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Wenn der Biber kommt

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20.09.2007
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Wenn der Biber kommt

„Mann, die muss doch frieren. Diese Jacke, sowas trägt man doch im Sommer.“
„Naja, ich glaub sowieso, dass die ein bisschen am Rad dreht.“
„Ach echt?“
„Ja.“ Claudia kicherte, warf einen flüchtigen Blick über ihre Schulter und konnte gerade noch Frau Zillmann und deren krummen Rücken sehen, bevor diese hinter einer Ecke verschwand. „Ich habe sie mal sprechen hören, ziemlich wirr. Unsichtbarer Freund und so, du weißt schon.“
Beide grinsten sich an, steckten die Hände tiefer in ihre Jackentaschen und beschleunigten ihren Gang.

Frau Zillmann fror nicht. Sie hatte das Gespür für Kälte längst verloren. Seufzend fegte sie etwas Schnee von einer Parkbank und ließ sich auf ihr nieder. Kleine Nebelwölkchen bildeten sich beim Ausatmen vor ihrer Nase. Als kleines Kind hatte sie sich vor diesen Wölkchen immer gefürchtet. Ihr Onkel hatte dann gesagt, sie würde Teile ihrer Seele aushauchen.
„Was ist das, Seele?“
„Du kannst sie nur im Winter sehen.“
„Aber was ist das?“
„Dein Innerstes.“
„Mein Innerstes?“ Unwillkürlich sah sie an sich hinab, als wäre ihr Bauch ein Luftballon, aus dem die Luft ausgelassen würde.

Onkel Fried hatte immer schaurige Geschichten erzählt, ihr oft Angst gemacht. Aber Frau Zillmann hatte ihn gemocht, auf eine bestimmte Art, und hatte sogar geweint, als er sich irgendwann im Januar vom Dach gestürzt hatte.
Mit Uli konnte sie reden wie mit Onkel Fried. Nur, dass jetzt sie die Ältere war. Uli saß neben ihr auf der Bank, klein, braun, haarig, und nagte an einem Stück Brot, das Frau Zillmann ihm gegeben hatte. Ein Biber, zumindest sah er aus wie einer. Ganz genau wusste Frau Zillmann das nicht.
„Schmeckt es dir?“
„Hrrrmmm.“
„Gut.“
Seit sechs Wochen war Uli jetzt bei ihr. Hatte eines Tages einfach auf ihrem Kopfkissen gehockt, sie aus seinen kleinen schwarzen Augen angestarrt. Den Gummibaum in ihrem Schlafzimmer hatte er abgenagt, wohl aus Langeweile. Seitdem ging er nicht mehr weg. Fühlte sich wohl in Frau Zillmanns Wohnung.
„Welches Holz schmeckt dir eigentlich am besten?“
„Hrrrmmm.“ Er nagte noch ein bisschen an dem Kanten herum, dann warf er ihn in hohem Bogen über die Schulter. „Früher mochte ich Weide gern, aber heute ...“ Er bleckte die Zähne. „Pappel. Hat sowas würziges. Weide ist zu wässrig.“
„Mhm.“
„Der Gummibaum war übrigens scheußlich. Hatte danach fürchterliches Sodbrennen.“
Frau Zillmann nickte. „Du hättest ihn nicht fressen müssen.“
„Natürlich nicht. Was tut man nicht alles aus Hunger.“ Er brummte noch eine Weile vor sich hin, Frau Zillmann jedoch schwieg. Anfangs hatte sie immer ein schlechtes Gewissen bekommen von seinen Klagen, doch heute perlte das an ihr ab.
Ein Junge fuhr auf seinem Fahrrad an ihnen vorbei.
„Wann gehst du wieder?“
Der Biber schaute sie stechend an. „Willst du mich etwa loswerden?“
„Ach nein, das ist es nicht. Nur, ich würde gern mal wieder schlafen. Die Träume fehlen mir, weißt du. Früher habe ich immer von fliegenden Hüten geträumt und von Karamellbonbons mit Erdbeergeschmack.“ Sie blickte lächelnd ins Leere. „Ich frage mich, wann du dich woanders einnistest.“
„Du willst träumen?“
„Ach ...“ Das Lächeln verschwand nicht.
„Hrrrmmm.“
Frau Zillmann dachte an Karamellbonbons mit Erdbeergeschmack und an Onkel Fried. Sie wusste, dass es ihr leid tun sollte, sich den Biber fortzuwünschen, wenigstens für ein paar Tage. Schließlich war er ihr Freund, griesgrämig zwar, aber dennoch. Im Moment konnte sie aber nichts bedauern, viel zu sehr war sie mit Karamellbonbons beschäftigt.
Dann, ganz plötzlich, überkam sie eine merkwürdige Schläfrigkeit. Frau Zillmann wandte ihren Blick nach links. Der Platz neben ihr war leer.

