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Auf Augenhöhe

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14.08.2008
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Auf Augenhöhe

Immer wenn Kilian es eilig hatte, musste auf dem Sophienblatt Stau sein! Als hätten sich sämtliche Autofahrer der Kieler Förde gegen ihn verschworen, sich zwischen fünf und sechs vor dem Hauptbahnhof zu treffen!
Dabei musste er unbedingt pünktlich zum Training kommen, möglichst sogar früher da sein, und Sieger erwischen, wenn der noch in der Cafeteria sein Pils trank. Eins zwischen jedem Training, Kilian überschlug rasch, einschließlich der Meisterschaftsvorbereitungen und der Einzelstunden für besonders talentierte Athleten kam täglich eine ordentliche Menge zusammen. Immerhin: wenn der Trainer ein Holsten vor sich stehen hatte, war er zugänglich, die einzige Chance, ihn auf den Registrierungsantrag anzusprechen. Endlich ins Wettkampfregister des Deutschen Schwimmverbands eingetragen werden! Beim kommenden Contest der Kurzstreckenschwimmer nicht nur auf der Tribüne sitzen, sondern selbst dabei zu sein, mitten drin! Was spielte es schon für eine Rolle, dass er im Rollstuhl saß; Kirsten Bruhn schaffte den vorgeschriebenen Startsprung vom Block schließlich auch!
Nun galt es nur noch, den jähzornigen Dickopf zu überzeugen.
Sieger, ich habe meine Zeiten mit denen von der letzten Bezirksmeisterschaft verglichen, ich hätte Chancen,
nein -
Sieger, dir fehlen doch immer Staffelmeldungen für die Butterfly-Strecke, du weißt, ich habe mich seit März um fünf Sekunden verbessert …
nein -
Sieger, ich trainiere seit einigen Wochen mit Tillmann den Start, ich denke bis zum Sprintercup könnte ich …
Hätte, könnte, vielleicht, Worte gewichten und verwerfen, Dolmetscherkrankheit! Dabei war Sieger viel simpler gestrickt. Drei Pils und ein Korn, und er konnte sogar witzig sein.

