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- 20.09.2007
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Mischa weint
Wenn Mischa weint, sind das Krokodilstränen, davon bin ich überzeugt. Keinesfalls echte. Niemand kann so viel heulen, wie sie das tut. Zum ersten Mal sah ich Mischa weinen, das war am Freitag, als ich bei meiner Tante angekommen bin. Eigentlich bin ich gern hier, aber jetzt hat sie sich gleich zwei Personen ins Haus geholt, denen ich zutiefst misstraue.
Erwin, Mischas Vater. Den kenne ich schon länger, ein Freund der Familie, gehörte immer zu den Leuten, die bei meiner Tante ein und aus gingen. Jetzt wohnt er hier, macht sich breit und ich denke: Hey, der ist doch okay. Ich befehle mir, ihn zu mögen, warum auch nicht. Er macht freiwillig den Abwasch, bügelt, das ist doch cool, so einen Mann will ich später auch mal. Und ja, ich finde ihn tatsächlich nett, ich kann mich damit anfreunden, ihn okay zu finden.
Mischa, Erwins Tochter. Die ist neu, die kannte ich noch nicht. Ist ein paar Jahre jünger als ich. Ich schätzte sie auf vierzehn, maximal fünfzehn, als ich sie das erste Mal sah. Es gibt Leute, die sehen noch jünger aus, als man sie im Prinzip schon schätzen würde, und Mischa gehört zu diesen Leuten. Sie sieht aus wie zehn.
Wir saßen in der winzigen Küche, zu dritt, Erwin, meine Tante und ich. Eigentlich war ich die Einzige, die saß, Erwin lehnte am Fenster und meine Tante am Kühlschrank. Beide rauchten und sahen mich an, ich stocherte in dem Rührei herum, das ich aus Höflichkeit nicht abgelehnt hatte. Nach langen Reisen hatte ich nie Hunger.
„War der Flug gut?“
„Hm“, nuschelte ich. „Langweilig.“
„Ach was.“ Meine Tante lachte. „Letztes Jahr fandest du es noch toll.“
„Nö, da war's auch schon langweilig.“
„Dann im Jahr davor.“
Ich zuckte die Achseln und grinste sie schief an, ich war zu kaputt zum Sprechen.
„Was macht denn die Schule?“ Das war Erwin. Langsam drehte ich den Kopf in seine Richtung und überlegte, was ich darauf antworten sollte.
„Alles super.“
„Welche Klasse bist du jetzt?“ Konnte der eigentlich nur blöde Fragen - ? Egal. Das Dumme war, dass ich darauf keine kurze Antwort geben konnte, es waren Sommerferien und ich weiß nie: War ich noch oder bin ich schon?
„Komm in die Zwölf.“
„Mischa kommt jetzt in die Neunte.“
„Aha.“ Ich guckte wieder zu meiner Tante. „Ähm ...“
„Achso“, meinte sie hastig. „Das ist Erwins Tochter, du kennst sie noch nicht. Ist gerade mit Freunden weg, aber heute Abend lernst du sie noch kennen.“
„Ihr werdet euch verstehen, meine Süße, da bin ich sicher.“ Wieder Erwin. Er nannte nicht nur meine Tante Süße, Kätzchen, Schätzchen oder Maus, sondern auch meine Großmutter, die Nachbarin oder die Kassiererinnen im Supermarkt, die dann erröteten, kicherten, sich beim Wechselgeld verzählten und nicht selten das Sie mit dem Du verwechselten, insofern bildete ich mir nichts darauf ein. Anfangs war ich irritiert, aber das hatte sich schnell gelegt.
Mischa kam dann, verlor keine Zeit und verschwand in dem Zimmer, das letztes Jahr noch das Gästezimmer gewesen war, sprich meines, und das ich jetzt mit ihr teilte. Wir drei saßen noch immer in der Küche rum, als sie in mein Zimmer schlich, ohne irgendjemanden eines Blickes zu würdigen und ich starrte meine Tante verblüfft an. Erwin antwortete.
