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Waisenkinder der Themenwahl

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18.04.2002
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Waisenkinder der Themenwahl

Als ich mich vor einigen Jahren im Forum anmeldete, bedauerte gerade ein Moderator, dass in der Philosophierubrik so viel von „Labyrinthen und Spiegelbildern“ zu lesen sei. Diese Zeit habe ich nicht mehr miterlebt, aber doch die Suizidschwemme, die Chaotische-Geschichten-Periode, den Missbrauchsdauerbrenner (das ist natürlich etwas überspitzt dargestellt). Ich wundere mich – gibt es nicht auch andere ‚große Themen’ (ganz gleich für welche Rubrik)? Machen es sich Autoren mit der Themenwahl (oder ihrer Präsentation) zu leicht, weil hier mit großem Potential Reaktionen (Emotionen) geweckt werden können?
Was sind die Waisenkinder der möglichen Themen, die noch von keinem Autor aufgenommen worden, aber durchaus Zuwendung verdient hätten? Können bekannte Themen nicht auch einmal aus einer ungewöhnlichen Perspektive geschildert werden?
Vielleicht gelingt es während unserer Diskussion Anregungen zusammenzutragen, die das im Forum vertretene Spektrum an Themen noch bunter, vielseitiger machen, als es ist – im Sinne einer wesentlich weiseren Berücksichtigung der Waisenkinder-Themen.

Euer

Woltochinon

 
Zuletzt bearbeitet:

Darüber mache ich mir auch immer wieder mal Gedanken. Mir persönlich gefallen besonders die alltäglichen Geschichten, von denen ich noch was lernen kann, weil sie ein Thema behandeln, von dem ich wenig weiß.

So liest man z.B. wenige Texte, die in einem Arbeitsumfeld spielen, sehen wir mal von der Bürowelt und Krankenpflege ab. Es gibt sicher einige Berufe, von deren Existenz ich nichts weiß. Soviel Lebenszeit geht damit einher, da müsste doch Erzählstoff ohne Ende geboten sein, wenn darin noch ein passender Konflikt eingebettet wird.

Generationskonflikte werden auch selten aufgegriffen - es muss ja nicht nur das konservative Elternhaus und der verschrobene Opa sein, die agieren.

Politisch motivierte Geschichten sind auch in der Minderzahl - liegt es an der fehlenden Bildung oder am Desinteresse?

Dieses sind mal die ersten Gedanken dazu. Mir fällt sicher noch mehr ein.

Edit: Ich habe deine Frage nicht nur auf die Rubrik "Philosophisches" bezogen.
Wie hast du sie denn gemeint?

 

Hallo zusammen!

@ Woltochinon

Ich denke, das Problem ist eher, dass manche philosophische Themen eher derart aufbereitet werden, dass man sie in anderen Rubriken, etwa Gesellschaft, wiederfindet. Das gilt, wie ich mir vorstellen kann, besonders für ethische Fragestellungen.

Ansonsten ist die Rubrik "Philosophisches" natürlich prädestiniert für eine ganze Reihe von Themen. Viele wollen aber, denke ich, eine Botschaft rüberbringen, obwohl das gar nicht sein muss. Ebenso spannend kann das Aufwerfen von Fragen sein, deren Antworten nicht vorgekaut werden.

Bei den "Großen Themen", die Du ansprichst, sehe ich immer die Gefahr, dass eine dürftige Idee mit dem halben Arsch in eine letztendlich schlechte Geschichte gepresst wird. Nichts anderes ist ja bei einem Gros der Geschichten passiert, die dem von Dir monierten thematischen Overkill zuzuordnen sind.

Selbstmord, zum Beispiel, ist natürlich ein großes Thema...aber leider gibt es da einen Trend und Trends bringen es immer mit sich, dass die wirklich guten Elemente, die den Trend erst hervorgebracht haben, in einem Schwall an gut gemeinter Rotze untergehen.

Die Frage, welche Themen, die bislang kaum bis gar nicht behandelt wurden, man hervorholen könnte, kann ich nicht beantworten. Manche Themen sind bereits behandelt worden, wenn auch ihr Fokus nicht unbedingt auf ihnen lag. Das muss aber auch gar nicht sein, wie ich finde.

Hast Du denn noch irgendwelche Themen im Kopf, die man Deiner Meinung nach behandeln sollte?

Auf bald!

Theryn

 

Manchnmal habe ich das Gefühl, es wird, großes, weltfernes Drama inszeniert, um einer Geschichte Bedeutung und Tiefe aufzuzwingen. Die Themen, die Du nennst, Woltochin, gehören dazu. aber auch z.B. die Nazizeit als Setting, die jede banale LiebesSpionageKrimiPsychopathengeschichte adeln soll.

Dabei ist das Alltägliche, wenn man sehr genau hinsieht, voller Dramen und Abgründe, z.B. eine langjährige Beziehung, ein Leben mit einem "normalen" Verlust (Partner stirbt, Scheidung, Fehlgeburt etc.), die kleinen Boshaftigkeiten zwischen vermeintlichen Freunden, ein Leben mit Behinderung, etc.
Solche Geschichten, wenn sie gut erzählt sind, reizen mich viel mehr als das Stereotyp des vermeintlich Besonderen, das dann doch immer wieder aufs gleiche hinausläuft.

 
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Hallo bernadette,

ja, ich beziehe die Frage nicht nur auf die Philosophie-Rubrik.

Die Vernachlässigung von Arbeitswelten ist mir nicht aufgefallen, aber wenn ich deinen Hinweis so betrachte, fällt es mir auch auf, wie wenig über ungewöhnlichere Berufe geschrieben wird – und das in einem Land, in dem es so etwas wie ‚Arbeiterliteratur’ gab … Wahrscheinlich gibt es diesbezüglich starke Moden, wie auch in der Malerei, die mal mehr oder weniger stark (und demokratisch) am Einfachen, im Gegensatz zum Herrschaftlichen, interessiert war. Du hast recht, da liegt sicher viel Potential,

„Soviel Lebenszeit geht damit einher, da müsste doch Erzählstoff ohne Ende geboten sein, wenn darin noch ein passender Konflikt eingebettet wird.“

Bei dem politischen Aspekt könnte ich mir vorstellen, dass es da ein gewisses Frustpotential gibt, das Autoren von solchen Themen abhält. Vielleicht ist es auch leichter über so eine Thematik Reportagen usw. zu schreiben.


