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Den falschen Mund
Ich war nachgerückt. Saß wie jeden Samstag, wenn die Größeren ein Spiel hatten, auf einer Bank am Rand der Halle und sah zu, wie sich Jana versprang und irgendetwas brach. Sie hielt sich den Fuß und schrie; heulte wie ein Mädchen - trotz Titten. Ich lächelte, obwohl ich in diesem Moment noch nicht wusste, dass ich an ihrer Stelle ins Trainingslager fahren würde.
„Darfst du überhaupt schon Bier trinken?“, fragte Simone und alle am Tisch lachten. Ich kannte ihre Namen, nach der ersten gemeinsamen Dusche auch ein paar Brustwarzen und Intimpiercings, aber wer sie waren und wie sie waren, wusste ich nicht. Mit der A-Jugend hatte ich fast nichts zu tun. Und mit den Jungs sowieso nicht. Die saßen aber auch da und lachten. Als ich Milan das Bier unter seinem Flaschenöffner wegzog und es an der Tischkante öffnete, wurden sie still und wollten wissen, wer ich bin. Mehr als mein Name interessierte sie jedoch nicht. Also schaute ich den Größeren zu, wie letzten Samstag, und die Samstage davor. Nur spielten sie hier nicht Handball. Simone saß neben Tom, kraulte seinen Nacken und trank ab und zu aus seiner Flasche. Wenn sie sich an seinen Oberarm schmiegte, stand er auf und holte sich ein neues Bier. Ich schaute ein bisschen zu oft zu ihm und nachdem immer mehr gegangen waren, fragte er mich, ob ich mich nicht zu ihnen setzen möchte.
„Wie alt bist du eigentlich?“, fragte er.
„Alt genug.“
„Alt genug für was?“
„Für alles“, sagte ich. Er nickte und sprach wieder mit den anderen. Ich fühlte mich wie eine Auswechselspielerin, die niemals eingewechselt werden würde; die dazugehörte, aber nicht mitmachte. Als er Simone küsste und mich dabei anschaute, verließ ich die Runde. Zusammen mit Sofie. Mit der teilte ich mir ein Doppelzimmer. Später kam Lisa dazu, weil Simone mit Tom allein sein wollte. Sie legte sich zu mir ins Bett und ich fühlte mich zurückversetzt in eine Zeit, als Freundinnen bei mir übernachteten und wir nicht schliefen, sondern über Mädchensachen sprachen, Küssen übten und ein bisschen an uns herumspielten.
„Wie findest du Tom?“, fragte sie.
„Ganz okay.“
„Schlag dir den gleich aus dem Kopf!“
„Er hat doch eine Freundin.“
„Nein.“ Lisa grinste. „Tom hat keine Freundin.“
Am nächsten Tag war Lisa weg, auch Sofie. Ich musste nicht lange suchen, fand sie bei Simone. Die heulte wie Jana, nur hielt sie sich nicht den Fuß, sondern das Gesicht.
„Warum macht er das mit mir?“, schluchzte sie.
„Ich habe es dir ja gleich gesagt: Wenn du mit ihm schläfst, ist es vorbei.“
„Aber das mit uns ist was Besonderes.“
„Nur weil er das sagt, ist es das nicht.“
„Wie er mich geküsst hat. Mit geschlossenen Augen.“
Träum weiter, dachte ich. Vielleicht laut. Jedenfalls bemerkte sie mich und schrie, ich solle mich verpissen.
