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So, jetzt wird geröncht.

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13.02.2008
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So, jetzt wird geröncht.

Meine Freundin hieß Marilyn. Sie war nicht wie meine anderen Freunde – sie wohnte gegenüber. Wir lebten gemeinsam in der Bärenstraße. Am Ende der Straße war eine Mauer, die uns den Weg zur Wupper versperrte. Auf die Flussseite der Mauer hatte jemand einen schönen Bären gemalt, den man von der Schwebebahn aus sehen konnte. „Damit die Bärenstraßenkinder wissen, wo sie aussteigen müssen“, sagte meine Mutter. Daneben stand „Sonne statt Reagan“, aber das war nicht zum Nachhausefinden gedacht und hatte mit Regen gar nichts zu tun.
Marilyn durfte nicht alleine Schwebebahn fahren. Sie war viel größer als ich und breit mit vielen dunklen Haaren und öligen Augen. Sie hatte nie Ideen, was wir spielen könnten. Daher musste ich immer sagen: „Lass uns Nahrung suchen!“
Nahrungssuche war Teil jeden Spiels, egal ob wir Igel oder Ozelote waren. Der Budenbau kam zuerst, aber dann mussten Vorräte in die Höhle getragen werden.
Bei uns in der Küche konnte man Reiterchen finden – Käsebrote in leckere Würfel geschnitten. Wenn die Reiterchen besonders klein waren, hießen sie Krankenbrot. Und wenn ich sie ganz winzig schnitt, waren sie Totenbrot und guter Vorrat – wie Pemmican. Marilyn verstand die Notwendigkeit der Nahrungssuche niemals wirklich, auch wenn sie mir folgte. In ihrer Wohnung gab es immer die dicke Mutter. Es roch nach Bratfett und Marilyn musste zum Mittagessen hin, selbst wenn sie viele Reiterchen gegessen hatte. Einmal wollte ich sie abholen, um Nahrung in einem Töpfchen für den Winter im Sandkasten zu verbuddeln, aber sie war gerade in die Schule gekommen und musste ein Bild ausmalen, obwohl sie keine Lust dazu hatte.
Marilyn kannte kaum Tierarten und war schlecht im Hüpfen auf Flusssteinen. Trotzdem behandelte sie mich wie ein Baby. Wenn ich aufs Klo ging, kam sie mit, damit sie mir nachher die Unterhose hochziehen und das Unterhemd durch die Beinlöcher zerren konnte. Die Stoffzipfel sahen aus wie Flügel und ich wusste, dass das Rauszerren unsinnig war. Das sagte auch meine Mutter.
Manchmal tat Marilyn Dinge, die mir dumm erschienen. Wann immer wir uns vor meiner Schwester in einem Hauseingang versteckten, musste sie aus dem Eingang auf die Bärenstraße rotzen und verriet uns durch das Schnoddergeräusch und die fliegende Spucke. Sie rotzte immer viel rum und sagte, das könne sie gar nicht verhindern. Es müsse einfach raus.
Zu meinem fünften Geburtstag bekam ich ein Meerschweinchen, weil ich nun alt genug für so eine Art von Tier war. Da konnte ich schon mal auf Katze üben. Mein Vater schlug vor, das Meerschwein Felix zu nennen, und ich hatte keine Einwände.
Viel konnte man mit Felix nicht machen, weil er nie angefasst werden wollte. So war das eben, aber Marilyn beschwerte sich sehr über Felix, weil man nicht gut mit ihm Doktor spielen konnte. Immer wieder streifte er sich die Klopapiergipse von den Stummelbeinen. Da nahm Marilyn ihn um den Bauch, obwohl ich ihr gesagt hatte, dass man ihn so nicht anfassen durfte, und drückte ihn vor sich auf den Boden, damit er nicht wegrennen konnte. Mit der freien Hand nahm sie das Puppenhausdach und sagte: „So, jetzt wird geröncht.“
„Ge-röncht“ sagte sie, weil sie das Dach auf der letzten Silbe mit aller Kraft und ihrem gesamten Gewicht auf mein Meerschweinchen presste. Ich spürte die Reiterchen sauer in meinen Hals steigen und ich wusste, dass das Rönchen nicht zurückgenommen werden konnte. Danach musste Marilyn zum Abendessen. Ich spielte weiter mit Felix.
Als meine Mutter abends von der Arbeit nach Hause kam, zeigte ich ihr, wie gut man jetzt Felix' Zähnchen untersuchen konnte und wie steif die zarten Pfoten in ihren Klopapierverbänden geworden waren.
Am nächsten Morgen holte ich Marilyn ab, um Felix in seinem Schuhkarton zu verbuddeln. Man durfte ihn jetzt nicht mehr anfassen, denn er war tot und hatte Leichengift.
Als mein Vater auszog und meine Mutter uns ein neues Haus mit neuen Nachbarskindern fand, endete meine Bärenstraßenfreundschaft mit Marilyn.

 
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Hallo Feirefiz,

Gern gelesen! Wurde ja schon gesagt, aber die Kinderlogik, und was sie auswählt zu beschreiben, kommt wunderbar rüber. Natürlich kannst Du den Erwachsenen in Dir nicht abstellen. Wenn's eine Fünfjährige erzählt hätte, würde der Text ganz anders aussehen und wäre keine KG. Als Erwachsener diese Denkensweise glaubhaft rüberzubringen ist ja gerade der Reiz davon. Was sich im Kopf eines Kindes wirklich abspielt, können wir gar nicht mehr wissen. Die Erzählweise hat mich an "Le petit Nicolas et ses copains" (Jean-Jacques Sempé) erinnert. Sonst habe ich in dem Stil noch nichts gelesen.

