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Unentdeckt

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13.03.2024
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Anmerkungen zum Text

Geplanter Beitrag zu einem Wettbewerb mit dem Thema "Erinnerungen"

Unentdeckt

13. Mai. Wendepunkt: Wärme.

Am Morgen, vor dem Glockenläuten. B. sitzt am Küchentisch. Der Rücken berührt die stählerne Lehne, die langgliedrigen Finger umklammern die Oberschenkel. Auf dem Tisch ein Eierbecher aus Bernsteinglas; daneben die Tageszeitung. Das Ei hat B. vor wenigen Minuten verzehrt; sein tägliches Ritual.
Sattes Sonnenlicht bricht durch das Fenster, klatscht gegen B.s blanken Schädel. Im Stadtpark schleudern sie sich auf den Wippen die Hüften aus dem Unterleib. Auf dem Boulevard blitzen ihre Zeigefinger auf Pumps und Portemonnaies.
Für das Frühstück ist B. in ein Seidensticker-Hemd und eine Bundfaltenhose gestiegen. Er hat sich die schiefergrauen Brauen geschnitten, damit sie nicht wie Taubenkrallen in seine Augenhöhlen ragen. Ein Platinring mit eingravierten Daten – E. & B. 21.06.1973 – dekoriert seine rechte Hand. Der Duft von Aloe Vera umhüllt seine löschpapierfeine Haut.

7. Juni. Figuren, gehetzt, geschoben.

B. überweist per Dauerauftrag die Miete. 595 Euro warm. Die Wohnung ist der Ort, der ihm bleibt. Ein karges Königreich auf neunundzwanzig Quadratmetern. In einem Block, in dem sich die Nachbarn nur vom Klingelschild kennen. Buchstabenreihen auf Beinen. Gelegentlich menschelt es im Treppenhaus, mikroskopisch. »N‘ Tach.« Dann die Sturzflucht nach oben oder unten. Die Weltpolitik ruft.
Im Winter begann B., gegen sich selbst Schach zu spielen. Endlich, wieder Damenberührungen. Sein Großvater Valentin brachte ihm als Geographiestudent die Regeln bei. Während seines Auslandssemesters in Tiflis sah er sie in den Gassen, über den Brettern versunken. Von Valentin erbte er die Angewohnheit, bei kniffligen Zügen das Balzen der Fische zu beobachten. Zwei grätendürre Zebrabuntbarsche drehen in einer Glaskugel in B.s Wohnzimmer-Vitrine intime Kreise. Manchmal sieht es aus, als knabberten sie sich gegenseitig an.

28. Juli. Blick in den Spiegel der Vergangenheit.

»Wir bedanken uns im Voraus bei Ihnen und wünschen Ihnen beste Gesundheit.« So verabschiedet sich die Krankenkasse in ihrem Werbebrief zur Zahnzusatzversicherung bei B.
Die Belegschaft verzückt der geringe Aufwand, den der Greis verursacht. »Ein echter Wunderknabe. Goldmedaillenkandidat beim olympischen Hürdenlauf«, flöten sich die Sachbearbeiter zu, wenn sie prall an Überschwang sind; weil sie etwa um zehn vor fünf ausstechen dürfen; damit sie rechtzeitig zur Grillsause kommen; wo sie bei frivolem Witz die Krüge applaudierend auf die Garnituren donnern lassen.
Am selben Tag wandert die dreistellige Rente auf B.s Konto. Im Bad müsste der rostige Duschkopf ausgewechselt werden. Was in B.s Augen noch im Frühjahr als Sommersprossen-Strauß funkelte – er umschwärmte das beschlagene Silber aus Lippennähe –, ist jetzt ein kreischender Flächenbrand.