Hallo Are-Efen,

Themenwahl im Sinne eines Fundaments, „das sich später noch mal als Lebenshilfe entpuppen kann“ ist interessant, aber auch gefährlich – zumindest, wenn man damit in die Öffentlichkeit geht. Andererseits muss, glaube ich, ein Autor auch emotional hinter seinem Text (und somit Thema) stehen, sonst wird es wohl nichts. (Ebner-Eschenbach sagte: „Nur wer gelitten hat wie ein Hund, kann schreiben wie ein Gott.“ – Off topic, kann ich mir nicht verkneifen: Stoiber müsste göttlich schreiben …).

„dass kaum über den eigenen Tellerrand geblickt wird oder eher noch geblickt werden kann“

dann wäre die Frage, wie man das umgeht.

Hallo Theryn,


„eine Botschaft rüberbringen, obwohl das gar nicht sein muss. Ebenso spannend kann das Aufwerfen von Fragen sein, deren Antworten nicht vorgekaut werden.“

Genau – so in diese Richtung zielt meine Bemerkung, ob „bekannte Themen nicht auch einmal aus einer ungewöhnlichen Perspektive geschildert werden“ können, um zu Neuem zu kommen. So könnte, in deinem Sinne, ein Thema Fragen aufwerfen (wobei ich schon meine, dass es nicht irgendwelche sein sollen) anstatt definierte Antworten zu geben.

Das mit den ‚großen Themen’ sehe ich naturgemäß ähnlich (daher der Thread) – aber wie umgeht man das Problem. Die genannten Themen sind ja nicht an sich schlecht?

„Hast Du denn noch irgendwelche Themen im Kopf, die man Deiner Meinung nach behandeln sollte?“

Am liebsten wäre mir, wenn ich jetzt eine alles prinzipiell abdeckende Liste veröffentlichen könnte. So weit bin ich vielleicht nach dieser Diskussion ;)
Zwei Themenbereiche – nein einen Bereich und eine vermisste Eigenschaft kann ich nennen:
Einmal das Ringen des menschlichen Geistes nach Erkenntnis,
dann noch originelles Schreiben (was oft ‚nur’ bei Humor und Satire verlangt (oder erwartet?) wird.


Hallo Pardus,

„Manchnmal habe ich das Gefühl, es wird, großes, weltfernes Drama inszeniert, um einer Geschichte Bedeutung und Tiefe aufzuzwingen“

Ich weiß ja nicht, ob du das so meinst, mir kommt es manchmal so vor, als ob Autoren sich auf irgendein „Drama“ verlassen, wenn es um ihren Qualitätsanspruch geht. Immer wieder mal denke ich auch: Das ist doch jetzt gar nicht nötig, das sich jetzt da noch ein Kindesmissbrauch rausstellt, so als Emotionenhascherei. Anderseits sind Emotionen auch wichtig.

„Dabei ist das Alltägliche, wenn man sehr genau hinsieht, voller Dramen und Abgründe“

Ja, aber man wäre wieder bei den „Dramen“.


Danke an euch alle,

Woltochinon

 
Zuletzt bearbeitet:

„Dabei ist das Alltägliche, wenn man sehr genau hinsieht, voller Dramen und Abgründe“

Ja, aber man wäre wieder bei den „Dramen“.

Drama an sich finde ich nicht schlecht - wenn es eben nicht billiges Melodram ist, sondern das Besondere, das Erzählenswerte im Allgemeinen. Das kleine Moment, das Emotionen weckt (sowohl bei den Figuren als auch beim Leser), eine weitere Handlung in Gang bringt, einen Wendepunkt oder eine Charakterentwicklung initiiert.
Ich weiß ja nicht, ob du das so meinst, mir kommt es manchmal so vor, als ob Autoren sich auf irgendein „Drama“ verlassen, wenn es um ihren Qualitätsanspruch geht. Immer wieder mal denke ich auch: Das ist doch jetzt gar nicht nötig, das sich jetzt da noch dein Kindesmissbrauch rausstellt, so als Emotionenhascherei.
Genau so meinte ich es. Und natürlich sind Emotionen wichtig, aber, um einen Vergleich aus dem Film zu bemühen, ein leise zuckender Mundwinkel kann sehr viel mehr Trauer und Verzweiflung transportieren, als literweise Glyzerintränen.
Wenn z.B. ein Dreijähriger seiner Mutter etwas zeigen möchte, die aber die ganze Zeit damit beschäftigt ist, SMS zu tippen, ihr Kind nur immer wieder anfährt, es soll sie endlich in Ruhe lassen, bis das ganz still wird und sich nicht mehr mit der Außenwelt beschäftigt, die Mutter es aber nicht einmal bemerkt - solche Szenen gehen mir unter die Haut.

Edit: Bei den historischen Geschichten hätte ich gerne mal das eine oder andere aus der neueren deutschen Vergangenheit gelesen - 70er- oder 80er-Jahre, gerne auch Geshcichten, die in der DDR angesiedelt sind (sofern nicht sozialistische oder antisozialistische Klischees bedient werden). Irgendwie scheint die Zeit in Film und Literatur, wenn es um Historisches geht, 1945 stehen geblieben zu sein.
Oder eine Geschichte, die das Moderne im Historischen zeigt - schließlich wars zwischen Mittelalter und 19. Jh nicht nur schaurig-romantisch, da wurden auch Erfindungen gemacht, neue Länder entdeckt, politische Systeme auf den Kopf gestellt, die Wissenschaft hat mehrere Quantensprünge gemacht ...
Bei R/E: vielleicht mal die Konstellation alte Frau/junger Mann? Obwohl die sich ja zum neuen Lieblingskind romantischer Klischees entwickelt, wenn auch nicht gerade hier.