„Die Kleine ist sehr schüchtern, geh einfach zu ihr und unterhalte dich mit ihr, hm?“ Er sagte das hm? wie zu einem kleinen Kind, das Angst vor dem ersten Schultag hatte und dem man sagen musste, dass alles okay ist. Er zog dabei die Augenbrauen hoch, lächelte und guckte wie ein Pfannkuchen. Ein Teil von mir wollte ihm am liebsten ins Gesicht schlagen oder „Ich bin doch auch so schüchtern“ flöten, aber ich riss mich zusammen, nickte und sagte: „Klar.“
Ich stand auf und schlurfte in mein Zimmer.
Da saß sie, schmächtig, mit Beinen, die viel zu lang für sie waren, und knubbeligen Knien. Dünn war sie und klein. Mit ihr in einem Raum fühlte ich mich sofort schwer, als würde sich der Fußboden in meine Richtung neigen, als drückte ich die Holzdielen mit meinem Gewicht nach unten und sie dabei nach oben. Wenigstens hatte ich nicht solche Knie.
„Hi“, sagte ich, aber sie sah mich nur aus großen, dummen Rehaugen an. Ärgerlich. „Ähm“, versuchte ich es erneut. „Du sitzt auf meinem Bett.“ Es standen jetzt zwei Betten im Zimmer, oder besser: ein Bett und eine Pritsche, aber ich sah nicht ein, auf der Pritsche zu schlafen.
Meine Tante hätte an dieser Stelle eine Augenbraue gehoben, aber Mischa tat das nicht, starrte nur weiter groß und dumm. Ihre Augen glänzten.
Das ist mein Letzter, dachte ich und sagte: „Wir teilen uns jetzt mein Zimmer, wie's aussieht.“
Sie nickte langsam und bedächtig. Eine Reaktion, gut.
„Ist es okay für dich, mich in meinem Bett schlafen zu lassen?“
Sie schürzte die Lippen und sog rasch und leise die Luft durch die Nase ein, wie ein Häschen, aber nur einmal. Oder als hätte sie gerade geweint, aber ihre Augen waren nicht rot, sondern groß und dumm und braun.
Langsam verlor ich die Geduld. „Es ist nämlich nicht okay für mich, nicht in meinem Bett zu schlafen, weißt du. Also“, ich atmete tief ein und warf einen Blick aus dem Fenster, „kannst ja sitzen bleiben, stört mich nicht.“
Weil sie nichts sagte, lächelte ich unverbindlich und nickte einige Male, um nicht blöd rumzustehen. Mein Blick fiel auf meinen Koffer, der schon am Fußende des Bettes stand, ich konnte also nicht rausgehen und behaupten, mein Gepäck zu holen. Konversation konnte ich noch nie. Ich setzte mich auf die Pritsche.
„Wie heißt du?“, fragte ich, obwohl ich es schon wusste.
„Mischa.“
„Wie alt bist du?“, fragte ich, obwohl ich es mir denken konnte.
„Vierzehn.“
„Aha.“
Pause. Mir fiel nichts mehr ein. Was konnte ich dieses Mädchen fragen, das aussah, als könnte es schon der kleinste Luftzug aus dem Fenster wehen?
„Was ist deine Lieblingsfarbe?“ Es interessierte mich nicht die Bohne und ich blickte gleichzeitig aus dem Fenster, aber es kam keine Antwort, was mich veranlasste, wieder zu ihr zu schauen. Der Anblick überraschte mich und versetzte mich in einen Schockzustand.
Mischa weinte. Sie hatte die Arme um die angezogenen Beine geschlungen, ihr Kinn auf die Knie gestützt und die großen Lider gesenkt; Tränen tropften aus ihren Augen auf ihre Beine, sie wiegte sich leicht vor und zurück.
Schnell sah ich wieder aus dem Fenster und überlegte hastig, was ich wohl Falsches gesagt haben könnte. Es wollte mir nicht einfallen. Wieso fing jemand an zu heulen, nur weil ich eine so banale Frage gestellt hatte? Ich kam zu dem Schluss, dass es nicht an mir lag, nicht an mir liegen konnte.
