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Tiefe Wasser

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01.01.2010
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Tiefe Wasser

Das Mädchen erwacht in Stille und Kälte.
Graues Licht fällt durch das Fenster und legt sich wie ein Schleier vor die wenigen Möbelstücke der Schlafstube. Dem Mädchen fällt auf, dass der Schrank an der gegenüberliegenden Wand geöffnet ist. Es könnte von seinem Bett aus den Arm strecken und die Tür schließen, doch es will möglichst viel seines Körpers unter der Decke behalten.
„Max?“, fragt es in den Raum, obwohl die Stille ihm längst verraten hat, dass es allein ist. Es hält den Atem an und hofft auf Geräusche – das Klappern von Schüsseln, die Stimmen seiner Eltern oder die Laute des Viehs. Nichts.
Langsam richtet es sich auf und hält mit den Fingerspitzen die Decke vor seinen Körper. Das Bett von Max ist leer und zerwühlt, auf dem Fensterglas haben sich Eiskristalle gebildet. Das muss ein Traum sein, denkt das Mädchen, aber würde es in einem Traum sein Nachthemd spüren, wie es ihm am Rücken klebt? Würde es in einem Traum seine spröden Lippen fühlen, die Schmerzen beim Schlucken?
Widerwillig schiebt es seine Füße unter der Decke hervor und stellt sie auf den Boden. Es hasst das Gefühl nackter Haut auf dem Holz, kann seine Pantoffeln aber nirgends entdecken. Es hat lange geschlafen, so lange, dass es erschöpft ist vom vielen Schlaf. Die angelehnte Schranktür beunruhigt das Mädchen mehr als das ungemachte Bett oder die Kälte. Ihr Bruder schließt den Schrank immer, weil er denkt, ein Kobold hause darin. Max würde die Tür nur angelehnt lassen, wenn er das Zimmer in höchster Eile verlassen müsste.
Wieder schweift der Blick des Mädchens zu dem unordentlichen Bett.
Fröstelnd steht es auf, öffnet die Tür der Kammer und betritt einen Gang, der in die Wohnstube und Küche führt. Weder auf dem gemauerten Herd noch in dem Kachelofen brennt ein Feuer, und dem Mädchen wird bewusst, dass über Nacht sämtliche Gerüche verschwunden sind: Der beißende des Rauchs, der süßliche von gebackenem Brot – als hätte jemand die Luft entleert.
Obwohl der Kienspan nicht brennt, ist das Licht ausreichend, um zu erkennen, dass sich niemand in der Stube oder der Küche aufhält. Die Familie des Mädchens hat sich über Nacht aufgelöst wie dampfender Atem in kalter Luft.
Es schlottert, und erst jetzt bemerkt es, dass die Eingangstür offen steht. Trotz der Schneeflocken, die hereinwehen, geht das Mädchen zur Tür und wirft einen Blick auf den Hof. Eine feine Schneeschicht bedeckt die Scheune und den angrenzenden Stall.
Jemand muss sich um das Vieh kümmern, denkt es, aber durch das offene Tor kann es erkennen, dass auch die Kühe verschwunden sind. Als es nach seiner Mami schreit, spürt es ein Stechen in seiner Kehle und hört als einzige Antwort das Echo des Berges. Es fürchtet sich nicht davor, allein zu sein – im Gegenteil, oft wird ihm die Arbeit zu schwer, dann wünscht es sich Ruhe und zieht sich heimlich zurück an den Brunnen hinter der Scheune. Doch jetzt ist es mehr als allein, es ist verlassen.
Schluchzend geht es durch das Dorf, spürt kaum den Schnee an seinen Füßen oder die Tränen auf den Wangen. Als es ein weiteres Mal mit heiserer Stimme nach der Mami ruft, schweigt selbst der Berg.
Obwohl die Türen und Tore sämtlicher Gebäude offen stehen, ist niemand zu sehen, weder Mensch noch Tier. Das Mädchen hat das Gefühl, länger als eine Nacht geschlafen zu haben – was ist in dieser Zeit geschehen? Es versucht sich zu erinnern, wie seine Mami es ins Bett brachte, versucht, an das Kratzen der Bartstoppeln beim Gutenachtkuss seines Papas zu denken – doch im Kopf des Mädchens tauchen nur Schablonen dieser Ereignisse auf, das tatsächlich Geschehene verbleibt im Trüben. Die Einsicht, dass mit seiner Familie auch Erinnerungen an sie verschwunden sind, schwächt das Mädchen zusätzlich.
Als es das letzte Bauernhaus erreicht, hält es nicht an. Es geht über eine Lichtung zum Ufer des Sees, und einen Augenblick sieht es so aus, als sei selbst der einer großen Leere gewichen. Dann erkennt das Mädchen, dass er gefroren ist und Schnee, der im Schatten des Berges grau wirkt, die Eisfläche bedeckt. Ohne zu zögern betritt es das Eis, hebt seine tauben Füße nicht an, sondern lässt sie über das gefrorene Wasser gleiten. Letzten Sommer hat Papa ihm das Schwimmen beigebracht, und was damals unmöglich war – auf die kleine Insel in der Mitte zu kommen – gelingt jetzt ohne Anstrengung. War der See gestern schon gefroren? Das Mädchen weiß es nicht mehr, nichts liegt ferner als der gestrige Tag.
Kurz vor der Insel bleibt es stehen, Winterluft lässt seine Kehle brennen. Es schaut zurück zu seinen Spuren, die langsam von Neuschnee verdeckt werden. Gleich ist es so, als wäre ich nie da gewesen, denkt es, und das ist der letzte klare Gedanke, denn jetzt fällt sein Blick auf den See und unter das Eis, und es sieht, was hier verborgen liegt.
Das fahle Gesicht einer Frau treibt im Wasser, aufgedunsen, umwallt von schwarzem Haar. Das Mädchen taumelt und stürzt rücklings auf das Eis. Keuchend starrt es auf die Stelle, an der sich die Frau befindet. Wie verdorbenes Essen arbeitet sich etwas durch seinen Magen – die Frau sieht so friedlich aus, die Augen geschlossen, als schlafe sie. Der Körper des Mädchens zuckt, es schiebt mit beiden Armen Schnee zur Seite. Unter der Oberfläche erscheint eine faltige Hand, und als das Mädchen weitere Teile des Eises freilegt, sieht es den Mann, zu dem sie gehört. Sein weißes Gesicht drückt gegen die Unterseite, mit seinem verzerrten Mund sieht er aus, als schreie er, als lache er, als lebe er. Etwas drängt ihn ab, und als das Mädchen den Kiefer und das schwarze, blicklose Auge sieht, denkt es an ein Ungeheuer. Dann erkennt es, worum es sich tatsächlich handelt, und während ein Schrei seine Kehle zerreißt, schwebt das Pferd unter ihm vorbei.
Immer schneller wirft das Mädchen den Schnee zur Seite, immer schneller entdeckt es weitere Körper. Männer, Frauen, Kinder. Tiere. Einige treiben mit dem Gesicht nach unten, doch die meisten starren zu dem Mädchen, als forderten sie es auf, sie aus ihrem Grab zu befreien. Obwohl es mit beiden Fäusten auf das Eis hämmert, dringt es nicht zu den Toten vor. Es sind so viele, mehr, als es jemals zählen könnte.
Seine Stimme bricht, es sackt zusammen.
Schnee fällt auf seinen Körper und schmilzt auf seiner Haut.
Das Mädchen versinkt in Stille und Kälte.