 

Hallo Pardus,

vielen Dank für deine Ausführungen!

Wahrscheinlich ergeben sich die erwähnten Probleme aus dem Material und dem Werkzeug (Thema und Umsetzung), die ein Autor verwendet: „Das kleine Moment, das Emotionen weckt“ lässt sich auch nur mit ‚feinem Werkzeug’, mit Zeit und Liebe zum Detail herausarbeiten. (Ab und zu ist es sicher auch angebracht holzschnittartig zu arbeiten).
Durch die Feinarbeit käme man dann auch zu dem, was du treffend mit dem Filmbeispiel schilderst.


„Irgendwie scheint die Zeit in Film und Literatur, wenn es um Historisches geht, 1945 stehen geblieben zu sein.“

Ein wichtiger Hinweis – wobei dieses Phänomen unter Umständen eine Folge der Bezugslosigkeit zur neueren Geschichte ist: Jedenfalls habe ich schon wiederholt gehört, dass Jugendliche den zweiten Weltkrieg mehrmals besprochen haben, aber nicht die Adenauerzeit oder gar die Hippiebewegung.


„Oder eine Geschichte, die das Moderne im Historischen zeigt - schließlich wars zwischen Mittelalter und 19. Jh nicht nur schaurig-romantisch, da wurden auch Erfindungen gemacht, neue Länder entdeckt, politische Systeme auf den Kopf gestellt, die Wissenschaft hat mehrere Quantensprünge gemacht …“

Die Naturwissenschaften sehe ich, nicht nur bezogen auf das Mittelalter, unterrepräsentiert, schließlich haben sie technische und geistige Systeme maßgeblich vorangetrieben. In diesem Zusammenhang finde ich auch interessant wie sich Wissenschaft und Politik gegenseitig beeinflussen, welche Ursache-Wirkungs-Beziehung bei verschiedenen Themen vorliegt (die wiederum ethische Probleme aufwerfen kann).


Vielleicht kann man noch einige entscheidende, aber weniger bewusste, historische Höhepunkte zusammentragen, natürlich nicht nur bis 1945 …

(Ich werde mal schaun, ist aber nicht ganz ‚mein’ Gebiet)

Woltochinon

 

Hallo zusammen!

@ Woltochinon

Die Naturwissenschaften sehe ich, nicht nur bezogen auf das Mittelalter, unterrepräsentiert, schließlich haben sie technische und geistige Systeme maßgeblich vorangetrieben. In diesem Zusammenhang finde ich auch interessant wie sich Wissenschaft und Politik gegenseitig beeinflussen, welche Ursache-Wirkungs-Beziehung bei verschiedenen Themen vorliegt (die wiederum ethische Probleme aufwerfen kann).

Ja, dass sie unterrepräsentiert sind, da stimme ich Dir zu. Aber auch hier kann man ganz schnell in eines von zwei Fahrwassern geraten:

1. Verteufelung der Entwicklung

2. Übertriebene Lobhudelei

Partei für eine der beiden Möglichkeiten zu ergreifen ist nicht schlecht, aber irgendwann hat man wieder dasselbe Problem, wie zuvor. Ein Trend etabliert sich und die guten Geschichten gehen im Schwall austauschbarer Derivate unter.

Eine Geschichte über einen schwedischen Naturforscher, der im ausgehenden 17. Jh. Kurator in der Royal Society in London wird, fällt mir in dem Zusammenhang als Positivbeispiel ein. Sie heißt "Die Kunst der Bestimmung" von Christine Wunnicke. Das kann ich nur empfehlen und ich glaube, Woltochinon, das könnte Dir gefallen.


Die Wahl des Themas scheint mir weniger das Problem zu sein, als der Umgang damit. Nichtsdestotrotz möchte ich doch gerne in den Reigen einstimmen und ein paar Themen in Form eines wahllosen Brainstormings vorschlagen:

- Menschwerdung: Eine gerechte und unvoreingenommene Betrachtung des Menschen, wie er sich entwickelt hat, ohne ihn in Anlehnung an Matrix als Virus oder Parasit zu bezeichnen.

- Mensch sein: Was ist das Wesen Mensch, was macht es aus? Wie schafft es der Mensch, sich selbst nicht immer gerecht zu werden? Welchen Wert hat ein Mensch für einen anderen?

Dazu zählen auch Themen wie: Gesellschaft kontra Individuum, Der Staat - "Das kälteste aller kalten Ungeheuer"

- Ethische Themen: Intelligente Auseinandersetzung mit Sterbehilfe, Schwangerschaftsabbruch oder Organspende.

Generell finde ich die Auseinandersetzung mit der Frage "Ist wirklich alles gut, was als gut wahrgenommen wird" sehr interessant.
Ich hab zum Beispiel mal eine wilde Diskussion geführt, als die Frage aufkam, ob Organspende als Standard etabliert werden solle und man einen Ausweis bei sich tragen muss, wenn man Nicht-Spender sein will.
Viele haben da angeführt "JA! Das ist doch was gutes! Wieviele Leben man da retten kann! Wer das nicht macht, ist ein egoistisches Schwein!"
Es war eine sehr heftige aber auch sehr interessante Diskussion. Was sind die möglichen Langzeitfolgen einer solchen vordergründig "guten" Entwicklung? Welche Formen des Missbrauchs können dadurch entstehen? Wie verändert sich das Menschenbild?

Auf der anderen Seite bedarf sicherlich auch das Thema "Gläserner Mensch" einer ausführlichen Auseinandersetzung. Gerne auch im Zusammenhang mit "Grenzen und Tabus".
Wenn man eine Grenze (z.B. die Privatssphäre) teilweise niederreißt, was passiert dann? Hier gibt es verschiedene Perspektiven und Möglichkeiten.