Als Kilian auf den Parkplatz der Gaardener Schwimmhalle einbog, schlug es von der Nikolaikirche her bereits sechs. Sogar die chronisch verspätete Nina hatte es vor ihm geschafft, die unordentlich vollgestopfte, abgestoßene Ledersporttasche geschultert, hastete sie zum Eingang. Kilian stellte den Wagen hinter Tillmanns Hippiezitrone, wie er den gelben Käfer seines Freundes insgeheim nannte, auf den Behindertenparkplatz, und rollte so schnell wie möglich Nina hinterher.
Der Aufzug von der Eingangsebene zur Schwimmhalle im Obergeschoss bummelte, träge öffneten sich seine Türen, schlossen mit widerwillig puffendem Geräusch.
Tillmann kam ihm aus der Dusche entgegen, er spuckte in die Chlorbrille, verrieb den Speichel und pfriemelte die Gummibänder über die unter der gepuderten Badekappe verborgenen Rastas. Entsetzt starrte er seinen Freund an. „Kilian, jetzt erst? Mensch, mach hinne!“ Tillmann manövrierte Kilians verlängerten Körper mit wenigen Handgriffen um eine Ecke und über eine Schwelle, in jeder anderen Situation hätte Kilian sich diese Bevormutterung verbeten, doch diesmal war er dankbar.
Noch auf dem Weg zur Umkleidekabine zerrte er den Trainingsbeutel auf. Duschgel und Shampoo kullerten heraus, die Shampooflasche geöffnet und klebrig verschmiert. Er fluchte, pellte die Jeans über das Gesäß, der Unterbauch sprang ihm trommelhart gespannt entgegen. Was habe ich getrunken, überlegte er, während er hastig die Schleimspur wegwischte, die die ebenfalls shampoonierte Badehose auf den marmorglatten Schienbeinen hinterließ. Zwei Gläser Apfelschorle zum Mittagessen: eins zu viel, dazu der Kaffee mit dem potentiellen Großkunden für Russischübersetzungen. Er fand das Katheterset, die Schutzhülle war, von Shampoo durchweicht, eingerissen. Egal.
Auf den Toiletten suchte er die hinterste Kabine auf – er hasste es, sich vor aller Augen ins Urinal zu erleichtern - schob die Klobrille hoch und befreite den Penis aus der Badehose. Hastig öffnete er das Katheterset und ließ seinen Inhalt auf die Oberschenkel fallen.
Mit der Linken nahm er den Penis auf, desinfizierte die entblößte Eichel mit wenigen routinierten Bewegungen und injizierte das kühle Anästhetikum in die Harnröhre. Sein Glied brannte kurz und wurde schnell gefühllos. Penis. Glied. Ein zu penetrierendes anatomisches Objekt, mehr nicht, dachte er bitter, während er die Einwirkzeit abwartete, dann trennte er mit der Rechten die Folienkappe vom zwischen die Knie geklemmten Katheter ab, fasste das hintere Ende und schlang den PVC-Schlauch einmal um den Handrücken, ohne die entblößte Spitze zu berühren.
Mit der linken Hand hob er das anatomische Objekt an, zog mit Daumen und Zeigefinger die Eichel auseinander, dass sie sich wie ein erstauntes Auge öffnete, wollte mit der Rechten den Katheter einführen – und starrte fassungslos auf dessen schnabelförmig gekrümmte Spitze.
Hatte er etwa den falschen Karton umgetauscht? Und auch die dumme, hübsche Angestellte im Sanitätshaus hatte nicht gemerkt, dass sie nicht die irrtümlich gelieferten Tiemann-Katheter zurückgenommen, sondern eine Packung Nelaton-Katheter gegen eine andere ausgetauscht hatte.
Sie hatte ihn noch mit einem machen-Sie-mir-keine-Umstände-Lächeln überreden wollen, die Tiemanns zu behalten. „Die sind für Männer ohnehin besser geeignet. Sie können die Krümmung der hinteren Harnröhre leichter überwinden, ohne die Schleimhaut zu verletzen.“
Er kam mit Tiemann nicht zurecht, er wollte den durchgängig geraden Nelaton.
„Das ist alles eine Frage der Übung.“
Wie viele tausend Mal sollte er noch Harn ablassen, um selbst wissen zu dürfen, was er bevorzugte? Egal, jetzt musste es mit Dasistvielbesser gehen.
Kilian schob die kugelförmig verdickte Schnabelspitze in die gespreizte Harnröhrenmündung, hob den Penis an, bis er fast senkrecht nach oben stand und schob Zentimeter um Zentimeter der durchsichtigen Gummischlange in sich hinein. Hoffnungslos. Viel zu bald stieß er auf Widerstand, lang bevor er unterhalb des Schambeins angekommen war.
Zornig zog er den Schlauch wieder heraus, schleuderte sämtliches in seinem Schoß liegendes Material in den Müll und eilte ungeduscht in die Schwimmhalle. Jetzt konnte er nur noch hoffen, dass seine Blase entweder dicht hielt, bis er wieder zu Hause war, oder dass sie das Problem diskret unter Wasser löste.

