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Ich verlass mich auf dich
»Ich muss nochmal 'ne Stunde ins Büro, gehst du zum Bäcker und besorgst Brot für heute Abend?«
Laura nickte. »Ja«, sagte sie und lächelte. »Kein Problem. Geh ruhig, sonst verpasst du den Bus.«
»Alles klar, dann kaufst du das heute. Bis heute Abend, ja? Wenn was ist – ruf an!«
»Mach ich.«
»Ich liebe dich.«
»Ich liebe dich auch.«
Und damit war Hannes aus der Wohnung. Sie starrte die Tür noch eine Weile an, gemasertes Holz, verschiedene Brauntöne. Ein Türspion. Sie musste sich auf die Zehenspitzen stellen, wenn sie hindurchsehen wollte.
Draußen, im Gang der Wohnanlage, wurde es ruhig. Laura legte die Finger ineinander und begann, die weißen Knöchel zu massieren. In ihrer Brust wurde es eng. Heute würde sie Brot kaufen. Sie hatte es versprochen. Sie würde ihren Geldbeutel nehmen, hineinsehen, ob noch genug Geld vorhanden war – und sie war sicher, es würde reichen -, um dann in ihre Schuhe zu schlüpfen, den Schlüssel von der Kommode zu nehmen und leichtfüßig die Wohnung zu verlassen. Im Gang würde es nach Reinigungsmitteln riechen und die Tür der Wohnanlage würde quietschen, wenn sie sie aufdrückte. Der Bäcker war zwei Straßen weiter. Zwei Straßen nur. Dort würde sie sich an die Theke stellen, ein Brot verlangen, zahlen, nach Hause gehen. Vielleicht den Fernseher einschalten. Das Brot in die Küche legen. Die Beine auf den Couchtisch legen und auf Hannes warten.
Sie dachte an den Tag, an dem sie das letzte Mal durch diese Tür gegangen war und erinnerte sich an die drei Wochen andauernde, fiebrige Mandelentzündung letzten Winter. Hannes hatte es geschafft, sie dazu zu überreden, schließlich doch zum Arzt zu gehen, als er anbot, den Arzt nach Hause zu rufen. Sie konnte den Gedanken nicht ertragen, dass Fremde sie besuchten.
Laura drehte sich um und ging zum Fenster, blickte hinaus in den warmen Spätsommertag. Irgendwo spielten Kinder. Ein Mann führte seinen Hund spazieren. Laura legte ihren Zeigefinger an die Scheibe und fühlte den kühlen, glatten Widerstand. Wie eine Barriere aus Nichts, dachte sie. Man konnte alles sehen, was dahinter lag, aber man war getrennt davon. Geschützt. Sie hob den Blick und sah die Bäume im angrenzenden Park. Beobachtete, wie sich die Kronen im Wind sanft hin und her wiegten. Ihr Blick wanderte weiter zur Straße. Dort war der Bäcker.
Sie hatte Hannes im Internet kennengelernt, das war fünf Jahre her. Am Anfang konnte sie alles noch verheimlichen. Konnte erklären, warum sie so selten auf die Straße ging. Erfand Ausreden. Sonnenallergie. Heuschnupfen. Schämte sich dafür, dass sie nicht so unkompliziert war, wie Hannes es vielleicht gerne gehabt hätte. Dass sie diese Probleme hatte. Und obwohl er immer wieder beteuerte, dass ihm das alles nichts ausmache, so wusste Laura doch, dass er darunter litt. Vor allem, weil es schlimmer wurde, nachdem sie sich vertrauter wurden. Nachdem sie seine Besuche zulassen konnte. Er hatte ihr seine Hilfe angeboten. Es war so einfach, wenn man die Dinge für sie erledigte, die sie nicht selbst machen konnte. So einfach, den Problemen aus dem Weg zu gehen.
