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Liefern & Lächeln
Ich betrete die Küche und rümpfe die Nase, verziehe mein Gesicht. Vielleicht wirkt es so, als würde ich lächeln. Wolken von Marzipanduftstoffen strömen mir entgegen. Da ist nur noch Aromachemie, wie in die Luft gehämmert. Wie ein Gasangriff.
„Ist übrigens Bio“, sagt Kati.
Ich betrachte ihre Hände in dem Mandelpeelingbottich. Ihre Soziologiebücher. Ihre Haare.
Sie trägt nicht einfach nur Rastas, süße, gepflegte Rastas, sondern deformierte Wülste unterschiedlicher Längen und Dicken, aus denen ein Zopf besonders hervorragt, der Ur-Rasta, der König aller Rastas, der so lange ist, dass er auf dem Linoleum schleift, wenn sie ihn nicht in die anderen einflicht. Es widert mich an, wenn ich ihn über den Boden zuckeln sehe und bestimmt bin ich nicht der einzige, der sich vorstellt, wie er auch über Tanzflächen, Toilettenfliesen oder durch Gehsteigpfützen schlängelt.
In der Uni höre ich, wie die anderen Studenten über „die Schlampe mit dem Zopf“ reden, wie sie ihn ihr „abschnippeln und anzünden“ wollen, „sie in der Mensa daran aufhängen.“
„Kati, Kati, warum stylst du dich eigentlich so? Hast du dir schon mal überlegt, wie das auf andere wirkt?“, würde ich sie gerne fragen.
Sie wendet sich mir zu, lächelt: „Hier, riech mal…“
In der Uni sind ihre Lippen aufeinandergepresst. Ihre Wut ist ein erhobener Zeigefinger.
Ich lächle in der Uni immer. In Personalführung II und von Mr. Ackermann kann man lernen, dass man alles kriegt, wenn man lächelt und liefert. Zuhause entspanne ich mein Gesicht.
„Nee, lass mal…“ sage ich.
Mein I-Phonealarm klingelt. Kati schaut mich wütend an. In der Begegnung unserer Blicke zittert das Gespräch nach, das wir beim gestrigen Läuten führten.
„Ich muss“, sagte ich.
„Wohin denn?“, fragte sie
„An den Schreibtisch, Schreibzeiten einhalten.“
„Wie bitte?“
„Es kommt nicht darauf an, dass man in den festen Zeiten etwas Sinnvolles zu Papier bekommt, aber man muss sie einhalten.“
„Woher hast du denn den Mist?“
„Aus meinem Schreiblehrbuch. Schreiben kannst du lernen, wie jedes andere Handwerk auch. Und wenn du erstmal gelernt hast, etwas zu machen, das gut klingt, dann ist es auch gut.“
„Wieso willst du denn überhaupt schreiben?“
„Hm, ich weiß nicht, ich liebe Bücher. Kannst du dir einen schöneren Job vorstellen?“
„Gleich muss ich kotzen. Einen schöneren Job?! Gut gemachte Bücher!? Das klingt ja wie Café von Starbucks.“ Sie verzog das Gesicht und kreischte: „Gut gemachter Kaffee von Starbucks!“ Dann sah sie mich an, wie ein Insekt, das sie gerade besiegt hatte. „Überflüssiger Dreck. Wenn du nicht mal weißt, warum und wofür du schreiben willst, wirst du überflüssigen Dreck produzieren.“
Ich versuche, mit meinen Schuhen kaum den Boden zu berühren. Keine Geräusche. Raus aus der Küche, rein in mein Schreib-Eck.
Nachts öffnet sie meine Zimmertür, sie klopft nicht, schlägt meine Decke zurück und legt sich zu mir. Ihre Hände wecken mich, ich öffne meine Augen und das ist für sie das Startsignal. Sie zerrt meine Shorts herunter, klettert auf mich und stopft sich zwischen die Beine, was gerade erst so erwacht. Ihre Hände presst sie auf mein Gesicht und meinen Hals, so dass ich kaum noch Luft bekomme.
Am Morgen dusche ich so lange bis Kati gegen die Tür hämmert. „Denk mal über deinen Wasserverbrauch nach!“ Meine Haut riecht nach Marzipan und Sumpf und lauter seltsamen Dingen.
Ich jogge zur Bahn, schon bin ich wieder verschwitzt, das ist unprofessionell. Ich gehe mit den Kommilitonen essen und nach Makro II renne ich zurück zur Straßenbahn und schaffe es gerade noch beim Alarm meines I-Phones in der Wohnung zu sein. Kati starrt mich von ihren Bücherstapeln aus an. Den Hauptrasta hat sie um den Hals gewickelt wie eine Würgeschlange. „Schau mal, die Flyer für die Demo.“
Keine Zeit, absolut keine Zeit, aber wenn ich mir die kommenden Schimpftiraden vorstelle, verliere ich noch mehr Raum für Konzentration und so greife ich nach den Zettelchen und murmle „hm, schön, ja.“ Sie sieht mich fassungslos an. „Wo bist du denn schon wieder? Hey, ich habe ein Jahr gebraucht, um diese Demo auf die Beine zu stellen und mehr als ‚schön, ja’ fällt dir nicht dazu ein?“
Gleich fängt sie mit meiner Oma an, die ich nie anrufe, mit Umzügen, bei denen ich nicht geholfen habe, kommt von einem zum anderen und endet mit den Worten: Egozentrisches Arschloch. Kapitalist. Sau.