„Schicker Pyjama!“ Ich drehte mich um. Tom und ein paar andere Handballspieler standen in Badehosen vor mir, einer hatte einen Ball in der Hand. „Was hältst du davon, wenn du aus deinem hübschen Nachthemdchen schlüpfst und mit uns zum See gehst?“ Ob er noch nach ihr riecht? Ich habe es dir ja gleich gesagt. Verpiss dich! „Warum nicht?“, sagte ich und wurde eine Viertelstunde später von Tom unter Wasser getaucht. Er bringt dich um, dachte ich. Die Vorstellung, wie er über mir kniet und seine Lippen auf meine presst; mir Atem gibt – mein Atem ist. Nach dem Auftauchen spuckte ich ihm Wasser ins Gesicht. „Ist nicht bald Training?“, fragte jemand und die anderen schwammen mit einem „Ach ja!“ ans Ufer, schnappten sich ihr Handtuch und gingen zu der Anlage. Tom blieb mit mir im Wasser.
„Gibt das nicht Ärger?“
„Ich fahre heute Abend sowieso schon wieder“, sagte er.
„Warum?“ Und da sprach ich das erste Mal mit der Stille.
Danach legten wir uns ins Gras, das Quietschen von Turnschuhen und die Schreie aus der Halle im Hintergrund. Tom zog eine Zigarettenschachtel aus seiner Badehose. Aus der triefenden und zerschrumpften Packung fischte er eine Zigarette. Auch sie tropfte. Er versuchte, sie anzuzünden.
„Ich glaube, die ist tot.“
„Und jetzt?“ Die nasse Kippe zwischen den Lippen.
„Du könntest mich küssen.“ Tom schaute mich mit einem Hast-du-das-gerade-echt-gesagt-Blick an. Dann setze er sich auf und tat so, als würde er rauchen. Stieß statt Rauch irgendetwas Unsichtbares aus, das sich anhörte wie: „Ja, könnte ich machen.“
Am Abend war er weg. Hatte sich aus dem Moment geschlichen und mich ungeküsst zurückgelassen. „Wo warst du heute?“, fragte mich Simone. „Mit Tom am See.“ Sie wusste es ohnehin, konnte aber nichts Kluges darauf antworten, weil sie mit einer Lüge gerechnet hatte. Also blieb es bei einem „Aha“ und einem Gesicht, das man hat, wenn man Tränen zurückhält. Später sprach sie mit dem Trainer. Am nächsten Tag fuhr ich nach Hause. „Richte Jana einen schönen Gruß aus.“ Weil ich für diese Woche von der Schule befreit war und mir das böse Lächeln wegen Jana nicht aus dem Kopf ging, besuchte ich sie ein paar Tage später im Krankenhaus. Sie war in einem Zweibettzimmer, aber alleine. Über dem anderen Bett war eine Folie gespannt.
„Wie geht es dir?“
„Beschissen. Kann erst wieder in zwei Monaten trainieren.“
„Hm.“
„Durftest du nicht statt mir ins Trainingslager?“
Ich schüttelte den Kopf, betrachtete die Blumen neben ihrem Bett und die vielen Genesungskarten. Als Jana auf die Toilette humpelte, nahm ich mir einen Schokoriegel aus dem Haufen Süßigkeiten und las die Karten. Gute Besserung wünscht dir die K13. Alles Gute, es grüßt dich der HSV Hamburg. Werd wieder füßig – dein lieber Papa. Eine las ich mehrmals; solange, bis Jana zurückkam und sie mir aus der Hand riss. Miss you, dein Tom.
Ich wollte trinken, ich wollte tanzen, notfalls auch begrabscht werden. Nur dieses Bild, wie Tom den falschen Mund küsste, wollte ich nicht. Mit ein paar Mädels ging ich auf irgendeine Hausparty, jemand feierte Geburtstag, „Schön für dich, wo ist der Wodka?“ Ich trank und tanzte, hin und wieder spürte ich eine fremde Berührung. Das Bild war am Verblassen, da verwandelte es sich in einen Film: Tom festgesaugt an den Lippen einer Rothaarigen, seine Hand unter ihrem Top. Ich stolperte in seinen Blick. Als er mich erkannte, flüsterte er ihr etwas ins Haar und ging auf mich zu. „Ich dachte, du bist bei deiner Mutter.“
„War ich auch. Aber heute hat mein Bruder Geburtstag.“
„Du lügst!“
„Nein, ich war dabei.“
„Wer ist die Rothaarige?“
„Isabell.“
„Aha.“ Und dann ein Simonegesicht auf meinem. Er zerküsste es, nahm mich bei der Hand und zog mich in ein Zimmer, in dem zwei Punks kifften und einem Mädchen, das regungslos auf dem Boden lag, Schweinerein auf den Körper malten. Unsere Küsse verschwammen. Ein Kuss folgte nicht dem vorherigen, er begann mitten in ihm und endete nicht, wenn ein neuer dazu kam.