Mit einem „puh“ streckte ich mich auf der Pritsche aus und tat so, als hätte ich nichts bemerkt. „Ganz schön warm hier.“
Aber auch Mischa tat so, als würde sie nichts bemerken. Ich wartete noch eine Weile, stand dann auf und verließ das Zimmer.
Ich traf Erwin allein in der Küche. „Na, mein Mäuschen, habt ihr euch gut unterhalten?“
„Blendend“, grummelte ich, füllte ein Glas mit Leitungswasser und trank es ohne abzusetzen aus, um nicht reden zu müssen.
Das Gute daran, den Urlaub bei meiner Tante zu verbringen ist, dass man jede Menge Zeit hat, um sich in Ruhe langweilen zu können. Man ist zu zweit in ihrer kleinen Wohnung am See, die Haustür ist im Sommer meist angelehnt und immer kommt jemand reingekleckert, den man nicht weiter beachten muss, wenn man nicht will. Man kann einfach in die Küche gehen, sich an den paar Leuten vorbeidrücken, ohne zu grüßen, eine Cola aus dem Kühlschrank nehmen und wieder gehen. Niemand beschwert sich.
Es kommt auch keiner zu einem und fragt, was man unternehmen möchte, und wenn meine Tante das doch mal tut, kann ich ohne weiteres sagen: nichts, und es stört sie nicht. Darum liebe ich den Urlaub bei ihr.
Es ist Samstag und ich sitze mit meiner Tante am Seeufer, wir halten die Füße ins Wasser und zählen die Fische, die hin und wieder mit einem Platschen auftauchen. Keine Mischa, kein Erwin, überhaupt niemand ist an diesem Abend am See.
„Magst du Erwin?“, fragt meine Tante.
„Klar“, sage ich ohne nachzudenken, „er ist okay.“
„Wirklich?“
„Ja. Er wäscht ab und so, er ist nett, was willst du mehr.“
„Mhm.“
„Was arbeitet er eigentlich?“ Ich weiß, dass Erwin mal Brummi-Fahrer war, jedenfalls, als ich ihn das letzte Mal gesehen habe. Einmal hat er meine Tante sogar mit nach Italien genommen.
„Er hat den Job als Fernfahrer aufgegeben.“
„Wieso?“
„Wegen uns natürlich.“
Wegen uns. Meint sie sich selbst und Mischa?
„Aha. Hat er was anderes in Aussicht?“
Meine Tante antwortet nicht und ich begreife, lege den Kopf in den Nacken und blicke gen Himmel, den die Abendsonne rosa gefärbt hat. Dann denke ich an Mischa, wie ihr das wohl gefällt: Ihr Vater hat eine neue Freundin und ihretwegen sogar den Job aufgegeben, um für sie dazusein. Das, was er für seine Tochter nicht getan hat. Ich kann mir im Moment schwer vorstellen, dass Mischa das bewusst ist. Und ich frage mich, was sie wohl von meiner Tante hält.
„Wir lieben uns ja.“
„Natürlich.“ Ich höre ein Platschen ganz nah an meinem Fuß und drehe den Kopf, ein Fisch, sehe nicht den vorwurfsvollen Blick meiner Tante im Nacken, spüre ihn aber umso deutlicher.
„Zehn“, sage ich, stehe auf und gehe den Hang hinauf.
Als wir die Wohnung betreten ist das Erste, was ich sehe, Erwins massiger Rücken, der fast gänzlich den Herd verdeckt, an dem er sich zu schaffen macht. Es riecht nach Pfannkuchen, und da schnellt auch schon der erste in die Luft, dreht sich und landet perfekt wieder in der Pfanne. Das kann er also auch. Ich bin nicht beeindruckt.
Meine Tante umarmt ihn von hinten, er säuselt ihr die üblichen Kosenamen ins Ohr, ohne sich ablenken zu lassen.
Ich lasse mich auf einen Hocker fallen und bin jetzt gezwungen, ihm auf den Hintern zu starren.