13. August. Was hier passiert, passiert hier nicht.

Am Morgen, nach dem Glockenläuten.
»Ich bin Benedict. Ich spreche zu dir, weil du mir deine Aufmerksamkeit schenkst, mich fest in deinen Händen hältst. Vor mir steht ein Eierbecher aus Bernsteinglas. Das Ei habe ich bereits genossen; mein tägliches Ritual. Eigentlich würde ich nun zum Fenster gehen und in die Stuben von C., R. oder O. spähen. Mein Tasten nach dem verbliebenen Flimmer Leben. Diese behüteten Aufbrüche in das panikumwitterte Paradies sog ich stets tief ein. Einmal habe ich, glaube ich, eine Botschaft erhalten. Mein Blut zirkulierte, meine Pupillen keimten, meine Waden flatterten. Doch nach drüben? Einfach so nach drüben? Verstehst du, was ich meine?
Beim nächsten Mal sollte mir Bill Haley den Marsch blasen, schwor ich mir. See you later, Alligator, rotierend unter der Grammophon-Nadel. Wie damals, als ich Erika im Route 66 zum Boogie-Woogie aufforderte. Ein himmlischer Plan! Oh ja. Aber … so verzweifelt ich mich anstrenge; ich kann nicht mehr aufstehen, meinen Kopf recken, den Tanzgott markieren. Das ist auch keine Ausrede, denk das bitte nicht. Es ist nur, es ist zu spät, ich bin auf den Tag genau seit drei Monaten: tot.«

»Danke, Benedict. Dein letztes Gespräch führst du mit mir, der ich diese Geschichte lese. Du machst die Gedanken hinter jenen sichtbar, die uns zwischen stummen Wänden verlassen; und anschließend über Wochen, Monate unentdeckt bleiben – wie schon in den Wochen, Monaten, Sommern, Wintern zuvor. Du mahnst uns, in die Gesichter der Einsamkeit zu blicken, die Vergessenen nicht länger zu vergessen. Du weißt: Für immer braucht es mehr als einen| jjjjj |Flimmer.«

 

Hallo,

sauber gearbeitet. Man merkt dem Text jedoch an, dass er sich selbst ziemlich geil findet.

Manchmal sieht es aus, als knabberten sie sich gegenseitig an.
Das darf nicht fehlen, die Manchmal-Konstruktion und dann irgendetwas leicht Schräges. Der Text ist voll davon, aber hat insgesamt zu wenig Substanz.

Das sind Schlagworte, die Literarizität vortäuschen, ein Simulacrum; wie echt aussehend, aber nicht echt seiend.

Moment, ich korrigiere: für MICH ist das so. Mir fehlt hier ein echter Charakter, eine echte Mitte, Fleisch und Kartoffeln, um das mal metaphorisch auszudrücken. Ich lese hier einen prallvollen Text, ein Baguette mit dick Wurst belegt, aber sonst nichts dahinter. Eine Oberfläche, die, sag ich mal salopp, beim Bildungsbürgertum sicherlich die richtigen Knöpfe drückt. Das ist flott geschrieben, das klingt gut, da sind auch witzige Stellen drin, ein wenig Sozialkritik, ein wenig Tristesse, ein wenig von allem, aber nie tief, nie echt, nie elementar, immer ein wenig wie ein nigelneues Auto.

Ich lese den Text weniger als echte Geschichte, sondern eher als ein kleines Kabinettstück. Ich schreibe selber manchmal gerne solche Texte, das macht auch irre Spaß, da in die Vollen zu gehen, aber am Ende ist das wie bei einem opulenten Fastfood-Mahl, da bleibt doch das Gefühl, das alles nur Pappe war.

Beim Wettbewerb wird man so etwas aber lieben, da bin ich mir sicher, die Jury wird verzückt sein.

Gruss, Jimmy

 

Danke! Ich denke, ich verstehe, was du meinst. Es fehlt dir die Mitte, um die herum Brüche und Tiefen zum Vorschein kommen, es sind zu viele einzelne Fakten/Szenen, die für sich zu steril wirken.

