Hallo Anakreton,
„Innert kurzer Zeit hatten zwei Texte, veröffentlicht in den Rubriken Experiment resp. Alltag, zu einem Eklat geführt. Rede und Gegenrede, ob diese die Kriterien einer Kurzgeschichte erfüllen, führten an den jeweilig betroffenen Autoren vorbei, da diese sich vermutlich überfordert fühlten.“
Na, da muss ich doch ein bisserl widersprechen: Anakreton, du verwechselst da etwas: der Typ in meinem Text war überfordert, nicht ich – weder „vermutlich“ noch mit Sicherheit. Von „Eklat“ zu sprechen … da gab es im Forum schon ganz andere Sachen.
Eine seltsame Aussage von dir, wenn du doch eigentlich solche Standards willst:
„sollten heutzutage in einem literarischen Forum solche Fragen ohne verbale Verletzungen möglich sein.“
In der Diskussion zu meinem Text gab es auch keine Verletzungen. Ich fand sie eher anregend und höflich, auch wenn es keine Einigung gab.
„Nicht deshalb, weil sie keine exakte Wissenschaft ist, sondern wegen ihres retrospektiven Charakters. Es obliegt ihr nicht, die zukünftigen Entwicklungen von Literaturformen festzulegen. Diese sind im gesellschaftlichen und schöpferischen Kontext offen, auch Kurzprosa ist davon nicht abgespalten.“
Das sehe ich auch so. Trotzdem habe ich hier im Forum schon wiederholt die Meinung vertreten, dass gewisse Einschränkungen nicht negativ, sondern eine Herausforderung für Autoren sind (Das zeigt sich auch bei Spielen: die Kunst ist es ja, trotz der Abseitsregel ein Tor zu schießen, die Regel gibt dem Spieler die Möglichkeit, sein Können zu zeigen).
Da die Kurzgeschichte die ‚freieste aller Kurzprosaformen ist‘ hat man genug Freiheiten.(ich schau noch mal nach, ich denke das stammt von Gelfert. War nicht Gelfert: 'die freieste Form prosaischer Darstellung‘ (Benno von Wiese)).
Das mit den „zukünftigen Entwicklungen“ ist auch wichtig: Ein Freund von mir hat noch gelernt, eine KG. müsste ein offenes Ende haben. Ich wurde noch zur Verwendung von Adjektiven verdonnert, hier im Forum wird das meistens nicht gern gesehen.
L. G.,
Woltochinon
Hallo Quinn,
„Eine Kurzgeschichte ist eine bestimmte Form der Literatur. Sie gehört zur Epik. Sie hat die Absicht, etwas zu erzählen. Sie hat einen Konflikt. Sie hat eine Handlung. Sie stellt die Handlung in Szenen dar. Die Szenen bilden einen Zusammenhang. Sie ist literarisch bearbeitet. Sie ist kürzer als die Novelle (also maximal so um die 200.000 Zeichen).“
Weder in meiner Schulzeit, noch im Studium habe ich das Kriterium ‚Konflikt“ präsentiert bekommen.
Weiß du vielleicht, aus welcher ‚Schule‘ und Zeit die Vorgabe „Konflikt“ stammt?
Wie ist „Konflikt“ definiert? Ist es schon ein Konflikt, wenn jemand Gummibärchen will, der andere aber Schokolade?
Vielleicht müssen auch nicht alle Kriterien immer (bzw. gleich stark) in einer Geschichte wahrgenommen werden.
Kannst du dir – gewissermaßen als Spiel – vorstellen, dass es eine Geschichte ohne Konflikt gibt? (sei sie noch so schlecht).
Ein Konflikt macht eine Geschichte sicher interessant und ist ein guter ‚Kern‘ für einen Text, ich will also nicht darauf hinaus, dass es keinen Konflikt geben darf.
Häferl hat (Beitrag 7) folgendes zitiert:
Im Reclam-Heft »Wie interpretiert man eine Novelle und eine Kurzgeschichte?« (ISBN 3-15-015030-2) findet sich folgende Definition:
Zitat:
Was ist eine Geschichte?
