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Das Ende der Jugend
Ein lautes Tuten erfüllte den abgedunkelten Raum. Andreas Häusler stürzte durch die Tür in seine Praxis. Es war früh am Morgen und seine Sprechzeit hatte erst vor ein paar Sekunden begonnen. Er beugte sich über den Empfangstresen, fischte nach dem Hörer des Telefons und beendete so das aufdringliche Quäken.
„Praxis Doktor Häusler, was kann ich für sie tun?“
„Ich habe es wieder getan“, drang die unsicher klingende Stimme an sein Ohr. Andreas schaltete nicht sofort. Er war noch nicht ganz wach.
„Wer ist denn da?“
Im gleichen Moment wusste er jedoch wer dran war, ohne die Antwort zu hören. Es konnte nur Markus sein. „Kommen sie Doc. Sie kennen mich doch mittlerweile.“
Das war nur zu wahr. Andreas kannte den Patienten nicht nur, er ging ihm überhaupt nicht mehr aus dem Kopf.
„Entschuldigen sie, es ist noch früh. Was ist denn passiert?“
„Ich habe es wieder getan.“
„Sie haben ein Kind angesprochen?“
„Sie war zehn, ich hatte sie auf elf geschätzt. Mir haben ihre Beine gefallen.“
„Wir haben, soweit ich mich erinnern kann, abgesprochen, dass Sie den Bus benutzen. Wissen Sie noch warum?“
„Ja ... klar.“
„Und, was war der Grund für diese Absprache?“
„Weil der Bus meistens voll ist, und der Bahnhof oft leer.“
„Warum haben Sie sich nicht daran gehalten?“
„Ich wollte ja mit dem Bus fahren, aber sie ist die ganze Zeit vor mir gelaufen. Mir haben ihre Beine so gefallen.“
***
Später am gleichen Tag saß Andreas in seinem Büro und arbeitete am Computer. Er hielt einen Moment inne und rieb sich die Schläfen. Er sah abgespannt aus. Seine müden Augen starrten angestrengt auf den Bildschirm, der im dunklen Raum unangenehm grell leuchtete. Jemand klopfte an die Tür.
„Herein.“
Das hübsche Gesicht einer jungen Frau schob sich herein.
„Hey.“
Andreas lächelte erleichtert. Der einzige Anblick, der ihn immer glücklich machen konnte, war der seiner Frau Laura.
„Hey. Wie wars‘?
„Schön. Mama hat sich gefreut die Kinder mal wieder zu sehen. Sie meinte wir besuchen sie zu selten.“
„Ja, ich weiß. Aber Jan und Lisa haben auch nicht ständig Lust bis nach Ingolstadt zu fahren. Wir haben ihr schon so oft gesagt, sie sollte in die Nähe ziehen. Das wäre viel einfacher.“
„Du kennst sie doch, sie will eben nicht weg von zu Hause.“
„Ja ich weiß.“
Andreas erhob sich aus seinem Stuhl und umarmte seine Frau. Dann gab er ihr einen Kuss und flüsterte: „Schön, dass du wieder da bist.“
Laura wirkte ein wenig überrascht von so viel Zärtlichkeit, genoss es aber und legte den Kopf auf Andreas Schulter. „Ich bin auch froh wieder zu Hause zu sein.“
***
Andreas hatte es seit langer Zeit endlich geschafft, sich einen Abend für seine Familie freizuhalten. Er stand am Grill im Garten. Die Kinder Lisa und Jan spielten im hinteren Teil des Gartens. Besser gesagt: Lisa ärgerte ihren kleinen Bruder, bis dieser wütend nach seiner Mutter schrie. Doch die stand am Zaun und unterhielt sich mit einer Nachbarin.
„Lisa, jetzt hör doch auf. Ihr könnt euch schon mal die Hände wasche, es gibt sowieso gleich Essen.“
Dann wandte sie sich wieder der Nachbarin zu. Sie redeten sehr leise und Laura warf hin und wieder einer verstohlenen Blick in Andreas Richtung.
„Manchmal muss er eben mehr an sich selbst denken“, fuhr die Nachbarin fort. „Ich weiß ja, dass er nur helfen will. Aber du kannst mir doch nicht erzählen, dass du ein gutes Gefühl dabei hast, wenn dieser Typ dauernd in eurem Haus ist. Eure Kinder spielen sieht.“
Laura schwieg. Die Nachbarin hatte recht. Wenn sie könnte, würde sie Andreas verbieten diesen Mann jemals wieder in ihr Haus zu lassen. Aber sie konnte nicht. Sie wusste, wie wichtig ihm sein Beruf war und wie wichtig es ihm war, gerade den Problemfällen zu helfen. Denen, um die sich sonst niemand kümmern wollte.
„Natürlich ist mir nicht gerade wohl dabei. Aber ich vertraue Andi. Er würde unsere Kinder niemals gefährden.“
„Nicht bewusst. Aber wie soll er denn verhindern, dass dieser Mann sich eure Kinder merkt. Sie irgendwann vielleicht auf dem Schulweg abfängt. Andreas überwacht ihn ja nicht rund um die Uhr.“
In diesem Moment kam Andreas zu den beiden Frauen an den Zaun und die Nachbarin verstummte schnell.
„So, ich muss dann auch rein. Hat mich gefreut Laura. Du wirst schon wissen, was du tust.“
Mit diesen Worten verschwand sie eilig in ihrem Haus und Andreas sah ihr verdutzt nach.
„Sowas, wobei hab ich euch denn gestört?“
„Ach nichts.“
***
Das lautstarke Telefonat, das Andreas führte, konnte man durch die Praxistür noch im ganzen Erdgeschoss des Hauses hören. Laura warf aus der Küche immer wieder besorgte Blicke in die Richtung.
