klinik.
... Nervenzusammenbruch ...
Als sie das gräßliche Knirschen im Kopf spürte und ein blendener Feuerball aus Schmerz in ihrem Oberkiefer explodierte, brach etwas in ihr zusammen.
... blendender ...


Ciao
Antonia

 

Ui, vielleicht sollte ich demnächst doch die Word-Rechtschreibprüfung einschalten. Aber die macht so blöde rote Schlangenlinien, die lenken mich ab ...

r

 

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