Claudia roch gut, ihr Duft erinnerte ihn irgendwie an frische Pappelzweige. Der Biber saß auf dem Wohnzimmersofa, dort war der Geruch am stärksten. Gerade war Claudia hinaus zum Briefkasten gegangen, die Haustür war nur angelehnt. Uli schnüffelte, schaute nach links, nach rechts, wartete. Keine Pflanzen, nur ein Kaktus im Fensterbrett. Stachliges Ding, dachte er.
Dann kam Claudia herein, brachte ein paar Schneeflocken und eine Zeitung mit ins Haus. Sie sah den Biber und erstarrte. Herrlich, dieser Pappelduft.
„Hrrrmmm.“

Frau Zillmann lag auf der Parkbank und träumte von Karamellbonbons mit Erdbeergeschmack.

 

Hallo Smilodon!

So, meine Antwort kommt ein bisschen verspätet (najaaa ;)), vielen Dank für das Lob! Das hört man doch immer gern.

Liebe Grüße!
apfelstrudel

Hallo Seltsem!

Ich kann immer nur danke danke sagen, meine Güte, gibts dafür ein Synonym? :p Tschuldigung. Also, danke fürs nochmalige Lesen und Kommentieren, mit dem "früher" hast du vollkommen recht, ich habs geändert.

Liebe Grüße,
apfelstrudel

 

Hallo apferstrudel,

das ist eine schöne Geschichte. Gefällt mir. Nur im Präsens geschrieben, wär sie noch besser. ;)

Ciao

MiK

 

Tag MiK!

Nur im Präsens geschrieben, wär sie noch besser.
Hehe. Ich bin nicht so ein Präsens-Freund, obwohl ich keine Engländerin bin. (Was haben die eigentlich damit zu tun? ;)) Schlecht würde die Geschichte sicherlich nicht klingen im Präsens, aber ob sie dann auch besser klingt wage ich zu bezweifeln. Umschreiben lohnt sich auch nicht mehr. :)
Freut mich dass es dir gefallen hat, danke für den Kommentar!

Liebe Grüße,
apfelstrudel

 

Hahaha!!!

Hehe. Ich bin nicht so ein Präsens-Freund, obwohl ich keine Engländerin bin. (Was haben die eigentlich damit zu tun? )
Für alle englischsprachigen Menschen ist es logisch, Geschichten in der Vergangenheit zu erzählen, weil sie im Moment des Erzählens schon Vergangenheit sind. Ist irgendwie einzusehen, finde ich. Viele Nichtmuttersprachler sind auch der Meinung, dass es im Englischen rein grammatikalisch einfacher ist, in der Vergangheit zu schreiben. Im deutschen Erzähl- und Leseempfinden ist man durch das Präsens subjektiv näher am Geschehen.
Was deine Geschichte betrifft, umschreiben lohnt sich sicher nicht. Ich wollte dich damit auch nur ein bisschen hochnehmen. Scheinbar hat es auch keinen meiner Vorkritiker gestört.

Man liest sich ;)

 

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