Fast die gesamte Ü-20-Mastersgruppe war anwesend; Sieger gestattete nur in wenigen Ausnahmen unregelmäßige Teilnahme, und auch dann nur, wenn die Leistung stimmte. Ende der letzten Saison hatte er Cilia aus dem Team gedrängt, weil sie mehr Zeit und Energie darauf verwandte, ihren vom Konkurs bedrohten Copyshop zu retten, als ihre Form vom Vorjahr zu halten.
Zwischen Tillmann und Nina entdeckte Kilian eine unbekannte Frau, das Kinn vorgereckt, das Gesicht konzentriert auf Sieger gerichtet, die Hände im Schoß zusammengelegt, kümmerte sie sich nicht um das Geflachse und Geschnatter um sie herum.
„Ach, beehrt uns Herr Beck auch mal wieder! Und so überaus pünktlich!“, ätzte Sieger. „Soll ich vielleicht vor Dankbarkeit auf die Knie gehen, dass du überhaupt noch erscheinst?“
Sich zu entschuldigen oder rechtfertigen machte in der Regel alles noch schlimmer, so bemühte Kilian sich nur um ein möglichst ausdruckloses Gesicht, während er sich hastig am Ende der Bank aufstellte. Sieger räusperte sich kaum hörbar. Sofort wurde es still, nur die Pumpe schlürfte unbeeinduckt weiter Wasser vom Beckenrand.
„Nachdem wir jetzt vollzählig sind, kann ich also unser neues Mitglied vorstellen: Wiebke Heyck. Wiebke, möchtest du selbst etwas über dich sagen?“
Das war keine Frage, sondern eine Aufforderung. Das Mädchen mit der dunkelblauen Badekappe nickte leicht, Gelegenheit für Kilian, sie genauer zu betrachten.
Sie war groß, mindestens einsachtzig. Breite Schultern, ein mächtiger Brustkorb und ein leicht gewölbter Rücken verrieten intensives Training seit frühester Kindheit. Unter der feinen Haut zeichneten sich deutlich die Muskeln der Extremitäten ab, der Bizeps selbst bei gestreckt auf die Bank aufgestützten Armen prominent hervortretend, flache Brüste, so wenig wahrnehmbar, dass sie kaum ihre stromlinienförmige Silhouette störten, große, breite Hände.
„Wie Sieger schon sagte, heiße ich Wiebke. Ich bin neunzehn Jahre alt, Tierarzthelferin und stamme aus Malente in der holsteinischen Schweiz. Seit anderthalb Jahren bin ich auf der Suche nach einem neuen Verein, weil das Trainingsniveau dort nicht ausreichend für meine Ziele und Leistungen war. Ja, und jetzt bin ich da.“
Mit diesen Worten lächelte sie selbstbewusst in die Runde. Das perfekte Material, auf das Sieger bereits lange wartet, durchzuckte es Kilian. Groß, schlank, langgliedrig, muskulös, flach, diszipliniert, zielstrebig.
Wie zur Bestätigung fixierte Sieger einen nach dem anderen, die kleine Phuong, Felix, der unter seinem Blick nervös mit den Füßen zu scharren begann, Stefan, Nils und Mario, die mehr herumalberten als zuhörten, die kurvige Nina mit den kurzen Armen, Ellis, die rauchte, trank und sich von Fastfood ernährte, trotzdem eine der Schnellsten auf kurzen Strecken, aber wie lange noch? Tillmann, der sich weigerte, seine Rastas abzuschneiden und die Beine zu rasieren, obwohl es ihn wichtige Hundertstel Sekunden kostete. Kilian, dessen dünne, weiche Beine nur wenig Kraft entwickelten. Auf niemandem ruhte sein Blick so wohlgefällig wie auf dem Mädchen, das heute erst zu ihnen gestoßen war.
„Ihr nächstes Ziel sind die Landesmeisterschaften“, verkündete Sieger nicht ohne Stolz, als sei das sein Verdienst. „Und zwar eine Platzierung unter den ersten drei.“ Er machte eine bedeutungsschwangere Pause. „Deswegen ist sie zu uns gekommen. Nur dass euch nochmal klar ist, dass wir hier keine Spaßgesellschaft sind. Ab heute hängt der Brotkorb ein Stück höher, Ladies.“
Damit wandte er sich wieder an Wiebke. „Ich habe deinen alten Schwimmverein nochmals schriftlich zur Freigabe aufgefordert. Wenn die sich nicht bald melden, melde ich es dem Landesschwimmverband. Aber bis zum Sprintercup bist du im Lizenzregister auf jeden Fall mit dem Startrecht für den SV Hansa Kiel eingetragen. Ach, und was deinen Registrierungsantrag angeht, Kilian“, setzte er nach, während er die zwei Stoppuhren überprüfte und bei einer die Batterie auswechselte, „so einen Blödsinn weigere ich mich zu unterschreiben. Und jetzt ab ins Wasser mit euch, dass wir heute noch zu etwas kommen. Einschwimmen, zwanzig Bahnen Kraul, zehn Brust, zehn Butterfly.“