Medienkritik ist auch ein Thema, das mir sehr am Herzen liegt. Natürlich die Manipulation durch die Medien, aber auch die künstliche Erweiterung der Wahnehmung, die es uns erlaubt, für Menschen, die sehr weit weg sind, all unser Mitgefühl aufzubringen, während der Nachbar gegenüber vor Wochen unerkannt gestorben ist und sich kontinuierlich in den Teppichboden reinfrisst.

- Die jüngere Vergangenheit wurde angesprochen. Hier wären vielleicht folgende interessante Themen vorhanden:

1. Der Kalte Krieg: Die Welt in Angst...aber war die Welt damals nicht irgendwie einfacher?

2. Die 68er: Eine notwendige Revolution oder ein unehrlicher Selbstreinigungsprozess ohne Pointe?

3. Amokläufe: Was bringt einen Menschen dazu, durchzudrehen? Hier wäre eine differenzierte und tiefsinnige Auseinandersetzung mit dem Thema recht erfrischend.

4. Der Walk-Man: Musikalisch untermalte Isolation zum Mitnehmen?

5. Kommunikation im Internet: Seit der jungen Etablierung von Datenflatrates ein interessantes Thema. Die ersehnte Entmenschlichung im Netz. Die digitale Gesichtsmaske.

Hierzu gibt es übrigens eine sehr gute Kurzgeschichte von Paulo Moura: "Der virtuelle Seitensprung". Geschrieben in der Mitte der 90er Jahre, kann man heute sehr gut nachvollziehen, wie Recht Moura mit seiner Zukunftsvision teilweise hat.
Die Geschichte ist hier zu finden: http://www.donat-schmidt.de/files/downloads/deutsch/textsammlung/moura_virtuellerseitensprung.pdf
Da sie auch auf Spiegel Online erschienen ist, ist die Verlinkung, denke ich, auf den Text nicht problematisch.


Ein Prinzip, das ich immer wieder gut und interessant finde und weshalb ich auch die Genre Fantasy und Science-Fiction so sehr mag: Die Reflektion des Menschen, ohne ihn selbst zu bemühen.
Im Bereich der Fantasy und der Science-Fiction geschieht das meistens durch die Verwendung von Archetypen. Fremde Rassen, fremde Völker, anhand derer sich der Mensch reflektieren kann, die dennoch genug mit ihm gemeinsam haben (klar, sind ja Archetypen, die von einzelnen Aspekten des Menschen abgeleitet sind), dass er sich damit identifzieren kann.

Damit hängt natürlich auch die Suche des Menschen nach extraterrestrischem Leben zusammen, aber auch die Intelligenzforschung bei Tieren.
Für mich ist zum Beispiel die hypothetische Frage interessant, was wäre, wenn sich ein anderers Wesen statt des Affen zu einer höheren Lebensform weiterentwickelt hätte? Wären diese Wesen besser als wir? Welche Fragen würden sie sich stellen? Welche Wendungen hätten ihre Geschichten genommen?
Ich habe diesbezüglich noch ein Konzept auf meiner Platte. Ein philosophisches Gespräch im Nachtprogramm in einer Welt, in der sich Orkas zu höheren Lebewesen entwickelt haben.

Davon abgeleitet ist aber auch die Frage interessant, ob wir uns tatsächlich zu so viel höheren Wesen entwickelt haben, als die anderen Arten auf der Welt. Sind wir wirklich allein? Können wir uns wirklich nicht an Tieren orientieren und reflektieren? Gibt es keinen gemeinsamen Nenner? Kein nachvollziehbares Empfinden?

So, jetzt habe ich wieder einen halben Roman geschrieben. Ich hoffe, man kann damit was anfangen und ich bin Deiner Fragestellung gerecht geworden, Woltochinon.

Auf bald!

Theryn

 

Hallo Theryn,

„Aber auch hier kann man ganz schnell in eines von zwei Fahrwassern geraten:

1. Verteufelung der Entwicklung

2. Übertriebene Lobhudelei“


Diese ‚Wasserscheide’ sehe ich nicht als problematisch an, da eine gewisse Zuspitzung ein angebrachtes dramaturgisches Mittel sein kann. Man müsste einen konkreten Fall betrachten, ich kann mir gut vorstellen, dass ‚der dritte Weg’, die Ausgewogenheit, auch ziemlich ernüchternd sein kann (prinzipiell gibt es noch den ‚vierten Weg’, die Kombination/Gegenüberstellung einzelner Punkte).

Damit sich kein negativer „Trend“ ergibt, sind wieder Originalität und ungewohnte Sichtweise gefragt.


„Die Wahl des Themas scheint mir weniger das Problem zu sein, als der Umgang damit“

Die beiden Aspekte sind – nein, ich sage es nicht: untrennbar wie die beiden Seiten einer Medaille (hätte ich gesagt, wenn …)


Ich bedanke mich für deine umfassende und anregende Liste von wichtigen Themenbereichen. Insgesamt stellen sie den Menschen und sein Handeln in den Fokus, sein Schicksal (?) durch sein Tun, selbst bei bester Absicht, Schaden anzurichten. Darin sehe ich auch etwas Zeitgeist, diese selbstzerknirschende Reflexion des Menschen gab es wahrscheinlich schon immer, doch ich habe den Verdacht, dass die Moderne hier besonders ihre Spuren hinterlassen hat (auch unter dem Einfluss der Erstarkung der Naturwissenschaften). Jedenfalls eröffnen sich äußerst spannende Themen, mit großer Tragweite und vielerlei verwobenen Aspekten.

Zu der jüngeren Geschichte:

Es ist gut, wie bei deinen Anregungen, mal weg von der Beziehung Historie-Krieg zu kommen. Schon in der Schule hat mich gestört, wenn Geschichte als Abfolge von Herrschergeschlechtern und deren Kriege geschildert wurde (als wenn nie Menschen gelitten, geliebt und gedacht hätten). Der ’Krieg als Vater aller Dinge’ (Heraklit, denke ich) könnte in diesem Zusammenhang auch einmal hinterfragt werden.