„Ich habe Wein gekauft“, sagt der Hintern, und: „Achja?“, antwortet meine Tante, in ihrer Stimme schwingt ein besorgter Unterton. „Wieviel?“
„Drei Flaschen, die trinken wir heute.“
„Wo ist Mischa?“, funke ich dazwischen und der Hintern anwortet: „In ihrem Zimmer.“
Kommentarlos stehe ich auf, um Mischas neues Zimmer zu suchen.
„Hey Mischa“, sage ich tonlos und mache es mir ihr gegenüber auf der Pritsche gemütlich, greife das nächstbeste Buch, das auf dem Schreibtisch liegt und fange an, das Ende zu lesen. „Alles fit?“
Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass sie nickt.
Ein ziemlich nichtssagendes Ende, es schneit einfach nur.
„Ich glaube, ich mag deinen Vater nicht besonders.“
Darauf erwarte ich keine Antwort und bin erstaunt, dass ich eine erhalte.
„Ich dich auch nicht.“
Eine Pause entsteht, in der ich schließlich das Buch zuklappe, den Kopf zu ihr drehe, nicke und lächle. Sie hat es leise gesagt und piepsig, aber sie hat es regelrecht hervorgestoßen, gezischt; das hätte ich ihr nicht zugetraut.
„Sowas.“ Ich drehe mich zu ihr. „Mich musst du auch nur die nächsten zwei Wochen aushalten. Und meine Tante?“
Ich warte einen Moment, aber Mischa zuckt nur die Achseln.
„Mach dir nichts draus, ich bin eigentlich auch nicht so gesprächig, das erscheint dir nur so.“
Wieder starren ihre Rehaugen.
„Hm. Dein Vater kocht da draußen, meinst du, das ist gut?“
Schulterzucken. Und dann, ich weiß nicht, was ich schon wieder falsch gemacht habe, fängt Mischa an zu weinen. Dieselbe Prozedur wie gestern, die Beine fest umschlungen weint sie, fast lautlos, nur hin und wieder ein kleines Schniefen. Eine Weile beobachte ich sie mit einem klammen Gefühl um die Schultern, dann stehe ich leise auf, um wieder in die Küche zu gehen. Komisch, dass ich es nirgends lange aushalte.
„Mischa weint“, sage ich. „Macht sie das öfter?“
Erwin antwortet nicht, sondern kramt im Eisfach herum, aus dem er eine Weinflasche befördert.
„Jeden Tag“, flüstert meine Tante mir ins Ohr.
Ich will fragen, warum, aber komme nicht dazu, weil Erwin dazwischenquatscht.
Nach vier Gläsern bin ich betrunken und traue mich nicht aufzustehen, weil ich sicher bin, dann herumzuwanken und irgendetwas umzuschmeißen. Meine Tante lacht über meinen Gesichtsausdruck und Erwin lacht über meine Tante; ich lache gar nicht, sondern versuche, Klarheit in meinen Kopf zu bringen. Ich trinke nie, aus diversen Gründen. In erster Linie deshalb, weil Gehirnzellen sterben, und ich brauche mein Hirn. Weil ich nie trinke, vertrage ich auch nichts, das hätte ich wissen sollen.
Erwin schenkt mir nach. „Gut“, sage ich und versuche, die Hand über das Glas zu halten, um ihn wissen zu lassen, dass ich mit 'gut' nicht: 'Ach wie gut, dass du mich besoffen machst' meine, sondern eher: 'Ist gut jetzt, du Arsch.'
Es klingelt und Erwin ruft: „Ist offen!“
Tommy kommt herein, der wohnt ein Stockwerk weiter oben. Einer von den Leuten, die bei meiner Tante ein und aus gehen, seit ich denken kann, und die es auch weiterhin tun werden, ohne irgendwann mit ihr im Bett zu landen. Ich weiß das, weil Tommy schwul ist. Tommy ist in Ordnung.
Er kommt reingestapft mit seinen Stiefeln, die er im Sommer wie im Winter trägt und auf die ich verdammt neidisch bin. Er hat sie schon ewig, angeblich hat er sie mal in den Staaten gekauft, was ich ihm aber nicht glaube, weil Tommy nicht so aussieht, als hätte er das Land jemals verlassen.