Kati versteht nichts von der Einsamkeit und Ruhe, die nötig ist, um etwas zustande zu bringen.
„Das tut mir leid,“ sage ich. „Hast recht,“ sage ich.
Sie blickt mich an wie ein Tier, wie ein Erdtier, so ein Höhlenwesen, das nicht weiß, ob es die Nuss fressen soll, oder nicht. Ich gehe noch einen Schritt weiter und streiche ihr über die Haare, samt Hauptrasta. Dann verzieh ich mich in das Schreibeck und sitze exakt eine Stunde und 50 Minuten am Schreibtisch. Ich küsse das weißgebliebene Papier, gehe zu meinem anderen Schreibtisch und lese, Makro II.
Als sie nachts über mir ist, wickelt sie mir den Hauptrasta um den Hals und zieht daran, ich bekomme keine Luft und versuche, sie von mir zu stoßen. Dabei fallen wir beide aus dem Bett, landen auf dem Linoleum und zerbrechen meine Nachttischlampe. Kati kichert, ich keuche und sie zieht mich zurück ins Bett, fasst mich an solange es nötig ist und steigt wieder auf.
Ich sitze mit meinen Jungs in der Mensa, es gibt Schnitzel, als Kati im Haupteingang auftaucht. Wie jeden Tag trägt sie ihr blutrotes Shirt „Kundus 2009 – größtes Massaker deutscher Soldaten seit ’45“. Ich schiebe meine Sonnenbrille über die Augen und tue so, als ob ich sie nicht sehe. Sie geht zwei, drei Schritte in unsere Richtung, greift nach ihrem Flyerstapel und legt ein paar auf den ersten Tisch. Dann steht sie da, viel zu lange, dreht sich um und trottet samt ihren Zetteln auf den Ausgang zu. Einige meiner Jungs kichern. Ich lächle.
Die Geschichte bricht heute um 17.45 Uhr ab, als mein I-Phone-Alarm aufheult. Ich betrete unsere Wohnung, es riecht nach Mandelpeeling, es riecht nach Kati, da ist ihr elender Bücherstapel und die nichtverteilten Flyer, aber die Wohnung ist still, niemand ist zu Hause.
Auf der Herdabdeckung kleben drei Post-it-Garfields untereinander.
„Hallo Maxim, ich habe heute die Ergebnisse einer Vorsorgeuntersuchung bekommen. Irgendwelche komische Zellen am Gebärmutterhals. Vielleicht ist es sogar Krebs. Ich muss sofort ins Krankenhaus zur OP-Vorbereitung. Bin am Ende – Kati.“
Kati im Schneidersitz auf dem Bett, Kati mit Haarausfall. Zuletzt wird der Hauptrasta hinabsinken, wie eine abgebrannte Rakete, und die Leute aus der Uni bekommen ihren Willen. Ich stelle mir vor, wie sie mit Glatze und eingefallenen Wangen vor ihren Büchern sitzt.
In diesem Moment läutet mein I-Phone-Alarm, ich atme ein, atme aus, atme ein, und zwinge mich in mein Schreibeck.
Am nächsten Tag ist die Küche unverändert. Ich habe nur kurz Zeit, setze mich auf die Couch und betrachte die beiden Bücherstapel. Es ist undenkbar, dass dazwischen keine Kati sitzt. Ich strecke mich, nehme das Telefon aus der Ladebuchse und lege es neben mich, genau parallel zu mir. Gemeinsam sitzen wir zehn Minuten da, bis es 17.45 Uhr ist.
Ich bin in meinem Schreibeck, vor mir das weiße Papier und kann mich nicht konzentrieren. Es dreht sich doch nur um Kopieren, Herausschneiden, neu Zusammentexten, mehr ist es doch nicht. Das Mädchen lenkt mich von allem ab. An Kati zu denken fühlt sich so an, wie an Unfug zu denken, den man mit zehn, elf Jahren macht.
Wir waren zu dritt. Kauften uns bei der Ortskrämerin Luftballons, füllten sie mit Wasser oder Urin und versteckten uns im Wald. Sobald eine ältere Dame den Weg entlang schritt, sprangen wir aus dem Gebüsch, brüllten los und bombardierten die Alte. Die Muttchen waren völlig von der Rolle, kreischten, rannten davon und wir lachten uns kaputt.