***​

Am Abend ihrer Ankunft wurde Roman auf seinem Spaziergang von Anna begleitet. Schweigend verließ sie mit ihm die Hütte, und Roman hätte gerne gesagt, dass er sich freute, mit ihr und den Kindern hier zu sein. Er wollte ihr sagen, dass sie ein Recht auf diese Woche hatten, doch er blieb still, weil Anna in einer Stimmung war, in der jedes Wort den gemeinsamen Moment zerstört hätte.
Die Vögel zwitscherten, als erzählten sie sich die Geschichte der Welt, und Roman beneidete sie. Wenn Schweigen alltäglich geworden war, kostete manchmal jedes Wort Überwindung.
Immerhin war dieser Urlaub ein Anfang.
Der Spaziergang führte sie an den See, den Roman bislang nur im Prospekt gesehen hatte und von dem es hieß, es sei einer der schönsten Seen der Schweiz. Sie blieben am Ufer stehen und betrachteten die Spiegelung der Berge im dämmernden Tageslicht; ein Bild, das so zerbrechlich wirkte wie die Verbundenheit dieses Augenblicks. Als Roman in Annas glasige Augen blickte, erkannte er Ähnlichkeiten zu den Untiefen des Sees.
„Es wird alles gut“, sagte er schließlich, weil er etwas sagen musste und sein Mut nur zu einer Floskel reichte. „Ich spüre das, hier können wir uns erholen.“ Als er ihre Nähe suchte und einen Arm um ihre Hüfte legte, wendete sie sich nicht ab.
„Ich hoffe, dass Gott mir Kraft gibt“, sagte sie. „Ich wünsche mir nichts mehr, als wieder stark zu sein.“
Roman küsste sie auf die Stirn und berührte dabei die Kette ihres Anhängers. Er selbst hoffte, sie würde sich endlich von dieser Last befreien, um wieder atmen zu können.
„Das wirst du“, antwortete er. „Ganz sicher.“
Anna schwieg.
Lange blickten sie auf das türkisfarbene Wasser. Es kräuselte sich, obwohl kein Wind zu spüren war.

Als Katrin die Schlafzimmertür öffnete, drang aus der Dunkelheit kein Laut zu ihr. Sie bemühte sich, leise zu sein, was unsinnig war, weil sie ihre Eltern wecken wollte.
„Mama?“, flüsterte sie in die Dunkelheit. Es kam weder eine Antwort noch sonst ein Geräusch zurück. Sie hörte ihre Eltern nicht einmal schlafen.
Katrin tastete nach dem Lichtschalter, doch sie kannte sich in dem Zimmer nicht aus und wusste nicht, auf welcher Seite der Tür sie suchen sollte.
„Papa?“
Wenn dies ein Albtraum war, würde sie gleich das Licht anknipsen und ihre Eltern vor sich sehen. Sie stünden da, regungslos, selbst wenn Katrin sie anschrie. Ihre schlimmsten Träume handelten immer von vertrauten Menschen, die sich fremd verhielten.
„Katrin?“ Das war ihr Papa, und Sekunden später knipste er seine Nachttischlampe an. „Was ist denn?“
Er sah verschlafen aus, was ihr mitten in der Nacht nicht fremd war. Katrin entspannte sich. „Ich kann nicht schlafen. Vor meinem Fenster höre ich die ganze Zeit komische Geräusche.“
Jetzt wurde auch ihre Mama wach und blickte sie mit halb zugekniffenen Augen an.
„Darf ich bei euch schlafen? Bitte.“
Ohne ein Wort zu sagen legte sich ihre Mama wieder zurück, als hielte sie ihre Tochter für einen Traum. Ihr Papa rutschte zur Seite und klopfte mit der Hand auf die freie Stelle neben sich. „Du kannst hier schlafen, wenn du möchtest.“
Nach kurzem Zögern kletterte Katrin auf die Seite ihres Papas und kuschelte sich an ihn. Er schaltete das Licht aus und legte einen Arm um sie. „So, jetzt wird geschlafen“, murmelte er, und sie spürte seinen Atem auf der Wange.
Katrin versuchte, sich an die letzte Umarmung ihrer Mutter zu erinnern. Diese musste zu lange zurückliegen, denn bevor Katrin sich erinnern konnte, schlief sie ein.

Sebastian stand vor dem Badezimmerspiegel. Obwohl er eben erst aufgestanden war und das Licht aus einer matten Birne kam, spürte er die Wut in sich.
Du darfst diese Wut nicht zulassen. Das war einer der Ratschläge in einem Internetforum gewesen, ebenso lächerlich und nutzlos wie alle Ratschläge von dort. So was konnte nur jemand schreiben, der vermutlich nie betroffen gewesen war und sich daran aufgeilte, das Leid der anderen mit Schwachsinn zu kommentieren.
Wut war wichtig, weil sie eine Ablenkung war.
Das Leben ist lebenswert, weil. Auch eine saudumme Idee aus dem Forum. Zählt jeden Abend drei Gründe auf, warum ihr heute gerne gelebt habt.
Es war neun Uhr am Morgen, und Sebastian konnte bereits drei Gründe aufzählen, warum er heute gerne sterben würde. Sein Gesicht, seine Schultern, seine Brust.
Über Nacht war die Akne schlimmer geworden. Normalerweise sah es nach dem Aufstehen besser aus als am Abend zuvor, doch jetzt wucherten neue Pickel auf seiner glänzenden Stirn. Es waren keine, die man einfach ausdrücken konnte und deren Eiter mit einem geräuschvollen Platzen gegen den Spiegel spritzte; es waren diese Knoten, dunkelrot, die bei jeder Berührung schmerzten. Vielleicht lag es am Wasser in dieser Hütte im Nirgendwo. Sebastian überlegte, wie seine Haut im grellen Sonnenlicht aussehen, wie ihn die Leute – die Wohlgeformten mit der reinen Haut – anstarren würden. Wie einen Aussätzigen.
Auf der Ablage befanden sich seine Rasierklingen. Er packte eine davon aus, näherte die Klinge seiner Stirn und hielt knapp vor der Berührung inne.
Er wünschte, sich das entstellte Gesicht zu zerschneiden, die Klinge tief durch seine Haut zu ritzen und sie in Streifen und Fetzen zu zerteilen. Vor seinem inneren Auge trennte Sebastian sich von dieser Hülle, von jedem einzelnen, gottverdammten Pickel.
In seiner Vorstellung lächelte er dabei.