„Hallo Tommys Stiefel“, sage ich, „ihr seht aber hübsch aus heute.“
„Hallo Lisa“, antwortet er, „dir geht’s wohl nicht so gut.“
Ich versuche nach ihm zu treten, zeige auf Erwin und sage: „Der da.“
„Der da?“ Tommy sieht Erwin an. „Hi Erwin.“
Der sagt nichts und es ist komisch still in der Küche.
„Oh oh“, mache ich, kichere und vergrabe das Gesicht in der Armbeuge.
„Du weißt, dass ich das nicht mag, Tommy“, sagt Erwin ernst, so ernst, dass es schon albern wirkt, und ich muss mir das Lachen verkneifen.
„Oooh, aber die sind doch ganz sauber“, meint Tommy und ich frage mich, was um alles in der Welt sie meinen.
„Das spielt keine Rolle.“
„Es ist okay, Erwin“, schaltet sich meine Tante ein, selbst die scheint zu wissen, worum es geht, langsam komme ich mir blöd vor, „wir haben doch Fliesen.“
„Hä?“, sage ich endlich und hebe ruckartig den Kopf.
„Das hat damit nichts zu tun, mein Kätzchen, es ist einfach respektlos.“ Und dann, zu Tommy: „Zieh bitte die Schuhe aus.“
Ach, darum geht es, denke ich, und: Was für ein Wichser.
Ich blicke von Erwin zu meiner Tante, die Tommy schuldbewusst anschaut. Die Stiefel, denke ich, zieh sie nicht aus, zieh sie nicht aus, und er enttäuscht mich nicht, wie könnte er.
„Hm, naja, ich geh dann wieder, wollte sowieso nur kurz vorbeischauen.“
„Bye, Tommys Stiefel!“, rufe ich ihm hinterher und wende mich dann meiner Tante und ihrem Göttergatten zu, um den folgenden Streit zu genießen.
Meine Tante zischt, Erwin bleibt ruhig, seine Stimme ist fest und sogar im Streit nennt er sie Mäuschen. Nein, Mäuschen, da hast du recht, meine Süße, ja und nein und nein und sowieso. Dann wird es lauter, der Tonfall meiner Tante schrill und auch Erwin hebt die Stimme. Wie bei einem Tennismatch springen meine Augen zwischen den beiden hin und her. Dann geschieht das, was ich von Erwin nicht erwartet hätte: Er verliert die Nerven. Spricht auf einmal unglaublich schnell, ich höre nur vereinzelt Worte, er faselt vom Maulhalten, vom Schlagen und Treten.
Dann ist es still.
Ich stehe auf, der Hocker schrappt über den Boden und ich verliere kurz das Gleichgewicht. Meine Beine sind wie Gummi und mir ist schwindlig. Ich stelle mich vor Erwin, hole tief Luft, bohre ihm den Zeigefinger in seine fette Brust und sage: „Du bist ein Arschloch, Erwin, ein riesiges Arschloch. Ich wünschte, meine Tante würde dich mitsamt deiner heulenden Tochter vor die Tür setzen, weil“, ich schwanke und muss mich an seinem Kragen festhalten, „weil das hier“, ich versuche eine ausschweifende Handbewegung, „ist ihre Wohnung, in der du auf ihre Kosten wohnst.“
Ich fokussiere sein Gesicht, das wieder völlig gefasst ist, so gefasst, dass ich ihm gerne hineinschlagen würde. „Scheiß Parasit“, sage ich stattdessen, und damit drehe ich mich um und erblicke Mischa, die dort in der Tür steht.
Und Mischa weint.
Ich weiß nicht warum, aber ich habe ein schlechtes Gewissen. Vielleicht liegt es an den Kopfschmerzen, die mich heute früh geweckt haben und die mein Hirn vernebeln. Ich sitze auf der Pritsche, Mischa schläft noch, in meinem Bett. Ihren Atem kann man fast nicht hören, ich musste nachsehen, um mich zu vergewissern, dass sie noch da ist.
