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Mein Vater
Manche sagen, mein Vater sei schon immer seltsam gewesen. Schon als Kind. Er habe so eine Art gehabt, einen anzuschauen, sagen sie. Aus diesem hageren Gesicht, mit den dünnen, weizenblonden Haaren. Er hätte etwas an sich gehabt, was nicht in die damalige Zeit gepasst hätte. Etwas Altes. Einmal seien sie auf einer Brücke gesessen, keiner sehr hohen, es gibt sie heute noch, vielleicht drei, vier Meter über einem Bächlein, hätten die Füße hinunterbaumeln lassen und herumgekaspert. Und der größte von ihnen, Herr Marquardt hieß er später - er hat den Schuhladen seines Vaters übernommen und ist vor ein paar Jahren an Darmkrebs gestorben -, der meinte: „Lasst uns springen.“ Und die anderen natürlich auch: „Ja, genau. Wer nicht springt, ist ein Feigling.“ Und mein Vater, der ganz links gesessen hatte, das wissen die Leute noch, sei einfach runtergesprungen. Obwohl die anderen das natürlich nur als Scherz gemeint hatten, als Mutprobe. Und mein Vater sei dann mit Schrammen im Gesicht im Wasser gestanden und hätte sie von da unten mit grimmigen Augen angesehen, das sagen sie: „grimmig“. Und ihnen oben hätte es die Sprache verschlagen. Aber mein Vater habe kein Wort gesagt, habe sie auch nicht aufgefordert, jetzt doch auch zu springen oder sie geneckt mit ihrer Feigheit, mein Vater sei mit nassen Kleidern nach Hause gegangen. Und danach habe er nie wieder mit ihnen gespielt.
Wenn ich meine Mutter frage, ob mein Vater seltsam gewesen sei, sagt sie nichts. Es ist nicht so, dass sie mir nicht antwortet oder dass sie mich ignoriert. Sie hört die Frage einfach nicht. In ihrer Welt gibt es diese Frage nicht. Wenn ich sie frage, wie sie ihn damals kennengelernt hat, ob sie ihn geliebt hat, ab wann sie ihn geliebt hat, wann sie sicher gewesen sei, ihn geliebt zu haben? Ob es da einen Punkt gegeben habe, einen magischen Moment, etwas, von dem sie erzählen könne, als sei es gestern passiert, dann gibt es diese Fragen für sie nicht. Sie macht mit dem weiter, was sie gerade gemacht hat. Legt die Wäsche ordentlich zusammen, rührt im Topf umher oder liest in ihrem Buch.
Und wenn mich jemand fragt, wie mein Vater so gewesen sei. Dann ist es eine Mutprobe. Derjenige hat sich überwinden müssen, mich das zu fragen. Meist sagt er vorher, dass es okay sei, wenn ich nicht darüber sprechen wolle. Müsse ja schwer für mich sein, darüber zu sprechen. Aber ich solle mir keine Sorgen machen. Man höre mir zu. Man sei nur interessiert. Aber es ist nichts, was man so eben fragt. Es ist keine Frage nach einem unwichtigen Detail, nach einem Puzzlestückchen, das man noch braucht, um ein Bild vollständig zu haben. Wenn mich jemand fragt, wie mein Vater so gewesen sei, sage ich immer: Still. Ein ruhiger Mensch. Rauchte nicht, spielte nicht und ich habe nie etwas über andere Frauen gehört. Und dann trauen sie sich manchmal, vielleicht wenn sie schon etwas getrunken haben, dann trauen sie sich und fragen: „Und zu Kindern?“ Nein, sage ich dann. Gar nichts. „Und zu dir?“, fragen die Allermutigsten. Und ich weiß natürlich, was sie hören wollen, dass er mich angefasst hat, dass es schlimm war, ganz grausig, aber Nein. Nein, Nein und nochmals Nein. Still sei er gewesen. Ganz still.
Wenn mich meine Kinder mal nach ihm fragen werden, obwohl ich nicht weiß, ob ich je Kinder haben werde, weil mich ihre Mutter wahrscheinlich nach meinem Vater fragen wird, wenn mich meine Kinder mal nach meinem Vater fragen werden, weil sie von ihm gehört haben, weil sie immer von ihm hören werden, weil so etwas einen verfolgt, weil es wie ein Schatten über einem kreist, weil man daran denkt, wenn man sich die Zähne putzt, wenn man den Wagen anlässt und wenn man auf einen alten Baum starrt, im Winter, wenn er kein Laub mehr trägt. Wenn mich meine Kinder nach ihm fragen werden, werde ich sagen: Er hat nichts mit euch zu tun. Gar nichts. Und ich werde sie anlächeln.