„Hallo. Ich bin Rüdiger. Ich glaube, wir sind Nachbarn.“
Roman blickte von seinem Taschenbuch auf. Ein Mann mittleren Alters hatte sich zwischen ihn und den See gestellt.
„Hallo. Mein Name ist Roman“, antwortete er und schüttelte dem Mann die Hand, ohne aus seinem Campingstuhl aufzustehen. „Das ist Anna, meine Frau“, sagte er. Sie lag auf einem Handtuch neben ihm.
„Schön. Ich hab mir gedacht, ich komm mal vorbei, hallo sagen. Ich bin mit meiner Tochter hier, Claudia.“ Er wies in die Richtung eines Mädchens mit weißem Bikini, das etwa in Sebastians Alter war und sich in der Sonne bräunte. Roman war sie bereits aufgefallen. „Wir kommen jedes Jahr her. Ist schön ruhig hier, man kann gut abschalten. Keine betrunkenen Engländer, keine brüllenden Russen. Angenehm, oder?“
„Stimmt“, antwortete Roman. „Wir sind zum ersten Mal hier. Der See ist einmalig.“
„Spiegelglatt, nicht wahr? Ist ein Geheimtipp, sollte auch so bleiben. Sonst wimmelt es hier irgendwann von Touristen.“
„Das Wasser könnte wärmer sein“, sagte Anna.
Rüdiger machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ach was, das ist prima. Claudia weigert sich auch, einen Fuß reinzusetzen, dabei weiß sie gar nicht, was ihr entgeht. Ich sag Ihnen, eine halbe Stunde schwimmen, und man fühlt sich wie neu. Gehört wohl zu den Dingen, die man erst im Alter schätzen lernt.“ Er lachte ein lautes Ihr-wisst-schon-was-ich-meine-Lachen, und Roman befürchtete, Rüdiger würde ihm auf die Schulter klopfen. „Ihre Kinder scheinen da abgehärteter zu sein. Wie alt sind sie denn?“
„Unser Sohn ist sechzehn, die Tochter zwölf.“
„Na, das passt doch prima. Meine Claudia ist fünfzehn. Hören Sie, wenn Sie Lust haben, können Sie ja heute Abend mal bei uns vorbeikommen. Wir haben die Hütte Nummer acht, direkt neben Ihrer. Wir könnten gemeinsam grillen und ein paar Bier trinken, dann lernen sich auch unsere Kinder kennen. Was meinen Sie?“
Roman war nicht sicher, was Anna von der Idee hielt, aber bevor er antworten konnte, überraschte sie ihn. „Warum nicht?“, sagte sie.
„Spitze. Sagen wir um sieben? Essen bringt jeder selbst, für Getränke sorge ich.“
Nachdem Rüdiger gegangen war, schaute Roman zu Anna.
„Was?“, fragte sie.
Er schüttelte den Kopf und ertappte sich bei einem Lächeln. „Nichts“, sagte er.
Roman überlegte, dass sie sich hier prächtig erholten, nicht trotz, sondern wegen der Tatsache, dass sie sich in einen normalen Alltag zurückkämpften. Roman fragte sich, welche Rolle der See dabei spielte. Neben dem Körper schien er auch die Seele zu erfrischen und verwirklichte auf diese Art Romans größte Hoffnung. Jetzt sehnte er sich danach, dass sich auch die Wünsche seiner Familie erfüllen mochten.
Wenn es jemand verdient hatte, dann sie.
Irgendwann versank er wieder im schwedischen Ystad, wo Kurt Wallander den Mord an einem Kollegen untersuchte.

Als Katrin die Insel erreichte, fühlte sie sich wie ein Entdecker in einem unbekannten Land.
Wie James Cook, dachte sie. Seit sie in einem Buch über berühmte Abenteurer seine Geschichte gelesen hatte, wünschte sie sich, ebenfalls Seefahrerin zu sein und zu ungewissen Orten aufzubrechen. Auf ihrem Globus hatte sie sich auch schon interessante Stellen herausgesucht – jene blauen Bereiche fernab der Kontinente.
Heute wollte sie mit dieser Insel beginnen. Der vordere Teil war vom gegenüberliegenden Ufer aus gut einsehbar, da würde sie bestimmt nichts Neues entdecken. Der hintere Teil jedoch war durch Bäume geschützt, und auf der anderen Seeseite ragte statt eines Ufers ein grauer Fels in Richtung Himmel. Wenn es auf dieser Insel etwas zu entdecken gab, dann sicher in jenem Teil.
Mit vorsichtigen Schritten ging Katrin zwischen den Bäumen durch. Sie erkannte Eichen- und Ahornbäume. Der Boden war mit Laub und spitzen Ästen bedeckt, beim nächsten Mal sollte sie als ambitionierte Entdeckerin an ihre Sandalen denken.
Über sich hörte sie das Flattern und Zwitschern von Vögeln. Sie stellte sich vor, dass es solche wären, die nur auf dieser Insel lebten. Vielleicht hatte sich nie jemand die Mühe gemacht, das zu überprüfen.
Als Katrin die andere Seite erreichte, stand sie vor einer Gruppe von Büschen und Sträuchern. Etwas raschelte und knackte darin, und als sie sich neugierig vorbeugte, schlug ihr Herz schneller. In einem Nest aus Schilf und Zweigen befanden sich sechs Entenbabys inmitten von zerbrochenen Eierschalen. Sie fiepten leise und tapsten durch die Gegend, ohne sich voneinander zu trennen. Nur ein Ei war noch ganz.
„Wow“, flüsterte Katrin. So etwas hatte sie noch nie gesehen.
Lange beobachtete sie das Schauspiel, hielt ihren Blick gebannt auf das siebte Ei. Ob sie sehen würde, wie das Küken schlüpfte?
Sie fragte sich, wo die Entenmama blieb.
Und ob sie ihre sechs Küken lieben könnte, wenn das Siebte nicht schlüpfte.

„Wie ist das Wasser?“
Sebastian blieb stehen. Natürlich war ihm das Mädchen auf dem Handtuch aufgefallen, aber er hätte nie gedacht, dass sie ihn ansprechen würde. Zur Sicherheit drehte er sich um, doch da war niemand mehr.
„Es ist – ziemlich kalt“, antwortete er, während es von seinem Körper und den Badeshorts tropfte – jenen mit den Hosenbeinen bis über die Knie.
„Das sehe ich, du zitterst ja.“
Er verschränkte die Arme vor seiner Brust, nicht der Kälte wegen, sondern weil es eine gewohnte Geste war, wenn er mit bloßem Oberkörper einer Person gegenüberstand. „Das ist nur die Luft jetzt. Im Wasser ist es gar nicht so kalt, wenn man sich erst mal bewegt.“
„Das sagen sie alle, und am Ende hat jeder blaue Lippen, oder?“ Eine Sonnenbrille verbarg ihre Augen, und so konnte Sebastian nicht sehen, ob sie nun seine Lippen, seine Pickel oder den Himmel über ihm betrachtete. Er prüfte ihre Haut, wie er es bei jedem Menschen tat, und kam zu dem Schluss, dass sie eine von den Wohlgeformten war, und das nicht nur im Vergleich zu ihm.
Weil sich das Schweigen in die Länge zog, sagte er das erste, was ihm einfiel: „Kannst du mit der Brille überhaupt sehen, ob meine Lippen blau sind?“
Das Mädchen lachte, und Sebstian wurde etwas lockerer.
„Na ja, immerhin traust du dich ins Wasser. Da bist du einer der wenigen hier. Den meisten ist es zu kalt. Mein Dad geht auch immer ins Wasser und redet so Zeug von wegen das macht einen jünger und so. Ich bräuchte eher was, das mich älter macht. Jedes Jahr zwingt er mich in den Ferien hierher, weil er die gute Luft liebt und die Ruhe und so. Ich sag dir, nächstes Jahr schau ich, dass ich ans Meer komme. Da friert man sich im Wasser wenigstens nicht den Arsch ab.“
Sebastian wünschte sich eine schlagfertige Antwort, eine, die sie noch mal zum Lachen bringen würde, und sagte stattdessen: „Wir sind zum ersten Mal hier.“
„Na dann viel Spaß. Deine Eltern scheinen auch keine Wasserratten zu sein, hm?“
„Woher kennst du meine Eltern?“
„Na, ich nehme mal an, es sind die beiden da unter eurem Sonnenschirm. Mein Dad hat euch glaub zu einem Grillabend bei uns eingeladen. Erzähl mir jetzt nicht, das sind deine Geschwister.“
Trotz des kalten Wassers begann Sebastians Gesicht zu glühen. „Nein, Quatsch.“
Wieder lachte das Mädchen. „Ich sag dir mal was, selbst wenn das Wasser hier so warm wäre wie das Meer, ich würde nicht reingehen. Es ist irgendwie – keine Ahnung, so düster. Man sieht ein paar Meter runter, dann wird es stockdunkel. Als ob man über einen endlosen Abgrund gleitet. Ich hätte die ganze Zeit Angst, dass auf einmal was unter mir auftaucht und mich packt. Geht es dir nicht auch so?“
Sebastian schüttelte den Kopf. „Bis jetzt nicht.“
Bis jetzt. Du bist echt witzig. Ich wette, beim nächsten Mal wirst du sicher dran denken. Das hast du jetzt mir zu verdanken.“
Als Kind hatte Sebastian manchmal geträumt, dass Menschen in Seen verschwanden, allerdings niemals er selbst. In diesen Träumen war er mit seiner Familie und Freunden auf einem Fels gestanden, und sie waren alle ins Wasser gesprungen, einer nach dem anderen, doch keiner war jemals wieder aufgetaucht.
„Hey, tut mir leid, ich wollte dich nicht beunruhigen.“
Sebastian schüttelte den Kopf. „Nein, schon gut.“
„Na ja, bei aller Langeweile, wenn du zum ersten Mal hier bist, wette ich, du weißt nicht, dass dieser See ein Geheimnis hat.“
„Ach ja? Was denn für eins?“
„Wenn ich dir das sage, ist es ja kein Geheimnis mehr.“ Trotz der Sonnenbrille konnte er sehen, dass sie ihn musterte, und er wünschte sich, woanders zu sein. „Vielleicht zeige ich es dir irgendwann. Kann schon sein. Du scheinst ein netter Kerl zu sein, ein bisschen schüchtern zwar, aber nett. Ich bin übrigens Claudia.“
„Ich bin Sebastian.“
„Freut mich, Sebastian“, sagte sie und streckte ihre Hand nach ihm aus. Sebastian bückte sich und schüttelte sie. Sie war warm, und ihm kam der Gedanke, dass es heute Abend zum ersten Mal einen Grund geben könnte, warum er diesen Tag gerne gelebt hatte.