Hannes sagte ihr manchmal, dass man die Dinge langsam angehen müsse. Immer einen Schritt nach dem anderen. Er war so behutsam! So sanft. Eigentlich nicht ihr Typ, aber seine weiche Stimme hatte sie verzaubert.
Sie hatte ihn nicht verdient. Und Hannes hatte sie nicht verdient. Insgeheim rechnete sie damit, dass er sie jeden Tag verlassen würde. Dass er alles nicht länger ertragen könnte. Die Verantwortung für sie. Die Sorge für sie.
Es war doch nur der der Weg zum Bäcker! Nur zwei Straßen weit!
Sie musste etwas tun. Sich endlich trauen, etwas zu ändern. Zum Bäcker gehen. Einfach so die Straße entlang.
Entschlossen schnappte sie sich ihren Geldbeutel und zog die Sandalen an. Sie würde Hannes zeigen, dass sie kämpfen konnte. Sie würde ihm beweisen, dass seine Mühe, dass sein Vertrauen nicht umsonst war.
Den Griff der Klinke fühlte sich kalt an in ihrer Hand. Sie legte ihr Ohr an die Tür und lauschte: Stille. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und blickte durch den Spion. Nur ein Gang. Nur die Welt – sonst nichts.
Die Klinke glitt hinunter und das Türblatt öffnete sich ein paar Millimeter. So mussten sich Astronauten fühlen, dachte sie, wenn sie die Luke zum Weltall öffneten und nichts mehr vor ihnen lag als Raum.
Hannes – ich kann das nicht. Bitte hass mich nicht!
Sie biss sich in den Finger, bis in ihrem Kopf nichts mehr war als der Schmerz der Zähne in ihrer dünnen Haut. Dann war sie draußen und hatte im ersten Moment das Gefühl, sie würde fallen. Der helle Gang drehte und wand sich vor ihr wie eine windige Hängebrücke, so dass sie sich an der kalkigen Wand festhalten musste. Auf ihrer Brust schien ein Gewicht von mehreren Tonnen zu liegen, ihr Atem kämpfte dagegen an, aber sie zwang sich, langsam und tief Luft zu holen. Bleib ruhig, ermahnte sie sich. Du schaffst das jetzt!
Langsam tastete sie sich weiter, Schritt für Schritt, sah, wie sich ihre Füße hoben und senkten, monoton, automatisch. Als sie auf die Straße trat, schloss sie für einen Augenblick die Augen, das Rauschen der Welt dröhnte in ihren Ohren, es klang wie ein Bienenschwarm, der sie umzingeln wollte. Und überall Menschen! Sie fühlte, wie Schweiß von ihren Achseln nach unten rann.
Sie wagte es nicht, die Verkäuferin anzusehen, fühlte sich nackt, bloßgestellt mit ihrer dünnen, weißen Haut. Räusperte sich. Stammelte: »Ein dunkles Brot, bitte. Mein Freund mag es so.« Mein Freund! Hannes, ich hab ein Brot gekauft!
Zurück in der Wohnung legte sie das Brot in die Küche, fiel auf die Couch, begann zu zittern und brach schließlich von Krämpfen geschüttelt in Tränen aus. Aber es ging vorbei. Das Zittern ließ nach. Sie legte die schweißnassen Sachen zur Wäsche, ging ins Bad und duschte.
»Ich hab Brot gekauft«, sagte sie, als Hannes kam. Sie versuchte, ihre Worte so beiläufig wie möglich klingen zu lassen. Hannes lächelte.
»Oh super! Toll! Mann ... ich bin so verdammt stolz auf dich! Ich hab gewusst, dass du das schaffst! Meine Süße, mein Schatz, komm, lass dich umarmen!« Dabei lehnte er die mitgebrachte Einkaufstasche an die Couch.
Laura blickte auf den braunen Gegenstand darin. Als Hannes starke Arme sie umfingen und ihr die Sicht nahmen, stieg ihr der Geruch frischen, duftenden Brotes in die Nase.