Andreas lief aufgebracht im Raum auf und ab. In einer Hand hielt er den Telefonhörer mit der anderen raufte er sich die Haare.
„Entweder, Sie befolgen die Ratschläge, die ich Ihnen gebe, oder ich muss Sie unter formelle Beobachtung stellen.“
„Ich bemühe mich ja.“
„Sie sind wieder mit der Bahn gefahren.“
„Es wird nicht wieder ...“
„Ach, hören Sie doch auf. Es wird nicht wieder vorkommen. Wie oft habe ich das gehört. Seien Sie doch froh, dass der Staat solche Menschen wie Sie noch fördert. Ich könnte auch Besseres mit meiner Zeit anfangen.“
„Ich will doch bloß ...“
„Sie sollten sich endlich einmal im Klaren darüber sein, dass Sie ein potentieller Straftäter sind."
***
„Andi, ich muss mit dir reden.“
Die Kinder waren an diesem Samstag bei einem Geburtstag und Andreas freute sich über die ruhigen Stunden mit seiner Frau. Doch sie klang alles andere als glücklich.
„Was ist denn los?“
Sie hockte sich ihm gegenüber, im Schneidersitz auf die Couch. Ihr Gesicht wirkte älter als sonst. Als hätte sie einige Nächte schlecht geschlafen.
„Es geht um deinen Patienten.“
„Welchen?“
„Du weißt schon, den Pädophilen.“
Andreas seufzte. Er hatte befürchtet, dass dieses Thema früher oder später zur Sprache kommen würde. Laura redet einfach drauf los: „Versteh mich nicht falsch. Ich gebe dir keine Schuld. Ich weiß, dass du nur helfen willst. Aber ich weiß einfach nicht wieso. Ich muss dir ganz ehrlich sagen: mir wäre wohler bei dem Gedanken, jemanden wie ihn für immer wegzusperren.“
Andreas hob die Augenbrauen in Erstaunen. „Wirklich?“
„Ja wirklich.“
Sie seufzte ebenfalls und setzte neu an. „Ich weiß, du siehst immer das Beste in deinen Patienten. Und ich hab dich immer unterstützt. Aber niemand kann mir garantieren, dass sich deine Patienten wirklich ändern wollen.“
„Immerhin kam er ja zu mir um sich helfen zu lassen.“
„Ja schon. Aber trotzdem: das ist mir zu wenig! Und wenn er erstmal ein Kind vergewaltigt hat, ist es doch zu spät.“
Laura war aufgestanden. Andreas griff nach ihrer Hand und versuchte sie zu beruhigen. Doch sie hatte zu lange geschwiegen. Sie musste ihm endlich ihr Herz ausschütten.
„Ich will diesen Menschen einfach nicht mehr in meinem Haus haben! Tür an Tür mit unseren Kindern. Wer weiß, wie genau er Lisa jeden Tag ansieht. Wer weiß, ob er schon längst ihren Schulweg kennt und weiß wo er sie abfangen kann!“
Eine Träne lief Laura über die Wange. Andreas senkte demütig den Kopf. „Was soll ich denn tun?“
„Ich weiß es doch auch nicht!“
„Wenn ich ihn nicht behandele…Ich würde mir nie verzeihen, wenn ihm ein Kind zum Opfer fällt, nur weil ich ihn als Patienten abgelehnt habe.“
„Aber es sind unsere Kinder! Manchmal musst du einfach an dich und deine Familie denken!“
In diesem Moment ertönte das Telefon aus der Praxis. Laura funkelte wütend die Tür an. „Heute ist Wochenende, verdammt!“
„Ich muss da rangehen.“ Andreas sprang auf und schloss eilig die Tür auf.
„Na toll, und wiedermal bin ich nicht so wichtig, wie irgendein Patient!“
„Laura, versteh doch: Vielleicht ist es ein Notfall.“
Er hatte das Telefon erreicht und den Hörer abgehoben.
„Doc, können wir reden?“
„Und deine eigene Familie darf nie ein Notfall sein!“, rief Laura wütend aus dem Nebenzimmer.
Andreas versuchte schuldbewusst Markus am Telefon wieder abzuwimmeln. Er hatte jetzt wirklich Wichtigeres zu klären. „Ich habe jetzt keine Zeit für Sie. Ihr Termin ist am Montag. Ich bin nicht Ihr persönlicher Seelsorger.“
„Aber ...“
„Halten Sie sich an die Regeln und es ist gut.“
„Ich bin gerade ziemlich beschissen ...“
„Ihnen noch einen schönen Samstag.“
***
Am frühen Morgen standen zwei Männer in Uniform vor Andreas Haus. Er öffnete ihnen und bat sie herein. „Wie kann ich ihnen helfen? Ist etwas passiert?“
Einer der beiden Polizisten hatte einen Notizblock gezückt und sah Andreas erwartungsvoll an.
„Sie sind der behandelnde Arzt von Markus Schleier, richtig?“
Andreas Bauch verkrampfte sich. „Ja der bin ich.“
Die beiden Beamten sahen aus, als hätten sie heute etwas Verdorbenes zum Frühstück gegessen.
„Wann hatten sie das letzte Mal Kontakt zu Herrn Schleier?“
„Gestern Nachmittag. Wieso?“ Andreas konnte sich die Frage selbst beantworten und doch hoffte er, noch überrascht zu werden.
„Nun, es gab da einen Vorfall, gestern Abend. Sagt ihnen der Name Tina Seifert etwas?“
Der Beamte hielt Andreas ein Foto hin. Ein junges Mädchen mit einem verschmitzten Lächeln. Andreas schluckte hart. Er wusste, dass er versagt hatte. Er war schuld, er allein hätte die Chance gehabt dieses Unglück zu verhindern. Das würde er sich nie verzeihen!