Zunächst genoss Roman den Grillabend.
Auch wenn sich sein erster Eindruck von Rüdiger festigte – nett, aber ein Tick zu kumpelhaft – mochte er dessen Gesellschaft. Anna sprang auf seinen offenherzigen Charakter an, redete viel und lächelte dabei. Auch Sebastian und Katrin amüsierten sich; im Falle von Sebastian lag das sicher an Claudias Anwesenheit. Sie war ein hübsches Mädchen; umso mehr fragte sich Roman, weshalb Sebastian trotz des warmen Wetters ein langärmeliges Shirt angezogen hatte und sein Gesicht hinter einer Baseballkappe versteckte.
„Noch ein Kaltes, Roman?“, fragte Rüdiger nach dem Essen. Sie saßen in Campingstühlen vor der Hütte und hatten Teelichter und eine Gaslampe angezündet.
„Danke, ich glaube, ich hab genug für heute“, sagte Roman, dem der Alkohol bereits zu Kopf stieg.
„Ach was, das soll doch nicht schlecht werden. Schließlich sind wir im Urlaub.“ Rüdiger warf ihm eine weitere Dose zu, die Roman gerade noch fangen konnte, bevor sie in seinem Schoß landete. „Prost, aufs Wohl“, sagte Rüdiger und schwenkte mit seiner Dose in Romans Richtung.
Eine Weile saßen sie schweigend beisammen, dann fiel Roman etwas ein: „Seit wie vielen Jahren kommt ihr jetzt schon hierher?“
Rüdiger überlegte. „Hm, bin nicht sicher. Seit der Scheidung eigentlich jedes Jahr. Vier oder fünf, würde ich sagen.“
„Viel zu oft jedenfalls“, murmelte Claudia, was Rüdiger ignorierte.
„Ich frage nur, wenn ihr so oft schon hier wart, dann wisst ihr bestimmt, was es mit dem Wappen von Susters auf sich hat. Katrin wollte wissen, ob das kleine Mädchen darauf eine Bedeutung hat.“ Roman lächelte seiner Tochter zu, deren Augen größer wurden.
„Ja, das weiß ich tatsächlich“, antwortete Rüdiger. „Man nennt es hier das Schlafende Mädchen in Weiß.“
„Was bedeutet das?“, fragte Katrin.
Flackerndes Feuer tauchte Rüdigers Gesicht in Licht und Schatten. „Ist seltsam, dass die Geschichte so unbekannt ist. Oft hört man Erzählungen über Menschen, die wie von Geisterhand verschwinden. Einzelschicksale, oft erklärbar, aber nicht immer. In den USA ist im sechzehnten Jahrhundert eine Siedlung verschwunden, und im Ersten Weltkrieg ist in der Türkei eine ganze Kompanie in eine Wolke gelaufen und nie wieder aufgetaucht. In Europa gibt es nur einen Fall, in dem ein ganzes Dorf verschwunden ist, und das hat sich vor zweihundert Jahren genau hier ereignet.“
„Ist das eine Gruselgeschichte?“, flüsterte Katrin.
Rüdiger lächelte. „Ich weiß nicht. Ich glaube nicht, weil sie überliefert, also wahr ist. Damals befand sich eine Gruppe von Mönchen auf einer Pilgerreise in Richtung Italien, und als sie die Viamala – eine große Schlucht nicht weit von hier – überquert hatten, wurden sie von einem frühen Wintereinbruch überrascht. Sie suchten Schutz in einem Dorf, das sich etwa an der Stelle befunden hat, wo wir jetzt sitzen. Und als sie in das Dorf kamen, stellten sie fest, dass kein Mensch mehr da war. Die Häuser standen sperrangelweit offen, und sie waren alle leer. Auch von den Tieren fehlte jede Spur – nicht einmal ein Hund oder ein Vogel war zu sehen. Sie waren wie vom Erdboden verschluckt. Erst als sie an den See kamen, fanden sie ein Mädchen – jünger als du –, das auf der Eisfläche lag. Es sah aus, als würde es schlafen, aber in Wirklichkeit war es erfroren.“
Katrin zog hörbar Luft ein, und Roman blickte zu Anna. Ihr Gesicht drückte eine Mischung aus Verwirrung und Neugier aus.
„Keiner aus dem Dorf ist jemals wieder aufgetaucht. Bis heute ist dieses Ereignis aus wissenschaftlicher Sicht nicht erklärbar. Natürlich gibt es eine Menge Legenden, schließlich befinden wir uns hier in einer erzkatholischen Gegend. Manche Leute glauben, das Dorf hat in Sünde gelebt, und Gott hat beschlossen, es zu zerstören. Wie Sodom und Gomorrha. Und weil nur das Mädchen gottesfürchtig gelebt hat, hat Er es auf den See geschickt, um es zu verschonen. Und als das Mädchen von dort aus gesehen hat, wie Gott jedes einzelne Lebewesen vernichtete, hat es beschlossen, den See nicht mehr zu verlassen.“
Einen Augenblick schwieg Rüdiger, dann fuhr er fort: „Sie nennen es das Schlafende Mädchen in Weiß. Es ziert das Wappen von Susters, ist außerdem ein beliebtes Motiv für Bilder. In Wirklichkeit ist das Mädchen auf allen Bildern tot, nur klingt das tote Mädchen in Weiß nicht so idyllisch, oder?“
Niemand antwortete. „Es wird immer als absolut rein dargestellt, frei von jeder Sünde, und wunderschön, wie der See. Er war lange Zeit ein beliebtes Zwischenziel auf Pilgerreisen. Schließlich war man der Meinung, Gott selbst hat ihn ausgesucht, um das Gute zu schützen. Manche denken das auch heute noch.“
Eine Weile sprach keiner ein Wort, und bis auf die Grillen war nichts zu hören.
„Ist das echt passiert?“, fragte Katrin irgendwann.
„Natürlich nicht“, antwortete Roman. „Das ist nur eine Geschichte, wie die vom Rattenfänger.“
„Würde ich so nicht sagen“, sagte Rüdiger, der offenbar nicht verstand. „Der Teil mit Gott ist natürlich Blödsinn, aber beim Rest sind die Überlieferungen ziemlich klar. Das Grab des Mädchens ist nicht weit von hier. Und das Ganze ist vergleichsweise jung, da kann man sich eher drauf verlassen wie bei älteren Quellen.“
„Aber wo sind die Leute alle hin verschwunden?“, bohrte Katrin nach.
Rüdiger zuckte mit den Schultern. „Das weiß man nicht. Wie gesagt, die Wissenschaft hat keine Erklärung dafür.“
„Wohin wohl?“, fragte Sebastian. „In den See natürlich. Wo sollten sie sonst alle hin?“
„Alle in den See?“
„Kann ich mir nicht vorstellen“, sagte Claudia. „Schließlich war er zugefroren. Außerdem hätte er im nächsten Frühjahr voller Leichen sein müssen.“
„Und was ist mit den Tieren passiert?“ Das Thema beschäftigte Katrin.
„Vermutlich haben die Menschen sie alle gegessen, bevor sie verschwunden sind. Und vielleicht ist dann was gekommen, das die Menschen gefressen hat.“
In dem Augenblick, als Roman seinen Sohn zurechtweisen wollte, hörte er Annas Schluchzen. Sämtliche Augenpaare richteten sich auf sie. Katrin stieß einen erschrockenen Laut aus.
„Anna, ist alles in Ordnung?“
Sie fuhr sich mit einem Taschentuch über das Gesicht, schnäuzte. „Schon gut“, sagte sie, schüttelte den Kopf und stand auf. „Ich bin nur – es tut mir leid – ich bin –“
Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um und rannte zu ihrer Hütte zurück.
„Scheiße“, fluchte Roman und hechtete hinter ihr her. Am liebsten hätte er Rüdiger seine Dose ins Gesicht geworfen, dafür, dass er mit seinem Gerede über das tote Mädchen eine Wunde aufgerissen hatte, die noch nicht verheilt war.