Als wir einmal schon eine Stunde umsonst gewartet hatten, durchstreiften wir das Waldstück, bis wir zu einem Friedhof gelangten. Er war völlig leer, ein Mittwochnachmittag im Oktober, nur vor einem Grab kauerte eine Frau und jätete Unkraut. Wir schlichen uns an –
Und so weiter.
Wenn da nicht dieses feste Bild der Bücherstapel wäre, wüsste ich nicht, ob Kati noch existierte. Wenn man sich bemüht, die Dinge zu bilanzieren, was ist dann ein nächtliches Pumpen von Maschinen im Krankenzimmer? Ein Geruch von Mandelpeeling und Desinfektionsmittel?
Ich lege Lehrbuch und Textmarker aus der Hand und schlurfe in mein Schreibeck. Das Din A 4 Notizbuch liegt dort, aufgeschlagen, leer.
Ich setze den Stift an, kritzele ein paar Worte, meine Hände zittern, dann klingelt das Telefon. Ich kann da jetzt nicht hin. Es schrillt siebenmal, achtmal, neunmal. So lange lässt es nur Kati läuten. Ich betrachte meine geschriebenen Sätze. Da steht nichts von dem, was ich im Kopf habe. Nichts von dem Gefühl, das ich transportieren will. Ich trenne die Seite so heraus, dass das Buch wieder neu und weiß und wunderbar aussieht.
Ich beobachte das Gebäude gegenüber. Die Haustür ist zur Hälfte aufgeklappt, eine Frau hält sie mit ihrem Gewicht im Rollstuhl geöffnet. Weiter will sie sich offenbar nicht vorwagen. Sie sitzt da und genießt die Sonne, die schon an den Frühling denken lässt. Aus irgendeinem Grund zerreißt es mir das Herz, wie sie da die Tür mit dem Rollstuhl festklemmt.
Ich bin gestresst, extrem gestresst aber setze mich einen Moment auf die Couch. Ich sehe zum Bücherstapel. Eine Spinnwebe verbindet die beiden obersten Werke. Nein, das ist Einbildung. Ich setze mich, zum ersten Mal wahrscheinlich, auf Katis Platz. Ich nehme das oberste Buch vom linken Stapel und klappe es auf. „DER KOMMENDE AUFSTAND – Nautilus Flugschrift.“
Mittellose Freude … Nichtökonomische Aspekte … Prekäre Verhältnisse. Ich habe das Gefühl, in Katis Kopf zu lesen. Das fühlt sich schön an. Warm und zuhause. Ich spiele mit der Tastatur unseres Festnetzanschlusses, tippe Ziffer um Ziffer ein, als mein I-Phonealarm losheult.
Während ich im Makro-II-Modul sitze, vibriert wieder und wieder mein Telefon. Ich schalte es aus, bis nach Personalführung-III und als ich es auf dem Heimweg hochfahre, ruft die Mailbox an.
„Maxim, ich bin es. Hör mir zu, ich will dich nicht angreifen, ich bitte dich nur, übernimm einmal Verantwortung. Nicht für mich, wirklich nicht. Ich möchte nur, dass du die Flyer für die Demo verteilst. Ich weiß, dass dir sowas peinlich ist, dass es dich nicht interessiert, aber ich bitte dich. Bitte, halt den Termin ein. Nach allem was war.“
Wie soll ich denn, verdammt noch mal, einen klaren Gedanken fassen, solange hier diese Bücher und Flyer von Kati liegen. Seit Tagen schreibe ich kein Wort und damit noch weniger als sonst. Ich nehme meine Sonnenbrille ab und schlage mir mit der Handfläche einmal auf die linke, dann auf die rechte Wange. Diese Scheiße lenkt mich ab, sie lenkt mich ab. Ich bin verdammt unprofessionell.
Ich zerre einen Müllsack aus dem Küchenschrank und werfe die Bücherstapel und die Flyer hinein. Bevor ich es mir anders überlegen kann, öffne ich den Abstellraum, verknote den Sack und stopfe ihn ins Eck, hinter die alten Farbeimer. Dann gehe ich zurück in die Küche und wische den Tisch mit Schwamm und Seife sauber.
Ich schreibe wundervolle drei Stunden und zehn Minuten. Dann habe ich das Soll erfüllt und meine Beine tragen mich gerade noch ins Bett.
Ich bin in Katis Krankenzimmer, das von Frühlingswind und Mandelduft durchweht wird. Beide Fenster stehen offen, oder nein, es sind gar keine eingebaut, da sind nur die beiden Öffnungen in dem weißen Putz und Kati fragt mich, wieso ich ihr kein Geschenk mitgebracht habe. Einen Leuchtturm oder wenigstens eine Taschenlampe. Und ich sage: „Das weißt du doch. Es ist doch so wenig Zeit.“ Sie antwortet etwas Belangloses, Nettes. Und dann lächeln wir beide, lächeln uns zum ersten Mal an.