So einen Blödsinn, dachte Kilian. Klar, ich an seiner Stelle wäre derselben Meinung. Die Gruppe verteilte sich auf zwei Bahnen, einer nach dem anderen stieg auf den Startblock, krümmte sich zusammen, kippte die Hüfte nach vorn und schnellte los. Kilian tauchte ins Becken, das Wasser war kalt und er hatte keine Zeit gehabt, sich unter der Dusche daran zu gewöhnen. Hoffentlich krampften die Beine nicht.
Zwei, drei schnellere Züge, dann hatte er das Tempo der anderen aufgenommen und den Abstand auf Felix so weit verkürzt, dass er in seinen eigenen Rhythmus finden konnte.
Nach der halben Bahn kam Nina, die die Gruppe führte, auf der linken Längshälfte entgegen, hinter ihr Wiebke. Sie schwamm mindestens zwei Schläge langsamer als Nina, spaltete das Wasser vor sich fast ohne Blasen zu schlagen, und löste beim Rückzug der Arme einen gewaltigen Wirbel aus, der sie weit nach vorn katapultierte. Absolut perfekt.
Anschlag, Wende, drei schnellere Züge. Sieger kniete am Beckenrand, ein massiger, rotgesichtiger Fleischklotz.
„Mirko, die Arme höher! Du schiebst alles vor dir her wie so 'n Schneepflug! Mario, Beinschlag! Du hast doch welche, oder? Ellis, Arsch tiefer, Kopf hoch, du säufst noch ab!“
Kilian schlug unterm Startblock an, wartete auf einen Kommentar Siegers, doch der schrie schon: „Tillmann, Beine zusammen! Herrgott, du schwimmst wie eine Kröte!“
Dann eben nicht. Abstoß, drei schnelle Züge, er war wieder mitten im Becken. Tauchte tief ein und atmete nur noch bei jedem vierten Schlag, um möglichst wenig von Sieger zu hören. Ließ, sobald er die fünfhundert Meter Kraul absolviert hatte, die Hüfte über den Wasserwirbel wippen, den die angewinkelten Arme unter den Bauch schaufelten. Die Welle pflanzte sich bis in die Zehen fort, er spürte das erste Mal an diesem Tag seine Beine auf angenehme Weise, wie sie durchs Wasser flatterten und Vortrieb gaben. Auf der Nachbarbahn kam ihm Tillmann entgegen, sie tauchten gleichzeitig unter, Nacken gesenkt, Kopf zwischen den gestreckten Armen, Atemluft, die gleichzeitig in dicken Blasen nach oben perlte wie Sodawasser.

Gegen Ende des Trainings spannte Sieger eine leere Tabelle auf sein Klemmbrett.
„Alle an den Beckenrand, Paare bilden. Fünfzig Meter Butterfly, auf Zeit. Das werden eure Meldezeiten für den Sprintercup, also strengt euch an! Felix, wenn du bei Sprintercup dabei sein willst, erwarte ich mindestens 0:30,51. Und Ellis: fünf Kilo weniger! Das ist in drei Wochen zu schaffen. Tillmann, du schwimmst als erster gegen Wiebke, dann zum Schluss nochmal gegen Phuong. Ab jetzt, Tempo, Ladies!“
„Wir sind doch vierzehn“, protestierte Tillmann. „Es geht genau auf!“
„Wenn ich sage, du schwimmst zweimal, dann …“
Tillmann ließ ihn nicht zu Ende poltern. „Von wem willst du denn keine Zeit nehmen?“, fragte er, scheinbar ahnungslos, dabei wusste es jeder. Kilian wäre am liebsten im Boden versunken.
„Schon gut“, ging Wiebke dazwischen, die offensichtlich schnell verstand. „Ich schwimme gegen Kilian.“
„Du solltest jemand neben dir haben, der dir ein bisschen Druck machen kann“, brummte Sieger, „und nicht einen …“
„Ich mache mein eigenes Tempo.“
Sieger schnaubte etwas Unverständliches und scheuchte die Gruppe mit einer Handbewegung zu den Startblöcken. Wiebke stieg auf den Betonklotz, kurze, kräftige Zwillingsmuskeln an den Waden, feste Fesseln und hohe Riste, auf denen sich dicke Adern abzeichneten. Kilian wandte den Blick von ihr ab und konzentrierte sich auf das jenseitige Ende der Bahn.
„Auf die Plätze ...“ Nacken senken, tief einatmen, alle Luft aus den Lungen pressen, ein halber Atemzug.
„Fertig …“ Rücken gekrümmt, Bauchmuskeln angespannt, die Kraft oberhalb des Nabels zusammengeballt.
„Los!“
Hüfte und Schultern schnellten auseinander, der Rumpf maximal gestreckt, warf er die Arme nach vorn und traf mit den Fingerspitzen aufs Wasser. Es teilte sich leicht vor ihm, zog sich dezent zurück, perlte samtig um die dünnen Waden.
Anschlag, Abstoß. Kilian tauchte lang unter, Bruchteil eines Augenblicks Bewegungslosigkeit als die nach hinten gestreckten Arme Kopf und Brust aus dem Wasser katapultierten, er genoss den Moment. Wieder mit sichelförmig gekrümmten Rücken in sein Element tauchen, in dem er mit jedem auf Augenhöhe war, zu niemandem aufsehen musste wie ein kleines Kind. Anschlag. Er wäre gern weitergeschwommen.
Wiebke kletterte aus dem Wasser und ließ sich von Sieger ihre Zeit geben. Nina schob Kilian den Rollstuhl hin, strich mit blicklosem Lächeln das Handtuch glatt, sie maß Sieger mit Verachtung, bevor sie sich hinter die Chlorbrille zurückzog und startklar machten.

