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So, jetzt wird geröncht.
Meine Freundin hieß Marilyn. Sie war nicht wie meine anderen Freunde – sie wohnte gegenüber. Wir lebten gemeinsam in der Bärenstraße. Am Ende der Straße war eine Mauer, die uns den Weg zur Wupper versperrte. Auf die Flussseite der Mauer hatte jemand einen schönen Bären gemalt, den man von der Schwebebahn aus sehen konnte. „Damit die Bärenstraßenkinder wissen, wo sie aussteigen müssen“, sagte meine Mutter. Daneben stand „Sonne statt Reagan“, aber das war nicht zum Nachhausefinden gedacht und hatte mit Regen gar nichts zu tun.
Marilyn durfte nicht alleine Schwebebahn fahren. Sie war viel größer als ich und breit mit vielen dunklen Haaren und öligen Augen. Sie hatte nie Ideen, was wir spielen könnten. Daher musste ich immer sagen: „Lass uns Nahrung suchen!“
Nahrungssuche war Teil jeden Spiels, egal ob wir Igel oder Ozelote waren. Der Budenbau kam zuerst, aber dann mussten Vorräte in die Höhle getragen werden.
Bei uns in der Küche konnte man Reiterchen finden – Käsebrote in leckere Würfel geschnitten. Wenn die Reiterchen besonders klein waren, hießen sie Krankenbrot. Und wenn ich sie ganz winzig schnitt, waren sie Totenbrot und guter Vorrat – wie Pemmican. Marilyn verstand die Notwendigkeit der Nahrungssuche niemals wirklich, auch wenn sie mir folgte. In ihrer Wohnung gab es immer die dicke Mutter. Es roch nach Bratfett und Marilyn musste zum Mittagessen hin, selbst wenn sie viele Reiterchen gegessen hatte. Einmal wollte ich sie abholen, um Nahrung in einem Töpfchen für den Winter im Sandkasten zu verbuddeln, aber sie war gerade in die Schule gekommen und musste ein Bild ausmalen, obwohl sie keine Lust dazu hatte.
Marilyn kannte kaum Tierarten und war schlecht im Hüpfen auf Flusssteinen. Trotzdem behandelte sie mich wie ein Baby. Wenn ich aufs Klo ging, kam sie mit, damit sie mir nachher die Unterhose hochziehen und das Unterhemd durch die Beinlöcher zerren konnte. Die Stoffzipfel sahen aus wie Flügel und ich wusste, dass das Rauszerren unsinnig war. Das sagte auch meine Mutter.
Manchmal tat Marilyn Dinge, die mir dumm erschienen. Wann immer wir uns vor meiner Schwester in einem Hauseingang versteckten, musste sie aus dem Eingang auf die Bärenstraße rotzen und verriet uns durch das Schnoddergeräusch und die fliegende Spucke. Sie rotzte immer viel rum und sagte, das könne sie gar nicht verhindern. Es müsse einfach raus.
Zu meinem fünften Geburtstag bekam ich ein Meerschweinchen, weil ich nun alt genug für so eine Art von Tier war. Da konnte ich schon mal auf Katze üben. Mein Vater schlug vor, das Meerschwein Felix zu nennen, und ich hatte keine Einwände.
Viel konnte man mit Felix nicht machen, weil er nie angefasst werden wollte. So war das eben, aber Marilyn beschwerte sich sehr über Felix, weil man nicht gut mit ihm Doktor spielen konnte. Immer wieder streifte er sich die Klopapiergipse von den Stummelbeinen. Da nahm Marilyn ihn um den Bauch, obwohl ich ihr gesagt hatte, dass man ihn so nicht anfassen durfte, und drückte ihn vor sich auf den Boden, damit er nicht wegrennen konnte. Mit der freien Hand nahm sie das Puppenhausdach und sagte: „So, jetzt wird geröncht.“
„Ge-röncht“ sagte sie, weil sie das Dach auf der letzten Silbe mit aller Kraft und ihrem gesamten Gewicht auf mein Meerschweinchen presste. Ich spürte die Reiterchen sauer in meinen Hals steigen und ich wusste, dass das Rönchen nicht zurückgenommen werden konnte. Danach musste Marilyn zum Abendessen. Ich spielte weiter mit Felix.
Als meine Mutter abends von der Arbeit nach Hause kam, zeigte ich ihr, wie gut man jetzt Felix' Zähnchen untersuchen konnte und wie steif die zarten Pfoten in ihren Klopapierverbänden geworden waren.
Am nächsten Morgen holte ich Marilyn ab, um Felix in seinem Schuhkarton zu verbuddeln. Man durfte ihn jetzt nicht mehr anfassen, denn er war tot und hatte Leichengift.
Als mein Vater auszog und meine Mutter uns ein neues Haus mit neuen Nachbarskindern fand, endete meine Bärenstraßenfreundschaft mit Marilyn.