Seit sieben Uhr bin ich wach, jetzt ist es neun, und ich beobachte unverwandt die Zeiger der Uhr. Zähle mit, ob auch wirklich sechzig Sekunden in einer Minute verstreichen, tick, tick, tick.
Dann wacht sie auf. Räkelt sich, atmet tief ein und streckt die Streichholzarme in die Luft.
„Morgen“, sage ich und sie lässt die Arme wieder fallen.
Mischa antwortet nicht, stattdessen setzt sie sich auf und sieht mich wieder mit ihren großen, dummen Rehaugen an. Vorwurfsvoll fast. Ich muss schlucken.
Tut mir leid, will ich sagen, doch es kommt mir nicht über die Lippen. Ich muss mich räuspern.
„Hm. Alles okay bei dir?“, frage ich und hoffe, dass sie das als Entschuldigung akzeptiert.
Und wenn mich Mischa in den wenigen Tagen, die ich hier bin, nicht schon genug überrascht hat, dann tut sie es jetzt, denn Mischa lächelt.
Und ich lächle zurück.
Ich liebe Sonntage. Die meisten, die ich kenne, tun das nicht, weil Sonntage so langweilig sind. In den Ferien versuche ich, das Zeitgefühl möglichst nie zu verlieren, um immer zu wissen, wann Sonntag ist. Heute ist Sonntag und ich liege am See, warte, bis der große gelbe Ball am Himmel seinen höchsten Stand erreicht hat. Perfekt.
Ich denke über Mischa nach, viel zu oft eigentlich. Würde sie mir nicht so unbegreiflich sein, wäre sie mir wohl egal; sie sollte mir egal sein. Ihr Vater ist ein Bastard. Ich frage mich, ob sie das weiß. Weshalb weint sie ständig?
Etwas schiebt sich vor die Sonne, ich öffne die Augen; die Welt ist grün. Da steht Mischa über mir, ihr lockengerahmtes Gesicht schaut auf mich herab.
„Oh“, sage ich und sie hockt sich neben mich ins Gras. Ich schweige, denn ich habe das Gefühl, dass Mischa gar nicht wortfaul ist, sondern nur Bedeutungsvolles sagt und nur, wenn man sie lässt. Ich glaube, sie will etwas sagen, also lasse ich sie.
„Deine Tante mag ich.“
Ich nicke.
„Sie ist gut für Papa.“
Wie würde ich Erwin nennen, wenn er mein Vater wäre?
„Du solltest sie lassen.“
Ich schlucke. Und schon rappelt sie sich wieder auf und geht davon, aber nicht in Richtung Wohnung, sondern in die entgegengesetzte, weiter am Seeufer entlang.
„He, Mischa! Warte mal.“
Sie bleibt stehen und sieht zurück. Und jetzt beginne ich hektisch in meinen Gedanken zu kramen, was ich überhaupt will. Mich weiter unterhalten bestimmt nicht, ganz ausgeschlossen, was kann man mit einer wie Mischa machen?
„Ähm, hast du Lust zu baden?“ Ich könnte mich ohrfeigen.
Mischa zögert, dann schüttelt sie kaum merklich den Kopf, dreht sich wieder um und geht.
„Mist.“ Ich werfe einen Stein ins Wasser.
Ich verbringe den ganzen Tag am See, oder versuche es wenigstens. Bis dann mein Magen unüberhörbar knurrt und ich vor Hunger schon zittere. Ich stehe auf und gehe hoch in die Wohnung, meine Tante ist nicht da, nur Erwin werkelt in der Küche. Wo sie sei, frage ich möglichst unhöflich und er sagt: „Unten am See, Liebes.“ Das hätte ich gesehen, antworte ich. Dann wisse er es nicht.
Er sagt das alles, als wäre gestern nichts passiert, und dafür hasse ich ihn noch mehr. Er tut, als wäre er nicht nachtragend, oder auch, als könne man sowieso nicht ernstnehmen, was ich sage. Wieso schreit er mich nicht an, wieso ist er nicht wenigstens kurz angebunden, wieso kann er mir keine Gelegenheit liefern, mich mit ihm zu streiten?