Zu mir, zu dir, eigentlich egal. Wir saßen in der Straßenbahn und ich wusste nicht, wohin wir fuhren. Er schaute aus dem Fenster in die Dunkelheit. Ich starrte in sein Spiegelbild. Und in die Stille. Ich fragte sie, ob er etwas für mich tun würde. Sie wollte wissen, was.
Ob er Ich liebe dich sagen würde.
Ob das alles sei?
Würde er es auch so meinen?
Ob das nun alles sei?
Nein, sagte ich, er darf es keiner anderen sagen. Nur mir.
Der Bus hielt, die Straßenlampe an der Haltestelle zerriss sein Spiegelbild. Die Türen öffneten sich. Die Stille verschwand. Ohne mich zu verabschieden, folgte ich ihr. Er schaute uns nicht nach.
Nach dem Duschen wusste ich nur noch, dass wir uns geküsst hatten. Wie es sich angefühlt hatte, konnte ich nicht sagen. Kein Filmriss, aber der Verlust jener Spur, die Gefühle und Empfindungen enthielt. Kurz vor dem Einschlafen eine SMS: „Warum bist du abgehauen?“
Ich wusste nicht, welches Spiel wir spielten, aber wir spielten es. Wir trafen uns an einem See, der so aussah, wie der vom Trainingslager, nur kleiner und weniger tief; und Toms Zigarette qualmte. Wir hörten einander zu, auch wenn keiner von uns beiden etwas sagte. Wir küssten uns und ich konnte mich daran erinnern. Wie er auf meiner Unterlippe knabberte, ich mit der Zunge seine Zähne befühlte und den nassen Zigarettengeschmack in meinem Mund zergehen ließ, während er mich nie nur küsste, sondern immer irgendwo mit seinen Fingern auf meinem Körper herum spazierte; und mir die Stille durchs Haar strich.
„Ich hab Karten für das Konzert im Kunstschuppen nächstes Wochenende.“
„Da bin ich mit meinen Eltern im Skiurlaub.“
„Okay“, sagte er. Nur das.
Als ich vom Urlaub zurückkam – gebräunt und ein bisschen erkältet – kochten wir zusammen nach einem Rezept, das seine Oma unleserlichst auf die Rückseite eines Briefes geschrieben hatte. Er fragte mich, wie das Snowboarden war und ich ihn, wie ihm das Konzert gefiel.
„Warst du alleine dort?“
„Nein. Mit Jasmin.“ Nur ein Name. Ich fragte die Stille, warum er nicht log. Tom ist kein Lügner, sagte sie.
Das Essen schmeckte nach nichts. Ich wollte das missratene Gericht mit der großmütterlichen Schrift erklären und nahm den Brief; er war an seine Mutter adressiert. Als Tom bemerkte, dass ich ihn zu lesen begann, riss er ihn mir aus der Hand und sagte, dass mich das nichts anginge. „Ich weiß nichts von dir, Tom.“
Statt mir zu sagen, dass das nicht stimmte oder mir etwas von sich zu erzählen, nickte er. Nicht so, als wäre ihm das bewusst gewesen, schon so, als hätte ich ihm etwas Neues gesagt, aber er ließ die Stille reden und die sagte, dass man sich aus den Augen verliert, wenn man sich zu nah kommt.