Soziologische Aspekte der Geschichte, wie du sie erwähnst, sind auf alle Fälle interessant, so z.B. auch ganz moderne Phänomene wie ‚Urban Tribes’, Otaku, Hikikomori. (Wobei die Rolle der Medien bei der Entstehung solcher Strömungen zu beleuchten wäre).

„Ein Prinzip, das ich immer wieder gut und interessant finde und weshalb ich auch die Genre Fantasy und Science-Fiction so sehr mag: Die Reflektion des Menschen, ohne ihn selbst zu bemühen.“


Wie Asimov gezeigt hat, kann man da manches auch erfolgreich auf Roboter projizieren. Mir gefällt, dass man bei solchen Dingen schön sieht, wie begrenzt unsere Imagination ist (wenn man z.B. das Fremde an sich betrachtet).


„Davon abgeleitet ist aber auch die Frage interessant, ob wir uns tatsächlich zu so viel höheren Wesen entwickelt haben, als die anderen Arten auf der Welt“

Evolutionstisch gesehen ist ‚das Höhersein’, bezogen auf die Denkfähigkeit kein Kriterium: Eine Spezies muss nur erfolgreich (durch Anpassung) sein – lange den Planeten besiedeln, möglichst viele ökologische Nischen besetzen. (Ergibt auch 2 – 3 Themen ;))


Vielen Dank für den Buchtipp. Das Buch ist noch bei amazon zu haben, muss da demnächst sowieso etwas bestellen.


Wenn wir schon bei Buchtipps sind: Das Buch ‚Fabulous Science’ wirft einmal einen anderen Blick auf berühmte Wissenschaftler und ihr Werk. Ergibt vielleicht Schreibanregungen. (Fabulous i. S. von ‚fabulierend’, nicht ‚fabelhaft!’) Erschienen bei Oxford University Press.

Woltochinon

 

Hallo Wolto,

Die Themenwahl ist ja das Spermium des Geschichtenschreibens. Man hat Abermillionen Ideen, aber beim Akt kommt dann nur eine durch.

Bei mir ist das Thema immer Glückssache, entsteht beim Schreiben und ist auch oft Sache des Lesers. Geschichten, die sich auf eine klare Thematik begrenzen lassen, sind erstens kaum möglich, zweitens nicht akzeptabel.

Ich frage mich auch oft, was die 10634 Autoren sich denken, wenn sie die nächste langweilige KG über ihren Büroalltag schreiben. "Oh, ich schreibe jetzt mal etwas über das Leben im Büro, das hat es bestimmt noch nicht gegeben." Aber viele hier wollen sich ja nur mitteilen, fiktives Tagebuch verfassen und so.
Abgesehen davon sind so richtig heikle Themen schwer zu finden und werden von der Masse an Normalthemen überschwemmt. Aus einer interessanten Perspektive, ja, das ist dann der Königsweg.

Aber meistens, wenn ich eine Waisengeschichte auf der Straße finde, nehme ich sie mit nach Hause und füttere sie still und heimlich, bis sie groß und stark wird oder mir in den Armen stirbt.

viele Grüße

 

Hallo Aris,

„Die Themenwahl ist ja das Spermium des Geschichtenschreibens. Man hat Abermillionen Ideen, aber beim Akt kommt dann nur eine durch.“

„Aber meistens, wenn ich eine Waisengeschichte auf der Straße finde, nehme ich sie mit nach Hause und füttere sie still und heimlich, bis sie groß und stark wird oder mir in den Armen stirbt.“


Ach – das haste schön gesagt!


„Ich frage mich auch oft, was die 10634 Autoren sich denken, wenn sie die nächste langweilige KG über ihren Büroalltag schreiben.“

… oder über ihre Erlebnisse beim Aldi. Wobei dies trotzdem keine prinzipiell schlechten Themen sind, wenn man es schafft ihnen einmal eine ganz andere Perspektive abzugewinnen (der SF-Autor Andreas Eschbach meint, dies sei für ihn gerade ein Ansporn, sich eines leidlich bekannten Themas anzunehmen.

„Abgesehen davon sind so richtig heikle Themen schwer zu finden und werden von der Masse an Normalthemen überschwemmt.“

„heikel“ muss es ja gar nicht sein, aber so, dass man merkt ein Autor hat die Themensuche etwas ernster genommen, als der Durchschnitt. Woran merkt man die Ernsthaftigkeit? Vielleicht daran, dass nicht das geschildert wird, was man auf alle Fälle zu einem Aspekt erwartet (gewissermaßen den ersten Gedankenreflex).


Danke für deine Pflegebereitschaft …


Woltochinon

 

Wobei dies trotzdem keine prinzipiell schlechten Themen sind
Ich bezweifle, dass es prinzipiell schlechten Themen gibt. Höchstens gibt es Themen, die gerade in Mode sind, und andere, die ein wenig in den Hintergrund geraten sind oder noch auf ihre Chancen warten. Das ist so wie mit anderen Dingen im Leben. Nicht nur der Geschmack ändert sich, auch die Aufmerksamkeit einer Gesellschaft bleibt nicht ewig auf ein Thema fixiert – irgendwann ist es so ausgelutscht, dass es keiner mehr hören will.

Die Kunst des Schreibens besteht auch darin, die gesellschaftliche Relevanz eines Themas aufzuspüren, bevor dies andere tun. Allerdings darf man seiner Zeit nicht allzu weit voraus sein, denn dann verpufft die Wirkung im Nirgendwo, weil kaum jemand die Bedeutung des Textes erkennt oder erkennen kann.

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Dion,

klar – selbst die ‚Aldi-Themen’ sind nicht prinzipiell schlecht. Wobei man das Wort ‚schlecht’ eigentlich nicht gebrauchen kann, da es keine allgemeingültigen Kriterien für ‚gut’ und ‚schlecht’ gibt. Das hast du treffend ausgeführt.