Du glaubst, der Jury ist dieser Makel nicht ersichtlich? Dieser Wettbewerb ist recht hochrangig, ich denke, dass Schönschreiberei nicht ausreicht.

 

Hallo @golovin

Du machst die Gedanken hinter jenen sichtbar, die uns zwischen stummen Wänden verlassen
Den letzten Abschnitt würde ich kicken, im Grunde lobt der Text hier den Autor, der die Leser ins Gesicht der Einsamkeit blicken lässt. Ich fand das unangenehm zu lesen, zumal dieser Abschnitt auch noch Zusammenfassung und Interpretationshilfe ist. Mit "tot" kann der Text aber auch nicht enden, vielleicht da noch mal eine Beobachtung, die Zebrabuntbarsche oder was auch immer.
Inhaltlich bleibt das in meinen Augen etwas dünn, das sehe ich ähnlich wie Jimmy. Ich habe den Text aber gerne gelesen, er zeugt vom Willen, über Nullachtfünfzehn-Formulierungen und Allerweltsbeobachtungen hinauszugehen, was gut gelungen ist.

Lieber Gruss
Peeperkorn

 

Danke. Der letzte Absatz ist mir deswegen wichtig, weil der Leser sich selbst dabei ertappen soll, dass um ihn herum auch Einsamkeit herrscht und er dazu beitragen kann, sie zu mindern.

 

weil der Leser sich selbst dabei ertappen soll
Genau das merkt man dem Text an dieser Stelle an, was den Abschnitt im Unterschied zum übrigen Text etwas lehrerhaft wirken lässt. Ich würde da dem Publikum (und der Jury) mehr Vertrauen schenken. Ich finde, literarische Texte sollen mir etwas geben und nicht etwas von mir wollen. Aber das ist bloss meine Vorstellung von Literatur, das musst natürlich du entscheiden.

Lieber Gruss
Peeperkorn

 
Zuletzt bearbeitet:

Danke! Ein Aspekt ist dabei auch, dass der Leser das Buch fest in den Händen hält, quasi den Mann in seinen Händen hält, ihn drückt. Weiß nicht, ob das rüberkommt.

Eine Idee war auch, die Enkelin im letzten Absatz sprechen zu lassen, die irgendwo im Ausland lebt und ihn nie kennengelernt hat und nun durch den Text von ihm erfährt. Was haltet ihr davon?

 

Der Rücken berührt die stählerne Lehne, die langgliedrigen Finger umklammern die Oberschenkel.
Ist die Lehne wirklich aus Stahl? Und wie lang sind seine Fingern, wenn die den Oberschenkel umklammern können? Das sind so kleine, sprachlich unpräzise Dinge.

Eine Idee war auch, die Enkelin im letzten Absatz sprechen zu lassen, die irgendwo im Ausland lebt und ihn nie kennengelernt hat und nun durch den Text von ihm erfährt.
Irgendwo ist ein gutes Stichwort. Dieser Text, wovon handelt der? Von Einsamkeit? Ich denke, das wird von dem Text behauptet, aber nicht eingelöst. Um Einsamkeit mitempfinden zu können, muss ich sie fühlen können, glaubhaft gemacht bekommen, dafür braucht es meiner Meinung nach mehr als nur eine Oberfläche. Ich kriege diese Person, von dem der Text handeln soll, nie zu fassen, er bleibt ein Leerzeichen, über den wird drübererzählt.
Die Wohnung ist der Ort, der ihm bleibt. Ein karges Königreich auf neunundzwanzig Quadratmetern.
Da wird ein Ort behauptet, aber nie erzählt.

Eigentlich würde ich nun zum Fenster gehen und in die Stuben von C., R. oder O. spähen.
Das wäre ein Ansatzpunkt, das wirklich zu erzählen, wie er das tut, wie man das die einzige Möglichkeit der Kommunikation ist: dann zeigst du Einsamkeit, der ganze Text spricht diese, das muss dann nicht noch abschließend erklärt werden.