„Würdest du mit mir schlafen, wenn ich dich meiner Mutter vorstelle?“, fragte er nachdem er mich zu meiner ersten Zigarette überredet hatte. „Vielleicht“, sagte ich, stieg in sein Auto und ließ mich nach Bremen fahren. In einer Straße, in der ausschließlich Einfamilienhäuser standen, hielt er an. „Welches ist es?“, fragte er mich. Ich sah mich um und deutete auf ein grün gestrichenes mit braunen Dachziegeln, vermutlich weil es anders war. „Falsch“, sagte er und führte mich zum richtigen. „Das ist ja langweilig“, sagte ich, aber er überhörte es. Als selbst nach mehrmaligen Klingeln keiner die Tür öffnete, begann Tom nach einem Schlüssel zu suchen. Unter dem Vorleger, in den Untersetzern leerer Blumentöpfe, sogar in einem Vogelhäuschen, das an der Wand befestigt war, sah er nach. „Sollen wir auf sie warten?“
„Sie wird nicht kommen.“ Dann nahm er einen Stein aus dem Garten und ging ums Haus, schlug ein Kellerfenster ein, trat den Rand mit dem Fuß nach innen und kletterte den Scherben hinterher. Ich hätte an seine Mutter denken müssen. Warum sie nicht kam. Warum er tat, was er tat. Aber in jenem Augenblick freute ich mich einfach darüber, dass er es für mich tat. Also schlüpfte ich ihm nach. „Tom?“ Er war nicht mehr im Keller. „Hier!“ Ich fand den Weg nach oben und sah ihn auf einem Sofa sitzen. Er wollte irgendetwas sagen. Vielleicht, dass er mich liebte, vielleicht, dass ihm das mit den anderen Mädchen leid tat, vielleicht auch, dass er mein Freund sein wollte oder etwas ganz anderes. Aber ich stürzte mich auf ihn, drückte meine Lippen auf seine und fing an, uns auszuziehen.
Nach dieser Nacht sah ich ihn lange Zeit nicht mehr. Ich rief ihn nicht an, schrieb ihm nicht und er tat dasselbe, nur störte es ihn nicht. Ein paar Tage vor dem Trainingslager meldete er sich. Er freue sich, mich wieder zu sehen und so. Wir trafen uns in der Stadt, stocherten in unseren Eisbechern, lachten und redeten über Volleyball. Jana lag nicht mehr im Krankenhaus, schon lange nicht mehr und der Trainer hatte nicht vergessen, dass er mich beim letzten Trainingslager heimgeschickt hatte, aber weil Simone wegen dem Studium nach Leipzig zog, durfte ich wieder mit. Bis auf eine Spielerin kannte ich alle. Lisa hatte sich übrigens das Intimpiercing entfernen lassen. Darüber sprechen wollte sie nicht, nur über die Neue. Soweit sie wusste, hieß sie Linda, kam aus einem Dorf in der Nähe von Bremen und beabsichtigte, nur wenige Wochen zu bleiben. Tom fragte sie, was sie hier mache. Ich kraulte seinen Nacken und trank den letzten Schluck aus seiner Flasche. Meinen Kopf lehnte ich an seine Schulter, bis er aufstand und ein neues Bier holte.
„Trinkst du gar kein Bier?“, fragte er Linda, die am anderen Ende des Tisches saß.
„Hab keins“, sagte sie.
„Blöd, oder?“ Tom grinste. Er schob das Bier in ihre Richtung, Sofie reichte es weiter, aber Linda konnte es nicht öffnen und betrachtete stumm die geschlossene Flasche. Danach küsste er mich und sagte: „Lass uns gehen.“ Ich blieb sitzen.
Am nächsten Morgen sah ich ihn mit Linda zum See gehen. „Tom“, schrie ich und beide drehten sich um. Ich wollte etwas Abschließendes sagen, nicht etwas, das sonderlich klug klang, sondern etwas, das ihn berührte. Stattdessen sagte ich: „Denk an die Zigaretten.“