„Die Kunst des Schreibens besteht auch darin, die gesellschaftliche Relevanz eines Themas aufzuspüren, bevor dies andere tun“

Ich hoffe, dass die Überlegungen hier im Thread mit dazu beitragen (auch wenn wir hier meistens Unterhaltungsliteratur schreiben), man sich mal umschaut Gedanken über Themen macht, die nicht so offensichtlich sind.

„Allerdings darf man seiner Zeit nicht allzu weit voraus sein, denn dann verpufft die Wirkung im Nirgendwo, weil kaum jemand die Bedeutung des Textes erkennt oder erkennen kann.“

Ja, wenn es tragisch zugeht, empfindet sich ein Autor dann als verkanntes Genie, wird posthum berühmt und weiß nix davon.
Besser ist es natürlich wenn es einem Denker gelingt „die gesellschaftliche Relevanz eines Themas“ nicht nur aufzuspüren, sondern sie zu initiieren.

Danke für deine prinzipiellen Ausführungen,

ein schönes Wochenende wünscht


Woltochinon

Nachtrag: In welchem Fall ist es einem Autor gelungen, ein Thema zu initiieren? Mir fällt im Moment 'Onkel Toms Hütte' ein (klar, die Thematik war bekannt, aber sie wurde gewissermaßen gebündelt und hat einen Bewußtseinsproze? ausgelöst).

 

Hallo,

ich musste eine Weile mit mir ringen, bevor ich hiezu was schreibe, was möglicherweise auch zu einer gewissen Irrelevanz meines Beitrags führt. Ich probier's aber trotzdem.

Generell finde ich die Idee des Threads gut und wichtig, befürchte aber, dass es unterm Strich nichts bringen wird. Weil selbst wenn ein gewisses Themen-Backlist erreicht wird, birgt sich darin die Gefahr, dass dann eine Menge Geschichten zu den angführten Themen passieren, was wiederum nur einen Trend darstellt. Und dem sollte, wenn ich das richtig verstanden habe, ja eigentlich gegengewirkt werden.

Stiefkinder ganz allgemein wird es immer geben. Ich gebe einEn VorposterIn Recht, der/die sagte, dass es so wirkt, weil viele philosophische Themen in anderen Rubriken sehr wohl abgehandelt werden.

Außerdem behaupte ich, dadurch, dass alle SchreiberInnen hier auch KonsumentInnen sind, sowieso zumeist nur Trends angenommen werden. Manches Experiment, manch Stiltrick mag hier kurzfristig ankommen, doch wenn es öfter auftritt, wird beinhart abgerechnet damit, da es dann doch nicht irgendwelchen angenehmen Konventionen folgt. Z.B. die immer wiederkehrenden Diskussionen über Suizidgeschichten - manchmal, so behaupte ich, hat der/die VerfasserIn dieser Geschichten gar nicht Selbstmord im Hinterkopf, es wird aber so verstanden und der/die Schuldige darf sich dann über die eine oder andere nicht wohlwollende Bemerkung freuen oder ärgern, je nachdem.

Darum, Fazit: Eine Themensammlung ist sicher nicht schlecht, wird aber nichts Wesentliches bewirken. Möglicherweise kommen jetzt wahrgenommene Stiefkinder zu Ehren, doch andere bisher häufigere Gesichtspunkte treten in den Hintergrund und werden dann, in ein zwei Jahren oder so, beklagt, dass hier nie jemand was zu Selbstmord oder Missbrauch schreibt.

lg
lev

 

Ich glaube auch nicht, dass es in der Regel die Themen an sich sind, die überstrapaziert wurden, sondern oft ist es der Blickwinkel.

Nicht die Aldi-KG oder IKEA ist ausgelutscht, sondern der Blickwinkel, immer aus Sicht des Kunden. Wie wär's mal mit der Sicht des Verkäufers oder der Verkäuferin.

Oder eine Amok-KG: Es sind immer die Schüler. Warum lässt man nicht mal einen Lehrer Amok laufen.

Außerdem ist ein Aspekt nicht außer Acht zu lassen: JEDEM Anfänger und auch den meisten Fortgeschrittenen rät man, sich möglichst Themen zu widmen, von denen man Ahnung hat. Das sind in der Regel die selbsterlebten Sachen, wie Trennungsschmerz, manchmal verbunden mit Selbstmordfantasien, Aldi und Ikea, Partys, Liebe, Sex und Drogen, Nachbarn, Familie und was weiß ich noch alles.

Innovative Themen bedürfen also nicht selten einer sauberen Recherche und vermutlich etwas mehr Können, als wir es hier in weiten Teilen zu bieten vermögen. Da geht man als Hobby-Autor doch lieber auf Nummer sicher und bleibt in einem halbwegs vertrauten Gebiet auf breiteten Wegen, als sich in eine literarische Steilwand zu trauen, in der man kaum Möglichkeiten zum Festhalten findet.

Dennoch schafft es ja hin und wieder doch jemand auf kg.de, mit ungewöhnlichen Themen oder ungewöhnlicher Technik zu überraschen. Und das sind ja auch die Freuden, die man sich hier als Goldgräber erhofft.

Und das ist eigentlich ein Spiegelbild des wirklichen Lebens.

Rick

 

Hallo Lev,

ich finde deinen Beitrag nicht irrelevant, sondern genauso berechtigt wie alle anderen. Bevor ich den Thread gepostet habe, habe ich schon überlegt, ob so eine Diskussion irgendein Ergebinis haben kann. Da die angesprochene Problematik, wie eingangs erwähnt, immer wieder auftaucht, ist es zumindest nicht schlecht sich das Angesprochene einmal bewusst zu machen. Einfach mal nicht den erstbesten Weg zu gehen, wenn man glaubt ein Thema gefunden zu haben, sondern etwas mehr Gedankenarbeit hineinzustecken (das gilt genauso für stilistische Aspekte usw.).

„Generell finde ich die Idee des Threads gut und wichtig, befürchte aber, dass es unterm Strich nichts bringen wird. Weil selbst wenn ein gewisses Themen-Backlist erreicht wird, birgt sich darin die Gefahr, dass dann eine Menge Geschichten zu den angführten Themen passieren, was wiederum nur einen Trend darstellt. Und dem sollte, wenn ich das richtig verstanden habe, ja eigentlich gegengewirkt werden.