Gruss, Jimmy

 

14. März 2024, 11 Uhr,

draußen dröhnen Sirenen zu "Übungszwecken" und ich entdecke den kleinen Text, der mir durchaus gefällt, und ich denk, dat passt jut zum Glockenläuten, das zu allem Überfluss auch noch einsetzt (Beerdigung?), das ja früher nicht nur die Tageszeit anzeigte oder zum Kirchgang einlud, sondern auch Warnung und heute noch als „Sturmläuten“ dient – zu dem mir – natürlich – Ellipsen gefielen, wie zu Anfang

Am Morgen, vor dem Glockenläuten. B. [...] am Küchentisch.​
Es gibt einige Sätze, die sich jetzt schon zur Entschlackung eignen, denn welche Rolle spielt „Bernsteinglas“, wenn nicht als ein Hinweis auf die Klassenzugehörigkeit (zumindest die gewünschte ¿ „gehobenere“ Position?, der kann sich vllt. einen privaten Bunker jenseits von Pöbel und Plebs leisten). „B“ wirds wahrscheinlich nicht gefallen –
aber Du bist schließlich sein Schöpfer!

Im Stadtpark schleudern sie sich auf den Wippen die Hüften aus dem Unterleib. Auf dem Boulevard blitzen ihre Zeigefinger auf Pumps und Portemonnaies.​
Das geht ja zu wie in Sodom und Gomorra!, deren Reste man nur vermuten kann ...

Und dann eine erste Frage zu

Während seines Auslandssemesters in Tiflis sah er sie in den Gassen, über den Brettern versunken.
Warum das Komma?
Im Deutschen gibt es eine Reihe von Strichformen (frag mich nicht, was einen geviertelt oder geachtelten Strich vom Gedankenstrich unterscheidet, wollte zwar mal Grafiker werden, aber weder auf'm Strich gehen noch Striche vermessen).

Von Valentin erbte er die Angewohnheit, bei kniffligen Zügen das Balzen der Fische zu beobachten.
Ist Valentins Vorname vllt. Karl?

Am selben Tag wandert die dreistellige Rente auf B.s Konto.
Ja, da lacht mein vor allem Horkheimer, Adorno, Engels, Marx-, kurz Hertz mitsamt Kropotkin und Bakunin und – nicht zu vergessen - den Nazarener - über den liberalisierten Niedergang Bismarckscher Reformen.

Du mahnst uns, in die Gesichter der Einsamen, wenn nicht gar der Einsamkeit (die jeden befallen kann wie die Krätze) zu blicken, die Vergessenen nicht länger zu vergessen. Du weißt: Für immer braucht es mehr als einen| jjjjj |Flimmer.«
& nun drück ich Dear mit einem welcome 2 the Pleasuredom den Daumen – oder doch zumindest das Fingerchen (und besser einem Gelingerchen, denn der Daumen schlägt auf den Gaumen),

lieber @golovin!

 

Danke, Jimmy.

Bernsteinglas
Könnte natürlich sein, dass er sich mit solchen vereinzelten Stücken, die er sich vor zig Jahren mal gekauft hat, an die Würde hängt, die er für sich aufrechterhalten will. Nicht weil sie wertvoll sind, sondern weil sie ihm ein Stück eigene Lebensgestaltung verleihen.

Irgendwo ist ein gutes Stichwort. Dieser Text, wovon handelt der? Von Einsamkeit?
Also der Fokus liegt tatsächlich eher auf der bizarren Tatsache, dass sein "Leben" einfach so weiterläuft, während er schon tot ist, dass so etwas über Monate hinweg möglich ist. Niemandem fällt auf, dass er tot ist. Solche Tragödien kommen zustande, weil wir aneinander vorbeileben.

Danke für deine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Text. Schätze ich sehr.

Wo ist denn der letzte User-Kommentar geblieben? Wurde er gelöscht? Würde mich über ein Wiedereinstellen freuen.

 

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