Nach dem Training blieben nur Kilian, Tillmann, Wiebke und der Trainer zurück.
„Das Krafttraining müssen wir dringend optimieren“, sagte Sieger zu Wiebke. „Hier, der Trizeps, da ist noch viel mehr Potential drin. Und die Ausdauer, beim Einschwimmen bist du nach zwei Drittel einfach eingesackt ...“ Er beachtete Kilian nicht.
Tillmann bedeutete ihm, beiseite zu kommen. „Üben wir noch den Blockstart?“
Kilians Blick fiel auf den rauen, weiß gekachelten Quader, unter dem sich das Wasser zuckend beruhigte. Vor Sekunden noch aufgewühlt kochend, und jetzt schon wieder so unschuldig, nach erneuter Berührung verlangend, und zwischen ihm und der Schwerelosigkeit, rotgesichtig, stiernackig, Sieger.
„Heute nicht mehr“, nuschelte Kilian. „Ich muss noch mit ihm reden.“
„Wegen der Registrierung?“ Tillmann schnaubte zornig, dann flüsterte er: „Sieger ist ein Idiot!“
Kilian wollte protestieren, doch der Freund winkte ab.
„Jaja, er ist ein guter Trainer, er sieht übermüdet und besoffen Fehler, die andere nach drei Videoanalysen nicht bemerken. Mit einem großen Talent kann es bestimmt bis zur Deutschen Meisterschaft und weiter schaffen. Sieht so aus, als hätte er es gefunden.“
Wiebke nickte endgültig zu allem, was Sieger ihr empfahl, der kratzte sich am Bauch, am Kopf, und entließ sie mit kameradschaftlichem Klaps auf die Schulter.
„Du warst schneller als sie“, lachte Tillmann höhnisch. „Nur ein paar zehntel Sekunden, aber du hast vor ihr angeschlagen. Just think about it.“ Damit schulterte er seine Tasche und ließ Kilian mit dem Trainer allein.
Jetzt, hinter Siegers Rücken, bereit, ihn anzusprechen, machte die zum Platzen gespannte Blase sich wieder bemerkbar.
„Sieger“, er räusperte sich. „Nur um auf die Registrierung zurück zu kommen …“
„Vergiss es.“ Sieger stellte die Uhren zurück, sammelte die Listen ein und packte sie weg.
„Falls dir das DSV-Reglement nicht bekannt sein sollte: der Start beim Freistil-Brust-Schmetterlings- und Lagenschwimmen erfolgt vom Startblock. Auf Kommando des Starters auf die Plätze nehmen die Schwimmer sofort Starthaltung ein: mit mindestens einem Fuß am Rand des Startblocks, wo sie sich ruhig verhalten, bis das Signal zum Start erfolgt", zitierte er die Wettkampfbestimmungen fast wörtlich. "Mensch Kilian, du kommst doch nicht mal auf den Block hoch, und falls doch, fliegst du wieder runter, bevor der Kampfrichter piep sagen kann!“
Kilian musste sich räuspern, bevor der Satz über seine Lippen kam. „Bis zum Sprintercup schaffe ich das mit dem Blockstart. Und in Schleswig schwimmen wir auf der Fünfzig-Meter-Bahn, also verliere ich auch keine Zeit bei der Wende.“
Was glaubst du, wie die alle glotzen, ein Rolli macht 'nen Startsprung, mit diesen Worten stachelte Tillmann ihn immer an, wenn er kurz davor war, zu resignieren. Was Kirsten Bruhn kann, kannst du auch!
