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Welt Welt
Ich wollte immer irgendetwas besser können als die anderen. Etwas, worauf ich stolz sein kann.
Als ich sieben Jahre alt war, versuchte ich es mit Klavierspielen, weil meine ältere Cousine auch damit angefangen hatte. Ich wollte sie unbedingt überbieten. Doch ich hatte niemals ihre Fingerfertigkeit und ihre Ruhe, meine Gelenke waren rostig wie die einer alten Frau und ständig schlug ich zwei Tasten gleichzeitig an. Zwei Jahre später gab ich auf.
Nur in Mathe war ich immer die Beste. Aber das war mir eher peinlich.
Dann probierte ich es mit Schwimmen. Allerdings war ich schon zu alt, um einmal richtig gut werden zu können, ich trainierte auch zu selten. Trotzdem hielt ich durch, bis ich fünfzehn war, dann hörte ich auf. Ich weiß auch nicht, warum. Einfach so wahrscheinlich. Dabei hatte ich an jedem Wettkampf teilgenommen, schaffte es sogar einmal auf den vierten Platz. Eine Medaille bekam ich nie. Meistens war ich irgendwo in der Mitte, nie richtig schlecht, aber auch nicht richtig gut.
Gerade schwimme ich, ziehe meine Bahnen in der fast leeren Schwimmhalle. Ich denke an meine Cousine, die heute Pianistin ist. Ein Lied, das ich einmal spielen musste, das mich aber völlig zur Verzweiflung brachte, schwirrt mir im Kopf. Ich glaube, es war ein Stück aus Peter und der Wolf. Die Katze? Ich bin mir nicht sicher. Vielleicht war es auch Peter.
Unter Wasser atme ich aus, die Augen habe ich weit geöffnet. Ein schwarzer Streifen auf leuchtendem Türkis. Ich stelle mir das Becken aus der Vogelperspektive vor. Fliege immer höher, sehe die ganze Stadt, das Land; dann ist da Meer, da Wolken, Schwärze. Die ganze Welt unter mir. Ich frage mich, was wohl gerade auf der anderen Seite des Erdballs passiert. Wenn ich von der Schwimmhalle aus durch den Mittelpunkt der Erde eine Gerade ziehen würde. Was ist da? Eine Insel? Ich stupse die Kugel an mit meinem Finger und sie rotiert, so schnell, dass mir fast schwindlig wird. Sie rotiert und rotiert, alles ist ein weißer Wirbel. Mir wird schlecht.
Prustend tauche ich wieder auf, ringe nach Atem. Die Helligkeit blendet mich und ich reibe mir das Wasser aus den Augen. Ich klammere mich am Beckenrand fest und denke. Im Denken war ich schon immer ganz gut. Ich denke, bis mir kalt wird, dann ziehe ich mich aus dem Wasser und gehe. Ich will heim.
Draußen schneit es, mitten im März. Ich ziehe die Kapuze über meine nassen Haare und laufe schneller. Laufe, bis es wärmer wird, angenehm warm. So warm, dass ich die Jacke ausziehen muss. Der Himmel ist blau und flirrt vor Hitze, links und rechts neben mir sind Stoppelfelder, so gelb, dass sie mit dem Himmel um die Wette leuchten. Ich fühle mich wie gefangen in einem Bild van Goghs, und ich drehe mich sogar um, als könnte ich ihn hinter mir sehen, sein riesiges Gesicht und einen Pinsel, den er gerade auf mich gerichtet hat. Aber nichts. Nur eine Katze, die auf mich zugestreunt kommt. Ich bleibe stehen, lächelnd. Sie reibt sich an meinem Bein und ich sehe noch einmal auf, falls van Gogh vielleicht doch sehen kann, was gerade in seinem Bild geschieht. Dann laufe ich weiter, die Katze folgt mir.
Wieder klingt diese Melodie in meinem Ohr, die Katze. Es war bestimmt die Katze.
Es ist schon dunkel, als ich Meer rauschen höre. Es ist nicht mehr weit entfernt, die Luft riecht bereits salzig und ich habe Sand in den Schuhen.
„Das Meer“, sage ich zur Katze und sie antwortet mit einem Miau.
Das Rauschen wird lauter, Wind verfängt sich in meinen mittlerweile getrockneten Haaren. Ich bekomme eine Gänsehaut und ziehe die Jacke wieder an. Vor mir kann ich schemenhaft Dünen erkennen. Ich ziehe die Schuhe aus, trotz der Kälte, weil ich barfuß im Sand besser laufen kann. Dann renne ich, bis ich auf einer Düne stehe.
„Siehst du“, sage ich zur Katze und sie schnurrt.
Das Meer ist laut und schwarz. Dort rechts ist ein Steg, ein sehr langer Steg. Am Ende des Steges schaukelt ein Boot und ein kleines gelbes Licht brennt dort.
„Komm“, sage ich zur Katze und sie folgt mir.
Die Holzplanken unter meinen Füßen sind nass und rau und feine Wassertröpfchen sprühen mir ins Gesicht. Ich schmecke Salz auf meinen Lippen. Ich laufe und laufe, lasse den Strand weit hinter mir, bis ich schließlich das Boot erreiche. Ein alter Mann mit Bart sitzt dort und schaut mich an. In der Kajüte hinter ihm ist Licht.
„Hallo“, sage ich unsicher.
Er nickt und bedeutet mir einzusteigen.
Ich nehme die Katze auf den Arm und steige in das Boot. Es schwankt und ich verliere fast das Gleichgewicht, aber der alte Mann packt mich gerade noch am Arm.
„Geh da rein“, brummt er und ich gehorche.
Es ist muffig und feucht in der Kajüte und es riecht nach Seetang, aber es ist warm und ich werde schläfrig. Ich lege mich auf die niedrige Pritsche, die in einer Ecke steht und mache es mir bequem. Die Katze rollt sich an meinem Hals zusammen.
Ich wache auf, weil Schnurrhaare mich kitzeln. Das Boot schaukelt nicht mehr, ich sehe aus dem Fenster. Die Sonne scheint und ringsum ist kein Land in Sicht.
Ich gehe hinaus zum alten Mann, der am Bug des Bootes steht und raucht.
„Wie weit ist es noch?“, frage ich.
„Nicht mehr weit“, brummt er und nickt mir zu.
Am nächsten Morgen sind wir da. Der alte Mann ruft mich und ich stolpere aus der Kajüte, zum Bug des kleinen Kutters und ich staune. Eine Insel. Tatsächlich. Schroffe Klippen ragen aus dem Wasser, in der Ferne sieht man einen Berg mit zwei Gipfeln, der rechte etwas höher als der linke. Ich lache und schreie und der alte Mann lacht auch, dass es klingt, als würden Steine aneinander reiben.
Dann gibt es einen Ruck und ich verliere das Gleichgewicht, aber der Mann packt mich wieder rechtzeitig am Arm, sodass ich nicht falle.
„Eine Sandbank“, brummt er und ich lache wieder.
Ich bücke mich nach der Katze und hebe sie hoch. „Schau mal, Miez, hast du das schon mal gesehen? So siehts hier aus.“
Auf der anderen Seite der Erdkugel sehe ich mich eine Straße entlang laufen, im Schneegestöber, mit nassen Haaren, die Hände tief in den Jackentaschen.
Ich klettere über die Reling und springe ins Wasser. Es reicht mir bis zur Hüfte. Langsam wate ich auf die Insel zu. Recke meinen Kopf gen Himmel und winke dem Mädchen, das da von der Straße auf mich herabblickt.