„Ich geh zu Tommy.“ Keine Ahnung, warum ich ihm das mitteile.
„Hast du keinen Hunger, Süße?“
„Nein.“
Die Tür fällt hinter mir ins Schloss.
Überraschenderweise öffnet meine Tante Tommys Tür, als ich bei ihm klingle. Noch nie habe ich es erlebt, dass sie zu ihm gegangen ist, er kam immer nur zu ihr. Und mir wird bewusst, dass ich noch nie in Tommys Wohnung war.
Sie ist ein bisschen kleiner als die meiner Tante. Das Wohnzimmer ist winzig, nur ein Regal, ein Fernseher und zwei Korbsessel passen hinein. Für mich holt Tommy noch einen Hocker.
„Hast du was zu essen?“, frage ich ihn. „Ich sterbe fast.“
„Wieso isst du nichts bei Erwin, es sind doch noch Pfannkuchen da“, sagt meine Tante noch, aber ich muss zum Glück nicht antworten, da ich Tommy schon in die Küche folge.
„Mann“, schmatze ich und ernte einen vorwurfsvollen Blick meiner Tante. „Du musst echt ...“, ich schlucke, „den Kerl loswerden. Erwin.“
Ich schaue zu Tommy, in der Hoffnung auf Unterstützung, aber er sieht nur zurück, da ist weder Zustimmung noch Widerspruch. „Tommy. Jetzt sei nicht immer so scheiß neutral.“ Er verdreht die Augen und ich wende mich wieder meiner Tante zu. „Echt jetzt.“
Sie schüttelt den Kopf, ein bisschen entnervt, und blickt in eine Zimmerecke.
„Mal ehrlich, was hast du denn von dem? Du bist ihm doch egal.“ Diesmal ein warnender Blick von Tommy, aber ich lasse mich nicht beirren. „Er kann gut von dir leben, das ist -“
„Ist gut jetzt“, zischt sie endlich, und ich nehme einen neuen Bissen von meinem Sandwich. „Ich weiß gar nicht, was dich das überhaupt angeht.“
„Oooh“, mache ich, aber um sie nicht weiter zu reizen, schlucke ich erstmal, bevor ich weiterrede. „Das geht mich ganz schön viel an. Ich verbringe erstens gern meine Ferien bei dir und zweitens -“
Sie schnaubt verächtlich. „Klar, es geht um dich, worum sonst.“
„Und zweitens“, sage ich etwas lauter, „liegt mir was daran, dass es dir gut geht.“
„Sag bloß.“
„Ja.“ Ich versuche einen vielsagenden Gesichtausdruck, was meine Tante wenigstens zum Lachen bringt.
„Sag auch mal was, Tommy.“ Ich stoße ihm mit dem Ellbogen in die Rippen, aber er winkt nur ab. „Feigling.“
„Hey, du kriegst von mir zu essen, also pass auf, was du sagst.“
Meine Tante sieht wieder entspannt aus, was die Sache einfacher macht.
„Angenommen“, sagt sie, „angenommen, ich schmeiße ihn raus. Was passiert mit Mischa?“
Ich muss schlucken. „Ach, ich bitte dich, willst du aus Mitleid mit diesem Dreckskerl zusammenbleiben? Das kannst du doch nicht machen.“
„Das Mädchen hat schon genug gelitten.“
„Oh Mann.“ Ich verdrehe die Augen. „Bist du Mutter Teresa oder was?“
Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Tommy grinst, aber meine Tante schüttelt den Kopf. „Wer hat dich nur erzogen, Lisa.“
Ich zucke die Schultern und stehe auf. „Ich geh wieder runter zum See. Kommt ihr mit? Ist schön draußen.“
Mischa sehe ich die nächsten Tage selten, meist läuft sie in Richtung See, aber ich treffe sie nie. Sie muss sich einen anderen Platz am Ufer suchen, aber ich folge ihr nicht. Ich glaube, darüber wäre sie nicht glücklich.