"Du?", stach Siegers Finger gegen Kilians Augen, kurz vor der Nase blieb er in der Luft stehen. "Vom Block? Das will ich sehen!" Er lachte laut auf, und legte die Mappe auf der Steinbank ab. Die Arme verschränkt baute er sich am Beckenrand auf. "Los, beweis es!"
Darauf war Kilian nicht vorbereitet gewesen. Verunsichert, Sieger nicht aus den Augen lassend, rollte er zur äußersten Bahn, stemmte sich im Rollstuhl hoch und rutschte auf den rauen Betonklotz. Der Stein schrammte unangenehm an den Oberschenkeln entlang, Tillmann hatte ihm immer ein Handtuch untergelegt, doch diese Blöße wollte Kilian sich vor Sieger nicht geben.
Er platzierte die Füße an der Vorderkante, stieß sich mit einer Hand hinten ab, während er sich mit der anderen nach vorn zog. Der Hintern hob sich schwerfällig und rutschte über die Waden nach oben.
Von da ab musste Tillmann ihm helfen: gegen die Knie drücken, dass Kilian nicht wieder einknickte und nach hinten wegsackte. Wenn er die Hände löste, ihm einen dezenten Stoß in die Lenden verpassen, im richtigen Moment den Arm vor den Knien wegziehen.
"Was ist, ich warte!", drängelte Sieger genervt.
Beim Sprintercup hast du auch keinen Starthelfer, ermahnte Kilian sich. Das ist deine Chance! Was Kirsten Bruhn kann, kannst du auch!
Er löste die hintere Hand, griff zur Vorderkante des Blocks um. Das Gewicht von Hüfte und Oberschenkeln drückte ihn in die Knie. Nicht einsacken! Er zog sich mit aller Kraft nach vorn und klatschte bäuchlings ins Waser, wo er sofort wie ein Stein versank.
"Bravo!", applaudierte Sieger zynisch. "Ich sehe, aus dir wird noch echt eine Medaillenhoffnung! Mein Gott Beck, wozu verschwende ich hier meine Zeit! Komm von mir aus weiter ins Training, wenn dein Orthopäde so viel Wert drauf legt, aber kein Wort mehr über Wettkämpfe!" Er wippte ungedulig auf den Zehenballen, während Kilian aus dem Becken kroch. "Sonst noch was, was du unbedingt mit mir besprechen musst?"
Ich habe noch drei Wochen Zeit, wollte Kilian ihm entgegenhalten. Schließlich war ich schneller als Wiebke. Doch er schüttelte nur den Kopf, stemmte sich in den Rollstuhl, den der Trainer mit der Fußspitze heranschob, und rollte rasch aus der Schwimmhalle, damit Sieger nicht mitbekam, wie ein heißes Rinnsal zwischen seinen Oberschenkeln hervorquoll und auf den Boden tropfte. Das nächste Mal, wenn er drei Pils intus hatte, dann konnte Sieger sogar witzig sein.

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Ein Copywrite zu dieser Geschichte gibt es auch: Auszeit von Makita

 

Als ich die Geschichte schrieb, hatte ich einen guten Grund, die Katheterszene mit Zähnen und Klauen zu verteidigen. Jetzt, mit einiger zeitlicher Distanz, bin ich mir nicht mehr sicher.
Lass sie drin. Unbedingt.

 

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