@Woodwose und andere
Aber: Einen Alltagsgegenstand zu nehmen und in einen anderen Kontext zu stellen, ist (was für ein Wortspiel) keine Kunst, im Sinne von: Das kann doch jeder.
Es gibt gewisse Missverständnisse, die erweisen sich erfahrungsgemäß als recht hartknäckig und dauerhaft. Dazu gehört etwa die Verwechslung der Begriffe Kunst und Handwerk.
Jeder kennt den Satz: "Das ist doch keine Kunst!"
Was man aber eigentlich viel eher mit diesem Satz meint, ist wohl so etwas wie "Das ist doch kein Handwerk!"
Es wird also einfach aufgrund eines weitverbreiteten Missverständnisses ein Begriff, den man nicht versteht, durch einen weiteren, den man versteht, einfach ersetzt. Damit verschwindet jedoch der frühere, viel weiter gefasste Sinngehalt des Wortes "Kunst" oder auch "Kunstwerk". Das ist der Vielfalt und der Entwicklungsfähigkeit einer Kultur sicherlich abträglich, von den meisten aber bedauerlicherweise erst gar nicht wahrnehmbar (als Konsequenz daraus fühlen sie sich daher von der Kunst manchmal einfach "verarscht").
[...] ein Pissoir ausstellt und behauptet, das wäre Kunst. Ich könnte am Ergebnis keinen Unterschied feststellen, und ich behaupte jetzt mal, das könnte niemand.
Aber das ist doch nicht wahr: Aufgrund des
Ausgestellt-Seins des Pissoirs manifestiert sich ein ganz erheblicher Unterschied. Nämlich derjenige einer Verschiebung des Kontextes dieses Objekts (oder eigentlich besser gesagt:
Hinfortnahme eines Kontextes) aus einer
allgemein gültigen, festgelegten und eindeutigen Funktion hin zu der Möglichkeit eines
völlig frei zuweisbaren Sinngehaltes weil uns im neuen Kontext des Ausgestellt-Seins in einem Museums kein solcher mehr einfach "frei Haus" mitgeliefert wird.
Ein erhebliches Missverständnis liegt wohl darin begründet, dass wir häufig meinen, der Sinngehalt eines Gegenstandes muss in diesem selbst sozusagen "begraben" liegen und es ist die Angelegenheit eines Kunstsachverständigen, diesen vermeintlich immanenten Sinngehalt "auszugraben". Im Zeitalter der Postmoderne ist diese einseitige Interpretation aber nun mal längst überholt. Sinngehalte sind zeitlich und kulturell abhängig und nicht etwa statisch. In hundert oder zweihundert Jahren erfüllen heutige Gegenstände in der Form eines Pissoirs (oder Gegenstände, die diesen sehr ähnlich sehen) vielleicht eine ganz andere, neuartige Funktion als sie es heute tun (und die alte wird bis dahin vergessen sein). So wie es, andersherum, vor hundert Jahren (meines Wissens nach oder einfach angenommen) noch keine Pissoirs im heutigen Sinne gab, stattdessen aber Gegenstände, die diesen zum Verwechseln ähnlich sahen und zB., was weiß ich, in der Küche zum Filtern großer Mengen Tee oder zum Servieren einer Suppe gebraucht wurden (das ist jetzt völlig aus der Luft gegriffen, aber es sollte klar werden, worauf ich hinaus will).
Auf diesen Umstand der Relativität von Sinnzuweisungen aufmerksam zu machen ist u.a. Aufgabe heutiger Kunst.
Noch ein anderes Beispiel aus einem anderen Blickwinkel das mir heute nachmittag dazu einfiel. Nehmen wir an, ich lege einen bestimmten Menschen oder eine Gruppe von Menschen auf eine Funktion hin fest. So hat man das früher zB. mit Sklaven gemacht. Und noch vor einigen Jahrzehnten geschah das etwa mit den Frauen. Das ging bekanntlich so weit, dass man unter dem Begriff "Menschen" ganz selbstverständlich nur männliche, zivilisierte Weiße verstand. Meinte man hingegen tatsächlich einmal ungewöhnlicherweise Weise die Summe der Menge "Menschen", Frauen und Sklaven musste man sich schon sehr umständlich ausdrücken um noch richtig verstanden zu werden.
Heute ist man zum Glück so weit, dem Menschen im modernen, nicht mehr länger gewisse Teile dieser Menge ausschließenden Verständnis generell keine feststehende(n) Funktion(en) mehr zuzuweisen. Der Mensch wurde damit in die ungewohnte, existenzialistische Freiheit entlassen und muss sich seinen eigenen Sinngehalt - nicht selten zu seinem Leidwesen - nun schon selbst suchen.
Wir legen den Sinn der Existenz eines Menschen also nicht mehr länger fest. Warum sollten wir diese Festlegung aber bei den Gegenständen, die uns täglich umgeben, hingegen weiter beibehalten? Es ist vielleicht nur eine Frage der Zeit, bis wir uns auch davon endlich befreit haben.
Meiner Meinung nach hat ein Kunstwerk, so echt und ehrlich es auch sein mag, das man nicht vom Produkt einen Witzbold oder Scharlatans (oder auch eines unfähigen Künstlers) unterscheiden kann, ein Problem. Das wäre so, als würde ich hier eine fehlerstrotzende Geschichte veröffentlichen, deren "Fehler" aber künstlerischer Ausdruck sind.
Diese Ansicht vertreten hier sicherlich viele. Es wäre einmal interessant zu erfahren, wie die Kommentare in diesem Forum so aussähen, wenn ein James Joyce sein "Finnegan's Wake" (bzw. eine der rund ein Dutzend(?) vorhandenen und verschiedenen Übersetzungen ins Deutsche) in die Rubrik Experimente oder gar in Sonstige posten würde. Aufgrund diverser grammatikalischer und orthografischer "Schwächen" (noch ganz abgesehen vom kaum erkennbaren Sinngehalt) käme der Text wohl ziemlich schnell in unser Korrekturcenter. Nach rund vier Wochen dann würde selbiger, da er vom Autoren keinerlei Überarbeitung erfuhr, automatisch gelöscht werden.
War Joyce nun ein literarischer Scharlatan? Nur weil ihm die meisten Leser in diesem Text nicht folgen konnten oder können? Wie wäre aber noch eine weitere Entwicklung möglich, wenn sich jeder Künstler unbedingt einem (Verständnis-)Diktat seiner Rezipienten unterordnen müsste?
@lukas: Danke für deine Anerkennung. Auch ich verstehe die Ausführungen hier zum Teil durchaus als Früchte meines bisherigen Studiums. Es hilft einfach ganz allgemein das Denken zu schulen und nicht zuletzt mit alten Gewohnheiten zu brechen. Kostolany soll einmal zu jemandem gesagt haben:
"Studieren Sie Kunst und Philosophie - da lernen Sie zu Sehen und zu Denken!"
Das hab ich mir gemerkt und - abgesehen von einem Studium der Kunst, das kommt vielleicht später noch - auch beherzigt. Und bis heute (viertes Semester) nicht bereut.
Dass ich dich Adorno vermissen lasse hat damit zu tun, dass dieser wenigstens hier an der Uni München, was das übliche Lehrangebot angeht, einfach komplett ignoriert wird. Ähnlich verhält es sich übrigens zB. mit Heidegger, Bloch oder Habermas (was man dagegen regelrecht "nachgeschmissen" bekommt sind die üblichen Themen eines Nietzsche, Wittgenstein oder natürlich Kant, was die mehr personen- als sachbezogenen, philosophischen Theorien betrifft).