Geschichte bedeutet Geschehenes. Wer aber eine Geschichte erzählt, berichtet nicht von Geschehenem, sondern erzählt ein Geschehen. Jedes Geschehen läßt sich berichten, aber nicht jedes läßt sich als Geschichte erzählen. Damit es zu einer Geschichte werden kann, müssen bestimmte Bedingungen erfüllt sein. In seiner einfachsten Form ist ein Geschehen der Übergang von einem Zustand A zu einem Zustand B. Selbst wenn wir an einen extrem sensationellen Übergang denken, werden wir schnell erkennen, daß daraus allein noch keine Geschichte werden kann. Angenommen, ein Mann springt von einer Brücke und ertrinkt. Auch der geschickteste Geschichtenerzähler könnte dieses Geschehen nur berichten, er wäre außerstande, daraus eine Geschichte zu machen. Damit eine solche entstehen kann, muß der Zustand B, also das Ertrinken, zunächst ungewiß bleiben. Selbst wenn der Mann noch eine Weile um sein Leben kämpft, sich womöglich rettet, bleibt es immer noch ein Geschehen, das nur berichtet, nicht als Geschichte erzählt werden kann; denn sowohl der Tod als auch das Überleben des Mannes wäre die lineare Weiterführung des Zustandes A auf der Brücke. Eine Geschichte braucht aber ein nichtlineares Geschehen. Sie muß im Zuhörer oder Leser eine Erwartungsspannung der Ungewißheit aufbauen und diese dann durch das Eintreten einer unvorhergesehenen Wendung lösen. Selbst die handlungsärmste Geschichte braucht eine solche nichtlineare Wendung im Ablauf des Geschehens. Anderenfalls könnte sie nicht den von jeder Geschichte erwarteten Aufbau einer Spannung und danach deren Lösung bewirken. Damit aus einem linearen Geschehen ein nichtlineares wird, muß ihm zunächst etwas entgegenwirken. Im Falle unseres Beispiels könnte dieses zweite Geschehen darin bestehen, daß ein anderer Mann hinterherspringt, um den ersten zu retten. Auch dies ist ein lineares Geschehen, an dessen Ende nur der Erfolg oder das Scheitern des Rettungsversuchs stehen kann. Und wieder könnte das Geschehen nur berichtet, aber nicht erzählt werden; denn im Fall der Rettung würde die Hoffnung des Zuhörers, im Fall des Scheiterns seine Befürchtung erfüllt. Es käme aber zu keinem Aufbau einer Ungewißheitsspannung mit deren abschließender Lösung. Offensichtlich fehlt noch ein drittes Element, um das Geschehen als Geschichte erzählbar zu machen. Es muß etwas eintreten, wodurch das lineare Geschehen eine unverhoffte Wendung erhält. Dies könnte z. B. darin bestehen, daß der mutige Retter ein Nichtschwimmer ist, während der vermeintliche Selbstmörder sich als guter, aber betrunkener Schwimmer entpuppt. Schlagartig eröffnen sich für die Geschichte zwei mögliche Ausgänge, ein ernster und ein heiterer. Im ernsten Fall klammert sich der Retter an den Betrunkenen und reißt ihn mit in den Untergang, im heiteren Fall muß der Betrunkene sich seinerseits abmühen, seinen Retter zu retten. Beides wäre Stoff für eine Geschichte.
Zugegeben, es wären beides recht triviale Geschichten. Aber selbst künstlerisch hochrangige sind auf dieses Schema angewiesen, nur ersetzen sie das triviale physische Handeln durch psychisches Geschehen. Etwa so: Eine Frau lädt zu einer Party eine andere Frau ein, von der sie fasziniert ist, die ihr Mann aber nicht zu mögen scheint. Sie bemüht sich, ihren Mann umzustimmen. Am Ende der Party beobachtet sie ihn bei der Verabschiedung der Gäste, und plötzlich erkennt sie an der Art, wie er der anderen den Mantel umlegt, daß die beiden ein Verhältnis haben. Dies ist der Kern einer äußerst geschehnisarmen Kurzgeschichte von Katherine Mansfield mit dem Titel Glück. Es ist zugleich ein Musterbeispiel für die Minimalstruktur einer Geschichte.
Noch kürzer: Einem elektrischen Pluspol nähert sich ein Minuspol. Wir erwarten den Spannungsausgleich durch Kurzschluß. Da gerät ein unerwarteter Widerstand in Gestalt einer Glühbirne dazwischen. Die Lampe leuchtet auf, und schon ist es eine Geschichte.
L. G.,
Woltochinon