Diese Gefahr sehe ich nicht – irgendwann verschwindet der Thread im Niemandsland der Autorendiskussionsliste. Nur wer wirklich Interesse an solchen schriftstellerischen Fragen hat wird dann in der Themenübersicht auf ihn stoßen und Anregungen daraus ziehen (und da gibt es inzwischen einiges). Wenn es so kommt, wie von dir beschrieben würde mir das noch mehr gefallen, immerhin gäbe es dann in der ‚Anfangsphase’ eines neuen Thementrends Geschichten mit unüblichen Themen (dann ist immer noch, wie schon einmal erwähnt, die Frage, ob es durch neue Sichtweisen zum Thema nicht trotzdem interessant bleibt).

„so behaupte ich, hat der/die VerfasserIn dieser Geschichten gar nicht Selbstmord im Hinterkopf, es wird aber so verstanden und der/die Schuldige darf sich dann über die eine oder andere nicht wohlwollende Bemerkung freuen oder ärgern, je nachdem.“

Nun gut – da haben wir im Forum die Möglichkeit des klärenden Gesprächs.


„doch andere bisher häufigere Gesichtspunkte treten in den Hintergrund und werden dann, in ein zwei Jahren oder so, beklagt, dass hier nie jemand was zu Selbstmord oder Missbrauch schreibt.“

Ein interessanter Hinweis, will aber ganz deutlich machen, dass es keine Themenverbote geben soll, eher den Ansporn es A. Eschbach (s. Nr. 12) gleichzutun, wenn man schon ein altbekanntes Thema wählt.


Woltochinon

 

Hallo Rick,


„Ich glaube auch nicht, dass es in der Regel die Themen an sich sind, die überstrapaziert wurden, sondern oft ist es der Blickwinkel.“

Das sehe ich, zum Teil auch so (siehe Eingangstext), man könnte (aber muss natürlich nicht) sich jetzt streiten, „was in der Regel bedeutet“.


„Nicht die Aldi-KG oder IKEA ist ausgelutscht, sondern der Blickwinkel, immer aus Sicht des Kunden. Wie wär's mal mit der Sicht des Verkäufers oder der Verkäuferin.

Oder eine Amok-KG: Es sind immer die Schüler. Warum lässt man nicht mal einen Lehrer Amok laufen.“

Genau das ist das Problem. Ich hatte ja erwähnt, mich noch einmal um vernachlässigte Geschichtsdaten zu kümmern, dabei sind mir ähnliche Aspekte aufgefallen, wie du sie erwähnst (danke für die Vorlage):

Die Varusschlacht wird nicht aus der Sicht der Römer dargestellt, wie wäre die Geschichte Europas verlaufen wenn die Mongolen ihre Eroberungen fortgesetzt hätten, Kolumbus’ Schiffe im Sturm untergegangen wären, die Chinesen ihre Öffnung dem Westen gegenüber nicht gestoppt hätten?
Inwieweit war die große Pest eine Chance? (Für die – glücklichen? – Überlebenden)
Wie kam es zur Aufklärung? (War sie ein ‚Selbstläufer’?).

(Weitere Beispiele sind willkommen …)


„Da geht man als Hobby-Autor doch lieber auf Nummer sicher und bleibt in einem halbwegs vertrauten Gebiet auf breiteten Wegen, als sich in eine literarische Steilwand zu trauen, in der man kaum Möglichkeiten zum Festhalten findet.“

So ist’s halt bequem – aber mancher Autor will sich doch auch an neue Ufer wagen, vermute ich.


„Dennoch schafft es ja hin und wieder doch jemand auf kg.de, mit ungewöhnlichen Themen oder ungewöhnlicher Technik zu überraschen. Und das sind ja auch die Freuden, die man sich hier als Goldgräber erhofft.“

Stimmt.


„Und das ist eigentlich ein Spiegelbild des wirklichen Lebens.“

Und das ist eigentlich ein Philosophie-Thema …

Danke,

Woltochinon

 

Hallo Woltochinon!

„Ich wundere mich – gibt es nicht auch andere ‚große Themen’ (ganz gleich für welche Rubrik)?“
Dazu kann ich vielleicht später etwas sagen. Da laufe ich noch meiner Erleuchtung hinterher.


„Können bekannte Themen nicht auch einmal aus einer ungewöhnlichen Perspektive geschildert werden?“
Da hab ich eine kleine Aufstellung gemacht. Such dir für deine Liste was raus.

Themen und Motive, welche eher selten vertreten sind:

Thema: Sucht
Motiv: Der Spieler.

Thema: Lebenswandel und -einstellung
Motiv: Der Landstreicher, Penner, Bettler, allgemein Außenseiter; jeweils aus Sicht der Figur. Wie sieht der Außenseiter die Gesellschaft? Ist er un- oder freiwillig in seiner Rolle?

Thema: Beziehungen
Motiv: Alter Mann verliebt sich in junge Frau (oder umgekehrt); aus Sicht des alten Mannes/der alten Frau (also unter Vermeidung des üblichen Gespötts).

Thema: Zukunftsängste
Motiv: Der Einzelkämpfer (gegen Missstände in der Gemeinde bis hin zum Privatkrieg gegen die Globalisierung ist alles drin!)

Motiv: Der irre Prophet, dessen Prophezeiung eintrifft. (Warum werten wir manchmal das offensichtlich Mögliche als unglaubwürdig?)

Thema: Vergangenheitsängste
Motiv: Der unerkannte Sünder/Täter. Die Furcht vor Demaskierung und wie sie auf sein alltägliches Leben in der Gegenwart wirkt.

Thema: Gut und Böse
Motiv: Der moralisch unantastbare (Straf-)Täter. (von Sterbehilfe bis zur Robin-Hood-ähnlichen Figur ist da alles drin!)