Der einzige Satz, der mir beim Lesen zu erwachsen klang war:

"Ich akzeptierte das"

Besonders gut gelungene Beispiele dieser Kindersicht sind meiner Meinung nach:

"Marilyn durfte nicht alleine Schwebebahn fahren. "

"musste ein Bild ausmalen, obwohl sie keine Lust dazu hatte."

"Da konnte ich schon mal auf Katze üben."

"Viel konnte man mit Felix nicht machen, weil er nie angefasst werden wollte. "

"ich wusste, dass das Rönchen nicht zurückgenommen werden konnte. "

"zeigte ich ihr, wie gut man jetzt Felix' Zähnchen untersuchen konnte und wie steif die zarten Pfoten in ihren Klopapierverbänden geworden waren."

"Man durfte ihn jetzt nicht mehr anfassen, denn er war tot und hatte Leichengift."

"Als mein Vater zurück zur Oma zog und meine Mutter uns ein neues Haus mit neuen Nachbarskindern fand, endete meine Bärenstraßenfreundschaft mit Marilyn."

So könnte eine Scheidung wohl aus der Sicht eines Kindes aussehen. Ich kauf's Dir ab.

Finde "Tod eines Meerschweinchens" als Handlungsfaden durchaus genügend um eine recht typische Kinderfreundschaft (die sich in diesem Alter eher zufällig - weil man halt gegenüber wohnt - und nicht aus persönlichen Sympatien ergeben) darzustellen. Wie eine solche Freundschaft endet sie eben auch. Mit dem Umzug.

Gern gelesen und geschmunzelt

Liebe Grüsse

Elisabeth

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo feirefiz,

bin gerade eher zufällig auf Deine Geschichte gestoßen und mag sie sehr gern. Für mich entsteht tatsächlich der Eindruck, als würde hier eine Erinnerung wiedergegeben, und die sind nun einmal lückenbehaftet und folgen keiner bestimmten Richtung. Zudem wird deutlich, dass es kindliche Erinnerungen sind, da die Selbstbetrachtung über über andere (Marilyn, Vater zum Beispiel) erfolgt und auch die moralische Bewertung ausbleibt. Den Namen Felix empfinde ich als interessant gewählt, denn glücklich war das arme Tier wohl kaum. War das Absicht?

Mein Lieblingssatz ist auch der "auf Katze üben", herrlich! Aber was im Himmel sind ölige Augen? Ein weiteres Detail, was dafür sorgt, dass Marilyn nicht zum Sympathieträger werden kann. :-)

Also, einen schönen Sonntag noch,
Hanami

 

Hallo Leute,

entschuldigt bitte die Verspaetung.

Arek: Also mit action habe ich so meine Probleme. Mit Spannung auch - natuerlich muss ein Text den Leser irgendwie reinziehen, aber ob das unbedingt Tod sein muss und nicht einfach eine huebsches Bild sein darf - ich weiss es nicht. Ich schreib demnaechst mal was ganz anderes - mit Inhalt und Spannung und Botschaft. Ihr werdet euch wundern!

Hallo Aris,

danke fuers Lesen. Ich werde die Sprache gleich nochmal durchsieben. Ja, "akzeptieren" passt nicht und fliegt raus. Ist natuerlich gemein, deshalb die gesamte Sprache ungelungen zu finden.

Hallo Elisabeth,

freut mich sehr, dass es bei Dir angekommen ist. Bei der langen Zitatliste hatte ich erst Bange, dass es alles Mecker ist. Aber war ja zum Glueck nicht :) UNd wie gesagt, "akzetieren" kommt weg.

So könnte eine Scheidung wohl aus der Sicht eines Kindes aussehen. Ich kauf's Dir ab.

Finde "Tod eines Meerschweinchens" als Handlungsfaden durchaus genügend um eine recht typische Kinderfreundschaft (die sich in diesem Alter eher zufällig - weil man halt gegenüber wohnt - und nicht aus persönlichen Sympatien ergeben) darzustellen. Wie eine solche Freundschaft endet sie eben auch. Mit dem Umzug.

Schoen, dass Du das so verstanden hast, wie ich es meinte - diese Umstandsfreundschaft.

Hallo Hanami,

bin gerade eher zufällig auf Deine Geschichte gestoßen und mag sie sehr gern. Für mich entsteht tatsächlich der Eindruck, als würde hier eine Erinnerung wiedergegeben, und die sind nun einmal lückenbehaftet und folgen keiner bestimmten Richtung. Zudem wird deutlich, dass es kindliche Erinnerungen sind, da die Selbstbetrachtung über über andere (Marilyn, Vater zum Beispiel) erfolgt und auch die moralische Bewertung ausbleibt.
Danke, danke. Das macht mich sehr gluecklich, was Du da schreibst, denn genau so sollte es wirken.

Den Namen Felix empfinde ich als interessant gewählt, denn glücklich war das arme Tier wohl kaum. War das Absicht?
Das Schwein hiess wirklich so. Und es passte als Ironie der Geschichte natuerlich vorzueglich.

Oelige Augen sind dunkel und irgendwie traege, wie hinter einem Oelfilm glupschen sie umher und sind keinesfalls sympathisch.

Vielen Dank euch allen,
feirefiz

 

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