Im letzten Licht der Abenddämmerung erreichte Sebastian den See. Das Wasser war schwarz.
Sebastian zitterte.
Claudia lief hinter ihm her. „Hey, jetzt warte halt.“
Er blieb stehen, trotz seines Entsetzens froh darüber, dass sie ihm gefolgt war.
„Was war das grad?“, fragte sie. „Ist alles klar mit dir?“
„Nein, nichts ist klar. Siehst du das nicht?“
„Hey, tut mir leid, mein Dad erzählt ständig solchen Stuss. Deine Mum sollte das nicht so ernst nehmen, nichts davon ist wahr. Das weißt du, oder?“
Sebastian antwortete nicht, sondern setzte sich auf einen Stein und verbarg das Gesicht in seinen Händen.
„Ich weiß, es ist scheiße, wenn die Eltern austicken. Wenigstens seid ihr noch eine heile Familie, im Gegensatz zu uns.“
„Meine Familie ist nicht heil“, murmelte Sebastian in seine Hände.
„Was?“
Er richtete sich auf. „Ich hab gesagt, meine Familie ist nicht heil. Das sieht oberflächlich vielleicht so aus, aber so ist es nicht.“
Claudia zögerte. Zum ersten Mal schien sie nicht zu wissen, was sie sagen sollte. „Was ist denn mit deiner Familie?“
Sebastian konnte ihr Gesicht in der Dunkelheit nicht mehr erkennen und war dankbar dafür. Vielleicht konnte er sich nur einem Schatten öffnen. „Meine Mutter hat vor einem Jahr noch ein Kind bekommen. Es war ein Junge, Patrick. Mein Vater war nicht bei der Geburt dabei, weil er eine Lungenentzündung hatte. Patrick ist gleich nach der Geburt gestorben.“
Das Seewasser plätscherte leise gegen den Kieselstrand.
„Meine Mutter hatte ihn schon auf ihrem Arm. Er hat geatmet, und sie hat ihn zum ersten Mal gestillt. Dann hat er plötzlich aufgehört zu saugen, und meine Mutter dachte, er ist satt. Erst nach zwei oder drei Minuten hat sie an sich runtergeschaut. Da war sein Gesicht schon blau.“
Auffrischender Wind ließ die Blätter des Waldes rascheln.
„Das ist das Schrecklichste, was einer Frau passieren kann. Es gibt nichts Schlimmeres, als wenn das eigene Kind an der eigenen Brust stirbt. Davon hat sie sich nicht erholt, und das wird sie auch nie. Die Ärzte konnten das nicht erklären, deshalb sagt meine Mutter immer, Patrick hat sich diese Scheißwelt zehn Minuten angesehen und dann beschlossen, dass er darin nicht leben möchte.“
Stille. „Das ist das Traurigste, was ich jemals gehört habe“, flüsterte Claudia.
Für Sebastian war es das Ehrlichste, was er jemals gehört hatte, aber vielleicht war das auch dasselbe.
„Meine Eltern wollten drei Kinder. Meine Mutter hat so einen Anhänger, sieht aus wie ein vierblättriges Kleeblatt. Da ist Platz für vier kleine Fotos, und vor Patricks Geburt hatte sie ein Bild von meinem Vater, eins von mir und eins von Katrin. Ein Platz war noch frei, und seit Patricks Geburt hat sie vier Bilder von ihm drin, aber auf allen ist er schon tot, weil er nicht mal für ein Foto lang genug gelebt hat. Sie trägt seit einem Jahr vier Bilder von ihrem toten Sohn durch die Gegend, und das macht sie fertig. Das macht uns alle fertig, vor allem Katrin.“ Sebastians Stimme brach.
„Sie ist öfter traurig, als es ein Mädchen in ihrem Alter sein sollte. Nicht, weil sie vor einem Jahr ihren Bruder verloren hat, sondern ihre Mutter.“
Eine Weile schwiegen sie gemeinsam, dann nahm Claudia seine Hand.
„Weißt du was?“, fragte Claudia irgendwann, und ohne dass Sebstian antwortete, fuhr sie fort: „Ich hab dir doch erzählt, dass dieser See ein Geheimnis hat. Ich möchte es dir zeigen, aber das geht nur am frühen Morgen. Komm morgen früh um sechs genau hierher, dann zeig ich es dir.“
Sebastian nickte nur.
Er blickte auf den See hinaus, der sich als schwarzes Loch von der Umgebung abhob, dunkler als die Nacht.

Lange nachdem Katrins Tränen getrocknet waren, fasste sie einen Entschluss.
Auch wenn die Geräusche aus dem Zimmer ihrer Eltern – das Weinen ihrer Mutter, die ruhigen Worte ihres Vaters – verstummt waren, verstand Katrin, dass dieser Abend lange nachklingen würde. Die Traurigkeit, die Patrick in den wenigen Minuten seines Lebens über ihre Familie gebracht hatte, würden sie und Sebastian niemals ausgleichen können, nicht in hundert Jahren. Neulich hatte sie ein Wort für einen solchen Zustand kennengelernt: Irreparabel. Ihre Familie war irreparabel geschädigt.
In ihrem Kalender stand, dass um halb sechs die Sonne aufgehen würde, also stellte sie ihren Wecker auf diese Zeit.
Sie dachte an die sechs Küken auf der Insel. Als sie aufbrechen musste, war das siebte Ei noch verschlossen gewesen, und jetzt wollte sie mehr denn je wissen, ob diese Familie vollständig war. Um das herauszufinden, würde sie ein weiteres Mal mit ihrem Schlauchboot über den See fahren und nachschauen.

