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Ende der Brennnessel
Ich habe euch alle gewarnt. Fasst mich nicht an. Ich bin eine Brennnessel.
Jetzt gehe ich durch den prasselnden Regen, die Böschung entlang. Als Kinder haben wir hier gespielt, sind den Abhang hinuntergeklettert. Es war eine Mutprobe, so tief wie möglich an die Bahngleise zu klettern und sich dort zu halten, wenn ein Zug vorbeidonnerte. Bis Jelina einen Krampf im Oberschenkel kriegte und wir sie kaum nach oben ziehen konnten. Anscheinend hat die Stadt Wind davon bekommen, denn heute gibt es dort einen Zaun.
Ich bin eine Brennnessel. Wer mich berührt, wird verbrannt. Doch keiner will mir glauben.
Jonas auch nicht. Ich sehe sein Gesicht vor mir, fragend, bekümmert, verletzt. Warum habe ich den Brief auch in „Die Leiden des jungen Werthers“ getan, in das Büchlein, das mir Jonas geliehen hat?
„Lies das“, hatte er ganz begeistert gesagt,“ erstaunlich, der olle Goethe war auch mal jung.“ Ich habe das Buch angenommen, ohne Absicht, es je zu lesen. Und gerade da hinein musste ich Paddys Brief klemmen, und Jonas musste es aus dem Regal nehmen, um mir etwas zu zeigen. Er hätte das herausgefallene Schreiben ja auch niemals gelesen, wäre da nicht das eine Wort gewesen. Dieses Wort, zu einem Kussmund umkringelt mit einem roten Filzstift.
Ungläubig sah Jonas mich an, wartete auf eine Erklärung, eine Ausrede. Ich sagte nicht, dass es einfach nur passiert sei. Dass ich nicht wusste, wie ich „nein“ sagen sollte. Er hätte es mir geglaubt, er hätte mir alles geglaubt. Stattdessen höhnte ich:
„Hast du wirklich gedacht, dass ich für drei Wochen ohne einen Jungen bleiben würde? Im Urlaub?“ Und als sein Gesicht in sich zusammenfiel, setzte ich noch einen drauf:
„Ich musste doch mal sehen, ob es jemand besser kann.“
Abrupt drehte er sich um, um mir die Tränen nicht zu zeigen und verließ die Wohnung. Ich bin eine Brennnessel, ich weiß.
Ich stapfe weiter, versinke immer wieder bis zu den Knöcheln im Schlamm. An dieser Stelle, wo jetzt nur dünnes Gras wächst, gab es früher eine ganze Fläche mit Brennnesseln. Im Sommer reichten sie mir bis zur Taille, und es war dicht an dicht. Als Moritz mich nach Hause brachte, hat er meiner entsetzten Mutter beteuert, dass er mich nicht mit Absicht hineingestoßen habe; er sei nur gestolpert. Trotzdem muss ich schrecklich ausgesehen habe: mir juckte es überall, und nicht nur meine nackten Arme und Beine, sondern auch unter der Bluse und den Shorts war ich übersät mit kleinen Pöckchen. Am Schlimmsten aber war wohl mein Gesicht, puterrot und zerkratzt.
Ich habe alle gewarnt. Ich bin eine Brennnessel. Wer mich berührt, wird verbrannt. Doch keiner hat mir geglaubt.
Auch meine Mutter nicht. Das Weinen und Schreien hatte sie schon vor Wochen aufgegeben, und wenn ich mal wieder spät in der Nacht nach Hause kam, lag sie schon im Bett, und nur mit einem Ohr an der Tür konnte ich ihr gedämpftes Schluchzen hören.
Als ich wieder einmal ihre Geldbörse in der Hand hatte, hörte ich sie ins Zimmer kommen. Ich wollte mich umdrehen und ihr etwas besonders Garstiges an den Kopf werfen, aber mein Blut pulsierte so laut im Schädel, dass mir nichts einfiel.
„ Selbst Schuld. Mit mehr Taschengeld hätte ich das gar nicht nötig“, war ein Klassiker, der nicht mehr zog. Beim ersten Mal war sie noch zusammengezuckt, hatte gestammelt von Hartz Vier und wenig Geld, so dass ich nachsetzen konnte:
„Dann such dir doch ’ne Arbeit. Ich habe unser Asi-Leben so satt.“
Das funktionierte nicht mehr. Beim letzten Mal hatte sie nur gesagt:
„Geh selbst arbeiten. Bist sechzehn!“ Pah.
Ich war so unbändig wütend. Warum ließ denn die Alte das Geld immer rumliegen? Erst verführen, und dann schockiert tun ... Ich wollte ihr entgegenspeien: „Du olle Schlampe, kein Wunder, dass Papa dich verlassen hat!“ Doch auch der Satz wirkte nicht mehr. Als ich mich zu ihr umdrehte, sagte sie ruhig und entschieden:
„Ich kann nicht mit einem Menschen zusammenleben, dem ich nicht mehr vertraue. Ich will, dass du ausziehst.“
Der Regen peitscht mir ins Gesicht , meine Haut brennt schon, und an den Haaren tropft mir das Wasser unter den Kragen. Alles ist nass, die Jeans, die Jacke, sogar der Pullover. In diesem leerstehenden Haus habe ich meinen ersten Kuss gekriegt, und durch das zerbrochene Fenster klettere ich hinein. Viele gepunktete Linien im Staub auf dem Boden zeigen mir, dass ich hier nicht allein bin. Ich kauere mich in eine Ecke und warte. Und friere.
Sollen sie doch kommen, diese Viecher, ist mir doch egal! Ich werde hier zusammensinken, und dann sollen sie ruhig über mich herfallen. Mit ihren spitzen Zähnen Bissen aus mir reißen, meinen Körper auseinandernehmen, dass er sich auflösen kann in vielen Mägen. Dann gibt es mich nicht mehr. Endlich!
Zwischen meinen halbgeschlossenen Lidern nehme ich eine Bewegung wahr. Keine zwei Meter von mir entfernt sind tatsächlich zwei Ratten, und mit schrillen Schreien kämpfen sie, so dass die braunen Krümel, die sie hinterlassen haben, auseinanderstieben. Ich will aufspringen, doch meine Beine sind eingeschlafen oder steif von der Kälte; ich sacke wieder zurück. Die Nager erstarren und sehen mich an, um dann ihren Kampf fortzusetzen. Sie haben gar keine Angst vor mir. Doch sie stürzen sich auch nicht auf mich.
Mein Herz pumpt Blut durch meinen Körper, ich reibe meine tauben Beine. Ich huste. Was gäbe ich jetzt für ein heißes Bad zu Hause! Zu Hause? Ich habe keins mehr. Mein Vater hat sich schon seit Jahren nicht um mich gekümmert, und meine Mutter hat irgendwas vom Jugendamt gesagt.
Was wäre, wenn ich kämpfen würde? Wenn ich meiner Mutter sage, wie Leid es mir tut? Wie wenig ich mich selbst verstehen kann? Wenn ich meiner Mutter freiwillig vorschlage, mit ihr zu der Beratung zu gehen, mit der sie mich vor Wochen genervt hat. Oder wenn ich das Sorgentelefon ...
Ich habe alle gewarnt. Ich bin eine Brennnessel, ich weiß. Aber ich will nicht mehr. Ich will nicht länger eine sein.
---Diese Geschichte wurde (fast) im Rahmen des Schreibspieles "Copywrite" von Golio kopiert. ---