LG

Asterix

 

hallo Woltochinon,

die Themen, die wir alle ausblenden, finden wir in diesem Thread nicht, logisch. Was wir finden ist die Wahrnehmung bekannter, aber unterrepräsentierter Themen. Und ihr Gegenteil: die abgedroschenen Themen.
Hier wirken wieder einmal Gruppendynamik und Filterprozesse; das will ich mal nicht weiterführen.
Einige unterrepräsentierte Themen kann man direkt aus der List der Kategorien ableiten, die sicher auch etwas zum Thema aussagt, vielleicht auch manchmal einen Einfluß ausübt.
Wir haben "Gesellschaft" und "Romantik/Erotik", aber wo ist die "Beziehung"? Tiefschürfende Beziehungsgeschichten sind selten.
Die Rubrik "Philosophisches" leidet unter ihrem Anspruch: hätte ich mal eine wirklich philosophische Geschichte, würde ich sie bestimmt nicht dort posten.
Unter "Historik" wird fast immer im Rahmen des Bekannten eine Geschichte, ein Erlebnis, ein Detail beschrieben; das allgemein Akzeptierte wird nicht in Frage gestellt - zumindest selten.
Und damit bin ich bei dem Mangel, den ich als besonders gravierend empfinde: die politische Geschichte. Damit meine ich nicht nur die Themen mit Politik im Vordergrund, sondern auch die Geschichte aus dem Leben, die politische Einsichten vermittelt oder als Folge politischer Verhältnisse zu verstehen ist, wie z.B. im neueren schwedischen Krimi. Gerade die politische Kurzgeschichte hat in deutscher Sprache Blüten hervorgebracht (Böll; Borchert) und ist nun fast verschwunden. Dazu gehört auch ein wesentliches Element der politischen Geschichte: die wahrgenommene Wirklichkeit in Frage zu stellen oder um einen unbekannten Teil zu ergänzen. Dieses Element fehlt nicht nur hier im Forum, sondern in der gesamten heutigen Gesellschaft, von der das Forum ein Teil ist. Vor vierzig Jahren war das grundlegend anders...

Bevor ich nun zu persönlich auf meine Schreibmotivation eingehe, breche ich mal ab. Ich finde den Thread hilfreich, weil er uns vermitteln kann, wo wir alle etwas ausblenden oder einem Modetrend aufsitzen.

Gruß Set

 

Hallo Asterix,

vielen Dank für deine Mühe und deine Einfälle!

„Thema: Lebenswandel und -einstellung
Motiv: Der Landstreicher, Penner, Bettler, allgemein Außenseiter; jeweils aus Sicht der Figur. Wie sieht der Außenseiter die Gesellschaft? Ist er un- oder freiwillig in seiner Rolle?“

Das erinnert mich an ‚Historie von unten‘, den Versuch Geschichte nicht aus der Sicht der Herrschenden, sondern der (schmerzlich) Betroffenen zu schildern. Auf alle Fälle eine lohnende Sache …


„Motiv: Der irre Prophet, dessen Prophezeiung eintrifft. (Warum werten wir manchmal das offensichtlich Mögliche als unglaubwürdig?)“

Ich kann mich im Moment an keinen Text (auch außerhalb von Kg.de) erinnern, der so etwas beschreibt (abgesehen von der Bibel, da sind die Propheten aber nicht irre). Wahrscheinlich könnte das so in Richtung Logik/Wahrscheinlichkeit gehen oder intensiv die Gefühlebene von Menschen berühren.

„Vergangenheitsängste“ – scheinen wirklich seltener vorzukommen, als „Zukunftsängste“. Vielleicht gelten erstere eher als peinlich, weil erwartet wird, dass man sie bewältigt (weil’s doch vorbei ist).


L G,

Woltochinon

Hallo Setnemides,


„die Themen, die wir alle ausblenden, finden wir in diesem Thread nicht, logisch.“

Wenn ich das mal auf die Psyche bezogen interpretiere – meinst du damit, dass wir wirklich Neues nicht benennen können? (Wenn das so ist, ist die Frage, wie der Leser auf wirklich Neues reagieren würde).


„Wir haben "Gesellschaft" und "Romantik/Erotik", aber wo ist die "Beziehung"?

Das sehe ich nicht so problematisch: ‚Echte‘ Beziehungsgeschichten lassen sich doch auf Erotisches, Gesellschaftliches, Verbrecherisches (usw.) zurückführen. Also an der Rubrik liegt es meiner Ansicht nach nicht, wenn das Thema „Beziehung“ zu kurz kommt.

„Die Rubrik "Philosophisches" leidet unter ihrem Anspruch: hätte ich mal eine wirklich philosophische Geschichte, würde ich sie bestimmt nicht dort posten.“

… was ich aber bedauerlich fände.


„Und damit bin ich bei dem Mangel, den ich als besonders gravierend empfinde: die politische Geschichte. Damit meine ich nicht nur die Themen mit Politik im Vordergrund, sondern auch die Geschichte aus dem Leben, die politische Einsichten vermittelt oder als Folge poilitischer Verhältnisse zu verstehen ist … Dazu gehört auch ein wesentliches Element der politischen Geschichte: die wahrgenommene Wirklichkeit in Frage zu stellen oder um einen unbekannten Teil zu ergänzen. Dieses Element fehlt nicht nur hier im Forum, sondern in der gesamten heutigen Gesellschaft, von der das Forum ein Teil ist.“

Was du hier kritisierst (und andererseits als Themen-Anregung zu verstehen ist), kann man vielleicht mit der allgemeinen Politikverdrossenheit erklären. Im literarischen Bereich hat sich vielleicht auch eine Art Resignation breit gemacht. Auf welche Autoren bezieht sich dein Hinweis bezüglich schwedischer Kriminalliteratur?
Mit politischem Bezug schreibt auch Petros Markaris (‚Nachtfalter‘, Kommissar ‚Charitos‘), Unterhaltung und politisch orientierte Themenwahl ist, da stimme ich die zu, kein Widerspruch.

Danke für deine Anregungen,

Woltochinon

 

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