Sie steht vor dem Grab ihres Sohnes und weiß, sie träumt.
Regen prasselt nieder, und als sie das Kleeblatt in ihrer Hand sieht, wird ihr klar, dass dieser Traum eine Erinnerung ist.
Du musst ihn loslassen, sagt Roman und meint nicht den Anhänger, sondern ihren Sohn. Du musst wieder zu uns kommen.
Wenn Sie die Kraft haben, legen Sie den Anhänger in sein Grab, sagt Pfarrer Siebert. Als nächsten Schritt der Trauerbewältigung.
Sie versucht es, steht mit dem Kleeblatt in ihren zitternden Händen in kaltem Novemberregen vor dem Grab und fühlt sich entblößt, ihrer Seele beraubt. Und weil dieser Traum eine Erinnerung ist, weiß sie, dass ihr die Kraft fehlen und sie den Anhänger wieder anlegen wird.
Sie beschwört das Bild von Patrick herauf, möchte jede Sekunde mit ihm genießen, selbst die flüchtigen in einem Traum. Regen weicht die Erde des Grabes so sehr auf, dass es sich in einen See verwandelt, und als das Wasser klar wird, sieht sie Patrick auf dem Grund.
Er schaut zu ihr auf, und bei seinem Anblick findet sie doch die Kraft und lässt das Kleeblatt los.
Ihr Sohn lächelt, während es auf ihn zuschwebt.

Als Anna erwachte, war es draußen noch dunkel.
Der Traum stand ihr so deutlich vor Augen, dass sie einen Moment dachte, ihre Hände müssten feucht sein. Jener Nachmittag, als sie vergeblich versucht hatte, den Anhänger zu Patrick zu legen, lag über sieben Monate zurück.
Wie im echten Leben hatte Patrick auch in ihren Träumen niemals gelächelt. Bis auf heute.
Sie spürte jetzt mehr Kraft als damals.
Gott selbst hat den See ausgesucht, um das Gute zu schützen.
Eine Idee keimte in ihr auf.
Manche denken das auch heute noch.
Statt in dunkler Erde könnte sie das Kleeblatt auch in einem See versenken und Patrick so an dessen Schönheit teilhaben lassen, einer Schönheit, die ihm bislang vorenthalten blieb.
Anna stand auf und zog sich leise an, um Roman nicht zu wecken.
Als sie die Hütte verließ, zwitscherten die ersten Vögel.
Es war zwanzig nach fünf.

Katrin erwachte von einem Geräusch und erschrak, weil sie der Meinung war, verschlafen zu haben. Als sie auf ihren Wecker blickte, sah sie, dass es kurz vor halb sechs war.
Gleich würde sie aufstehen, das Schlauchboot von der Terrasse holen und zum See gehen.

Als Anna den See erreichte, fielen die ersten Sonnenstrahlen auf seine Oberfläche. Ihr Gesicht wirkte im Wasser blass, und sie musste an das Mädchen in Weiß denken.
Anna war ein paarmal schwimmen gewesen und wusste, der Grund des Sees fiel vom Ufer sanft ab. Es machte keinen Sinn, das Kleeblatt hier zu versenken, man würde es allzu leicht finden.
Sie zog ihre Kleider aus und stieg nur mit BH und Slip bekleidet ins Wasser. Es war so ruhig, dass es den Eindruck machte, noch nie von einem Menschen betreten worden zu sein.
Und es war viel wärmer, als sie erwartet hatte.

Sebastian hörte, wie sich die Tür zu Katrins Zimmer öffnete und seine Schwester über den Flur schlich. Vermutlich war sie auf dem Weg zur Toilette.
Es war ein paar Minuten nach halb sechs, aber er war bereits wach. Noch zwanzig Minuten würde er warten und sich dann aus der Hütte schleichen.
Was wohl Claudias Geheimnis war?
Beim Gedanken an sie lächelte er und fragte sich, welche Überraschungen dieser Tag für ihn bereithalten würde.

Irgendwo zwischen dem Ufer und der Insel, lange nachdem Anna den Boden nicht mehr spürte, tauchte sie unter und betrachtete die verschwommene Welt aus Grün und Schwarz. Den Grund konnte sie nicht mehr sehen.
Als sie ihren Kopf aus dem Wasser hob und nach Luft schnappte, umschloss Kälte ihren Körper. Anscheinend war das Wasser nur in Ufernähe warm.
Sie schwamm auf der Stelle, und weil ihre Arme schwer wurden, beschloss sie, dass es tief genug war.
Bist du sicher? Wie weit konntest du runter sehen, bis es dunkel wurde? Einen Meter? Zwei? Was, wenn dann gleich der Grund kommt?
Auf keinen Fall wollte sie, dass der Anhänger irgendwann gefunden oder von der Strömung ans Ufer getrieben wurde. Wenn sie nicht auf Nummer sicher ging, würde sie der Gedanke ewig quälen.
Wenn du den Boden erreichst, ist es noch zu flach. Mehr kannst du nicht tun.
Sie atmete tief ein, tauchte unter und schwamm in Richtung der Dunkelheit, die den Grund des Sees verbarg. Ihr Herz pochte, und als die Finsternis sie umgab, ließ das immer kältere Wasser ihre Haut kribbeln. Obwohl sie nichts mehr sehen konnte, ruderte sie unablässig mit den Armen und brachte so ihren Körper weiter in die Tiefe.
Als die eingeatmete Luft in ihren Lungen brannte und die Finger an ihren ausgestreckten Armen den Morast des Seebodens noch nicht fühlten, wusste sie, dass es reichte. Sie drehte ihren Körper, schlug mit den Beinen und paddelte mit den Armen, um wieder an die Oberfläche zu kommen.
Die Dunkelheit des Sees verschwand nicht.
Gleich wird es heller, gleich bist du oben.
Wie tief war sie getaucht?
Plötzlich spürte sie etwas an ihrer Stirn, etwas baumelte da, und als ihr bewusst wurde, dass es ihr Kleeblatt war, breitete sich Panik in ihr aus.
Ihr Kopf zeigte immer noch nach unten.
Erneut drehte sie ihren Körper, ohne zu wissen, in welche Richtung. Sie bewegte ruckartig ihre Arme und Beine; das Wasser wurde kälter, und sie spürte weiterhin den Anhänger in ihrem Gesicht.
Der Atemdrang jagte Schmerzen durch ihren Brustkorb, ihre Kehle zog sich zusammen. Sie biss auf ihre Zunge, und ihr Mund füllte sich mit Blut.
Die Kette des Anhängers legte sich enger um ihren Hals.
Als sie ihrem Atemreflex nicht länger widerstehen konnte und Seewasser ihre Luftröhre und Lunge flutete, wollte sie schreien, doch heraus kam nur ein Würgen.
Es fühlte sich an, als würde sie sich übergeben.