Die Stimmung bei meiner Tante ist angespannt, was gut ist, aber auch unangenehm, ich nehme mir also ein Beispiel an Mischa und verbringe die meiste Zeit außer Reichweite von Erwin. Oft kommt jetzt meine Tante zu mir, legt sich wortlos neben mich ins Gras. Dann beobachte ich sie, wie sie schweigt. Nach einer Weile sieht sie mich dann an, grinst und sagt: „Los, baden“, und wir schwimmen uns den Kopf frei.
Die Strategie habe ich jetzt gewechselt, ich verliere kein Wort mehr über Erwin. Was ich über ihn denke, weiß meine Tante, es macht keinen Sinn, weiter darauf herumzuhacken. Ich bin sicher, dass es in ihr arbeitet.
Erwin behandle ich eigentlich wie Luft, starre durch ihn hindurch, reagiere auf seine Fragen nur, wenn es sich nicht vermeiden lässt, und dann nur knapp. Er macht so weiter wie bisher. Kauft des öfteren Wein, wenn er denkt, irgendwas in Ordnung bringen zu müssen, aber ich trinke nichts mehr von dem, was er mir gibt. Einmal habe ich mich in seiner Gegenwart ans Küchenfenster gelehnt und ganz langsam das Glas ausgekippt. Er hat gelacht, der Idiot.
Es ist ein Sonntag, als meine Tante ausrastet. Und alle sind dabei: Erwin, Tommy, ich und sogar Mischa. Ihr Ausrasten funktioniert nicht wie bei anderen Menschen, sie schreit nicht unvermittelt herum, wirft nichts an die Wand. Zuerst ist sie ganz leise. Sagt: „Erwin, bitte geh jetzt.“
Ich weiß gar nicht, was der Auslöser war. Vielleicht gibt es auch keinen. Die Zahnräder in ihrem Kopf haben sich einfach zu Ende gedreht, die Lösung ist gefunden, eine andere gibt es nicht. Jetzt muss sie handeln, es ist das Einzige, was sie tun kann, um nicht stehenzubleiben. „Erwin, bitte geh jetzt.“ Sie sagt es leise, aber mit Nachdruck, ihr ganzer Körper bebt dabei. Ich stehe in der Tür und kann die Augen nicht von ihr lassen. Ich weiß, ich sollte mich verziehen, ihr diesen Moment lassen, aber ich kann mich nicht bewegen. Reiße die Augen weit auf, um jede Einzelheit in mich aufzusaugen.
Erwin sieht lächerlich aus, er hat noch einen Kochlöffel in der Hand; es zischt und ich rieche verbrannte Milch, die auf dem Herd überkocht. Niemand beachtet sie. Tommy steht an den Kühlschrank gelehnt und scheint sich an einen anderen Ort der Erde zu wünschen. Er schaut aus dem Fenster.
Dann wird meine Tante lauter. „Verstehst du mich nicht? Ich will, dass du gehst. Ich will dich nie wieder sehen.“
Und Erwin löst sich aus seiner Starre, dreht sich um und schaltet den Herd aus, nimmt den Topf von der heißen Platte. Blickt nicht zurück, drängt sich an mir vorbei und geht. Aus der Küche, aus der Wohnung, aus dem Haus.
Und ich drehe mich wieder um zu meiner Tante, die seltsam gefasst aussieht, die nicht weint. Ich schlucke, aber der Kloß in meinem Hals verschwindet nicht. Vorsichtig lächle ich ihr zu, aber sie erwidert es nicht.
Im Wohnzimmer steht Mischa. Sie steht an die Wand gelehnt und sieht mich aus ihren großen Augen an. Ihr Blick hat nichts Vorwurfsvolles, auch nichts Stumpfes, ich sehe nur Schmerz darin. Mischa weint und ich ertrage es nicht, verlasse das Zimmer, die Wohnung, das Haus; ich laufe zum See und bleibe stehen, gehe weiter, weiter, nicht in Richtung Haus, sondern in die entgegengesetzte, am Ufer entlang.
Ich hatte mir das einfacher vorgestellt.