Das klingt manchmal so, als hätte der Leser nur so-und-soviel Lesekapazität, die er sorgsam und bedächtig einsetzen müsse. Als müsse er zur Geschichte geschmeichelt, gezerrt, überzeugt oder überredet werden; am besten schonmal vorher, bitteschön, ein Belohnungsbonbon. Als sei Lesen bitterliche Arbeit, die sich lohnen müsse! In so einer ungnädigen Stimmung brauche ich doch überhaupt nicht damit anzufangen.
Es ist doch keine Anstrengung, mal schnell zwanzig, dreißig, fünfzig Sätze zu lesen. Wenn man nach dem ersten Satz aufhört, verpaßt man, selbst bei einer ganz kurzen Geschichte, mindestens 80% (Kopfrechnung ohne Gewähr).
Viel wichtiger ist doch, ob dieser Satz zu einer Geschichte passt und gehört, die einem dann als Ganzes aus diesen oder jenen mannigfachen, tagesformabhängigen, nur teilweise logischen, erklärbaren oder bewußten, hochkomplizierten oder platten Gründen gefällt oder nicht. (Aus Gründen kann auch ersetzt werden durch auf Arten.)
Eine Geschichte, deren erster Satz mir erstmal nicht gefiel (oder der mir bis zuletzt nicht gefällt), kann mich trotzdem begeistern. Es kann sogar ein besonderer Kick (im Nachhinein) sein, nach dem Lesen, völlig fertig, zu sagen: Boah, beim ersten Satz hatte ich noch gedacht ...
Viele tolle Geschichten fangen mit völlig unspektakulären Sätzen an, und ich hab auch schon tolle Anfänge gelesen, mit denen der Autor dann offenbar sein Pulver verschossen hatte, sodaß ich beim Weiterlesen das Gefühl hatte, auf eine Mogelpackung hereingefallen zu sein.
Musikstücke fangen nicht immer gleich mit allem an, was sie haben, sexy Zeitgenossen lernt man in ihren Klamotten kennen, ein guter DJ spielt nicht abends um neun für die ersten Bardümpler die fettesten Hits, ein Auto kennt man nicht, bevor man damit gefahren ist, und was man bei manchen Speisen alles anstellen muß, bevor man an das Leckere kommt, will ich gar nicht erörtern.
Klar gibt es haufenweise Geschichten, die schwach anfangen, stark nachlassen und versanden. Dann hat man halt eine schlechte Gschcihte gelesen. Kann man ja wieder vergessen.
Mir kommt es geizig und verschroben vor, das Weiterlesen vom ersten Satz abhängig zu machen und dann noch zu erörtern, wie ein solcher Satz zu sein habe. Das ist ein bißchen so, wie wenn Menschen, die lange Single sind, genau wissen, warum sie niemanden finden, weil sie ja solche Ansprüche haben, weil sie dies und jenes jetzt eben wissen und kennen und nie mehr machen werden, und wenn er nicht dies und das und auch noch gut gebaut ist, dann hat er sowieso keine Chance - und nachher verlieben sie sich plötzlich in irgendwen und sind gottfroh, daß sie den trotz aller Statistik noch erkannt haben.
Wie man nach einem Satz wieder mit Lesen aufhören kann, wenn mehr als einer dasteht und nicht gerade die Polizei die Tür aufbricht, die Milch anbrennt oder ein Kind aus dem Fenster fällt, ist mir übrigens auch technisch ein Rätsel. Ich müßte vor dem Hinsehen die nächsten zehn Sätze mit Klebeband abdecken oder so.