Der See wirkte ruhiger als sonst.
Katrin konnte sich kaum vorstellen, dass er Leben enthielt, weder das von Fischen noch von Enten. Vorsichtig setzte sie ihr Schlauchboot auf das Wasser und fuhr in Richtung der Insel. Sie vermutete, dass die Chance, auf die Enten zu treffen, am frühen Morgen am größten war.
Bis auf die Paddel, die in das Wasser tauchten, war nichts zu hören. Mehr denn je kam sie sich jetzt wie eine Abenteurerin vor.
Da sie mit dem Rücken zur Insel saß, drehte sie sich immer wieder um, um den Kurs zu halten. Sie hatte die Insel beinahe erreicht, als Luftblasen aus der Tiefe auftauchten und an der Oberfläche zerplatzten.
Katrin zuckte zurück.
War das ein Fisch?
Sie zog ihre Paddel ein und blickte in den See. Nichts.
Mit ruhigen Bewegungen ruderte sie weiter, als plötzlich etwas an der Unterseite des Bootes entlangstrich. Sie hörte das Kratzen, spürte einen Körper durch das dünne Plastik. Sie schrie auf und brachte ihr Boot ins Wanken. Das war fast wie in Der weiße Hai, nur dass es in diesem See natürlich keine Haie –
Etwas stieß von unten gegen das Boot und kippte es um. Katrin landete kopfüber im See, das kalte Wasser raubte ihr den Atem.
Sofort tauchte sie auf und klammerte sich an das Boot, das umgedreht neben ihr trieb. Ihre vollgesogene Kleidung zog sie hinunter. Sie hustete. Als sie nach unten blickte, sah sie nur endlose Leere.
Sie beschloss, nicht mehr auf die Insel zu fahren. Irgendwas war hier im See, vermutlich ein Riesenfisch, und sie würde jetzt einfach das Boot drehen und zurück zum Ufer –
Etwas berührte ihr Bein, und erneut schrie sie auf.
Als Katrin dieses Mal nach unten sah, wich sämtliche Kraft aus ihrem Körper. Es fühlte sich an, als hätte eine eiskalte Hand ihr Herz umschlossen und zugedrückt. Etwa zwei Meter unter ihr trieb eine Gestalt im Wasser.
Katrin brüllte, und während sie hektisch versuchte, auf die Unterseite des Bootes zu klettern, hörte sie das Echo ihrer eigenen Schreie. Das nasse Plastik war glitschig, ihre Hände rutschten ab.
Als sie wieder nach unten schaute, bemerkte sie, wie der Körper langsam auftauchte.
Das konnte nicht sein, das konnte einfach nicht passieren.
Ein letztes Mal versuchte sie, auf das rettende Boot zu gelangen, dann packte die Gestalt Katrins Fuß und zog sie nach unten, ganz nah zu sich. Im Wasser erkannte Katrin ein Gesicht, bleich, verschwommen, aber so vertraut.
Während sie schrie, wurde sie von ihrer Mutter umarmt.
Dann versanken sie gemeinsam in der Tiefe.

Sebastian erreichte den See um kurz vor sechs. Auf keinen Fall hatte er sich verspäten wollen. Er setzte sich auf den Stein, auf dem er vor etwa acht Stunden zum ersten Mal über seinen Bruder gesprochen hatte.
Die Sonne glitzerte auf der Wasseroberfläche, und wieder fragte er sich, was für ein Geheimnis Claudia mit ihm teilen wollte. Ob sie ein weiteres Mal seine Hand nehmen würde? In der Ferne sah Sebastian die Insel, und – er runzelte die Stirn.
Er stand auf, kniff die Augen zusammen und blickte auf den See.
Etwas trieb nicht weit vor der Insel im Wasser. Es war rosa, und Sebastian fragte sich, ob es Katrins Schlauchboot sein konnte.
Nein.
Oder doch?
Es sah jedenfalls so aus.
Heute morgen hatte er noch gehört, wie sie auf die Toilette gegangen war. War sie auch wieder von dort zurückgekommen? Was, wenn sie nicht auf die Toilette, sondern –
Aber das war absurd.
Der rosafarbene Gegenstand schaukelte im Wasser. Wenn es Katrins Schlauchboot war, dann trieb es verkehrt herum im See.
Sie hielt sich gern auf der Insel auf. In den letzten Tagen war sie oft dort herumgefahren.
Sebastian legte die Hände um seinen Mund und rief ihren Namen.
Bis auf das Echo hörte er nichts.
Seine Eingeweide zogen sich zusammen.
Katrin konnte zwar schwimmen, aber dann müsste er sie sehen. Oder sie müsste auf seine Rufe antworten.
„Scheiße“, murmelte er und drehte sich um. Natürlich war er allein. Er hatte keine Zeit, jemanden zu holen, sondern musste selbst etwas unternehmen. Er schlüpfte aus seinen Schuhen und dem Shirt und rannte ins Wasser. „Katrin“, schrie er, doch sie war nirgends zu sehen.
Gott, bitte, lass es nicht ihr Boot sein.
Als er weit genug im Wasser war, sprang er kopfüber hinein und kraulte in Richtung des rosafarbenen Gegenstands. Noch nie zuvor war er so schnell geschwommen.
Wenn es ihr Boot ist, was dann? Soll ich nach ihr tauchen?
Mehrmals rief er ihren Namen, hustete und schwamm.
In dem Augenblick, als er nahe genug dran war, um ihr Boot zu erkennen – und ja, es trieb falsch herum – spürte er einen stechenden Schmerz an seinem rechten Arm. Zunächst ignorierte er ihn, doch als der Arm beim nächsten Zug an einer anderen Stelle brannte, schaute er hin.
Was ist das?
Tiefe Schnitte zogen sich über seinen rechten Unterarm. Blut sickerte aus den Wunden und mischte sich mit dem Wasser.
Sebastian stoppte, immer noch einige Meter von dem Boot entfernt.
Er fuhr mit der linken Hand durchs Wasser, um die Wunden zu betasten. Wie Rasierklingen zerschnitt etwas seine Hand, und er zog sie schreiend nach oben. Graue Schleier legten sich über sein Bewusstsein, als er die Hand betrachtete. Sämtliche Finger waren abgetrennt, aus den Stümpfen quoll dunkelrotes Blut.
„Scheiße, scheiße, scheiße“, schrie er. Zwei seiner Finger trieben vor ihm auf dem Wasser.
Weitere Schmerzen rasten durch seine langsam paddelnden Beine, und als sich das Wasser um ihn herum rot verfärbte, fasste er reflexartig mit seiner rechten Hand nach unten. Noch während er durchs Wasser fuhr, spürte er, wie die Haut seines Armes an mehreren Stellen durchschnitten wurde.
Er heulte und hörte auf, seine Beine zu bewegen.
Das Wasser hatte sich in Klingen verwandelt. Jeder Teil seines Körpers, der sich im Wasser bewegte, wurde zerschnitten.
Sofort ging er unter, und als er mit den Beinen strampelte, um wieder nach oben zu kommen, wurden seine Zehen abgetrennt. Beim Auftauchen hing ihm ein Hautlappen von der Stirn und bedeckte eines seiner Augen. Überall löste sich Haut von seinem Körper.
Zum Boot, du musst zum Boot.
Doch die Schnitte waren zu tief, und Sebastian stellte jede Bewegung ein. Wenn er weiter schwamm, würde das Wasser seine Arme und Beine abschneiden.
Er ging unter.
Nicht ertrinken, bitte nicht ertrinken.
Seine Schreie bildeten Blasen, die durch das blutgeschwängerte Wasser an die Oberfläche trieben, und als er seinen Kopf ruckartig zur Seite warf, zerschnitt der See seine Kehle.

***​

Es war eines jener Verbrechen, über die Peter nicht sprechen konnte.
Man hatte sie während ihrer Ausbildung auf solche Fälle vorzubereiten versucht, aber diese Bilder gehörten zum Grausigsten, was er in seinen acht Jahren bei der Kantonspolizei Graubünden gesehen hatte. Nichts und niemand hätte ihn darauf vorbereiten können.
Um etwa acht Uhr waren sie an den See gerufen worden, und Seraina von der Einsatzzentrale hatte ihnen gesagt, was sie erwartete. Noch bevor das Ufer in Sichtweite war, hatten Peters Beine gezittert.
„An was denkst du?“, fragte Nicole. Sie lag neben ihm und war ebenfalls noch wach.
Peter antwortete nicht.
„Denk nicht daran. Versuch an was Schönes zu denken. Denk an Julia.“
Er fuhr über ihren gewölbten Bauch, versuchte an seine Tochter zu denken,
Der Mann stand hüfthoch im See, und um ihn herum trieben
die Spielzeuge, die sie bereits gekauft hatten und
die Leichen seiner Familie, sein Gesicht war voller Rotz und Tränen und
die Pläne, die sie schmiedeten, und immer wieder
brüllte er, brüllte ohne Unterlass, aber es war kein Wort zu verstehen, und so
kehrten seine Gedanken an den See zurück.
holten sie ihn aus dem Wasser.
Warum? Das war heute die Schlagzeile im Blick gewesen. Vielleicht, weil die Familie im letzten Jahr ein Kind verloren hatte. Auch wenn der Mann bis jetzt nicht in der Lage gewesen war, eine Aussage zu machen, war es offensichtlich, dass er über diesen Verlust nie hinweggekommen war.
„Ich verstehe nicht, wie jemand so etwas tun kann“, sagte Peter in die Dunkelheit. Die Frau und das Mädchen waren ertränkt worden, der Junge hingegen war –
Peter würgte.
Bislang hatten sie wenig Informationen über die Familie. Es gab die Aussage eines anderen Touristen, nach der sich sowohl der Mann als auch dessen Frau am Abend zuvor seltsam verhalten hatten. „Mit denen stimmte was nicht, das hab ich gleich gemerkt“, waren seine Worte gewesen. Die Tochter dieses Touristen war offenbar am frühen Morgen mit dem getöteten Jungen am See verabredet gewesen, doch er war nicht aufgetaucht.
„Weißt du, was komisch ist?“, fragte er.
„Nein.“
„Ich habe mit einem Mädchen gesprochen, das dem Jungen, der getötet wurde, den Sonnenaufgang am See zeigen wollte. Sie hat gesagt, wenn die ersten Sonnenstrahlen aufs Wasser treffen und es zum Glitzern bringen, sieht es aus, als wäre der See lebendig.“
Seine Frau schwieg.
„Der See ist wunderschön“, sagte Peter. „Trotz allem was dort geschehen ist. Wir sollten da mal hingehen. Ich hoffe, ich kann dort eines Tages mit Julia schwimmen.“
Irgendwann überkam ihn die Müdigkeit, und als er kurz vor dem Einschlafen war, hörte er bereits ein Geräusch aus seinem Traum. Es musste von dort kommen, denn es klang, als würde Wasser gegen sein Bett branden.

 

Hallo Anakreon

Ich denke du hast recht, das ist ein guter Kompromiss. Habe es entsprechend angepasst.

Viele Grüsse,
Schwups

 

Mein lieber Schwups!
Das ist eine Sache, die mich schon interessiert, inwieweit man eine Motivation für den See (oder was auch immer) braucht, um eine durchweg runde Geschichte abzuliefern.

Wenn ich jetzt sage, der Vampir trinkt dein Blut, dann wird das nicht hinterfragt werden, das ist so. Der Werwolf verwandelt sich des Nachts. Das sind die Archetypen der Horrorliteratur.
Es gab sicher Zeiten, da hat man das infrage gestellt. Hä, Vampir? Was'n das?

Aber das hat sich ja im Laufe der Zeit herausgebildet, gerade durch die Literatur.

Frankenstein ist auch so ein Beispiel, das hat sich schön zum Archetypen gemausert.

Jetzt weiß ich nicht, wie das bei euch ist, gut möglich, dass es in eurer Gegend so eine Legende gibt, dass Seen solche Sachen tun. Ich kenne sowas nicht, vielleicht ist mir die Story deshalb ein bisschen unrund vorgekommen.

Schöne Grüße von meiner Seite!

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Hanniball

Das ist eine Sache, die mich schon interessiert, inwieweit man eine Motivation für den See (oder was auch immer) braucht, um eine durchweg runde Geschichte abzuliefern.

Schwierig zu sagen. Das Problem an fantastischen Elementen ist ja, dass sie niemals ganz erklärt werden können. Also selbst wenn Erklärungen geliefert werden, kommt man irgendwann an eine Stelle, an der man sagen muss: Der Leser muss es hier einfach so akzeptieren, wie es ist. Und wenn er das nicht tut, dann ist es das falsche Genre.

Wenn du eine Geschichte über ein Haus schreibst, in dem es spukt, dann kannst du vielleicht erklären, warum es dort spukt (der Besitzer wurde ermordet und im Keller verscharrt), vielleicht auch noch, warum jener Besitzer nach seinem Tod in der Lage ist, im Haus zu spuken (das Haus gehörte vor hundert Jahren einer Gruppe von Teufelsanbetern, die die Erde im Keller verflucht hat), aber warum die Sekte das damals konnte - diese Antwort bleibst du dem Leser schuldig. Und selbst wenn dir auch dazu noch was einfällt, irgendwann ist einfach Schluss - weil es einfach keine spukenden Geister gibt, Punkt Aus.

Wie weit also sollte man gehen mit seinen Erklärungen? Eben so weit, wie es die Geschichte erfordert. Wenn du den Fokus auf eine Familie legst, die durch den spukenden Geist tyrannisiert wird, dann musst du das mit den Teufelsanbetern nicht mehr erwähnen - es reicht, zu wissen, warum in dem Haus ein Geist spukt (und nicht, warum er das kann). Wenn jedoch der Fokus auf einem Team von Wissenschaftlern liegt, das die Ereignisse im Haus untersucht, und sich vielleicht auch mit der Vergangenheit beschäftigt, dann kannst du die Sekte noch erwähnen. Die Frage ist halt immer, bis zu welchem Grad ist eine Erklärung notwendig, um die Geschichte (also das, was eigentlich erzählt werden soll) zu unterstützen.

Viel wichtiger finde ich, die "realen" Dinge zu erklären - also hauptsächlich das Verhalten der Figuren. Denn Unklarheiten hier wird dir der Leser viel weniger verzeihen als das Auftauchen von fantastischen Elementen, insbesondere in der Rubrik "Horror", wo man ja in jeder Geschichte mehr oder weniger damit rechnet.

Und weil in dieser Geschichte nunmal der Fokus auf den Figuren liegt (mehr als auf dem See), bringt es der Geschichte mMn keinen zusätzlichen Wert, wenn ich jetzt anfange, mich in Erklärungen zu versteigen - irgendwann kommt eh wieder der Punkt, wo ich aufgeben muss. Für meine Absicht, das Schicksal der Familie zu beschreiben, erkläre ich - wie ich finde - genug (ich könnte sogar den gesamten ersten Absatz dafür weglassen).

Deinen Kritikpunkt verstehe ich, ich akzeptiere ihn auch - aber ich glaube, wenn ich ihn umsetze, wird die Geschichte schlechter. Dann ufert sie noch mehr aus, und für mich hat sie eine kritische Länge für eine Veröffentlichung auf dieser Seite ohnehin jetzt schon erreicht. Wenn ich nochmal 2.000 Wörter draufpacke, ist es definitiv zu viel.

Auch das Beispiel Frankenstein, das du nennst - ich hab die Urfassung vor einigen Jahren gelesen, da wird, wenn ich mich recht entsinne, kaum beschrieben, wie Frankenstein sein Geschöpf zum Leben erweckt. Auch das Gewitter und "Es lebt" usw. (was ich mit Frankenstein in Verbindung bringe) war nicht Bestandteil des Romans, soweit ich mich erinnere. Es ging Mary Shelley ja auch nicht darum, zu erklären, wie das Geschöpf erschaffen wurde, das war nicht der Fokus der Geschichte - ergo muss man es als Leser hinnehmen oder ein anderes Buch lesen.

Jetzt weiß ich nicht, wie das bei euch ist, gut möglich, dass es in eurer Gegend so eine Legende gibt, dass Seen solche Sachen tun.

Nein, nicht dass ich wüsste. Vermutlich wird es das schon geben, wenn man bedenkt, wie viele Menschen selbst heute noch jedes Jahr in Seen ertrinken, aber zu Ohren gekommen ist mir davon noch nichts.

Viele Grüsse,
Schwups

 

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