Science Fiction des 21. Jahrhunderts
Liebe Leser, Autoren und Zyniker!
Seit ungefähr 20 Jahren lese ich SF, ungefähr so lange schreibe ich SF-Storys. Es gibt wohl kaum ein Genre, welches ein so breites Themenspektrum ermöglicht und (abgesehen von Billig-Liebesromanen) kaum eines, in dem so viel Schund geschrieben wird - auch auf kg.de. Ich möchte hier meine Strahlenwaffe wegschmeißen und für eine moderne schriftstellerische Auseinandersetzung mit dem Genre werben, die dem 21. Jahrhundert angemessen ist.
Zunächst sei die klassische SF-Shortstory in einem Satz zusammen gefasst: Es wird eine in der Gegenwart nicht existierende Technologie/Rasse/Intelligenz postuliert, die eine spezielle Eigenschaft hat und damit einen Schlussgag verursacht. Solche Geschichten wirken extrem konstruiert und damit unlebendig (um nicht zu sagen tot), weil Figuren und Plot allein im Dienste des Gags stehen und kein Eigenleben entwickeln - sie tun nur, was der Autor will, und das ist häufig unlogisch oder nicht menschlich.
Besonders unerfreulich - auch auf kg.de - finde ich, wenn es sich bei der auftretenden Maschine um eine Zeitmaschine handelt und bei dem Schlussgag um eine Art Paradoxon. Das ist zum Gähnen, genau wie Raumschlachten, Außerirdische mit übernatürlichen Fähigkeiten und sprechende Raumschiffe. Wenn die Geschichten wenigstens mit Witz erzählt werden würden, die Figuren mehr wären als Abziehbilder ... aber meist ist das nicht der Fall.
Ich will nicht weiter darauf herum hacken. Als Schreibübungen sind solche Themen sicher brauchbar, weil die Handlung einfach gestrickt ist und man sich auf den Schreibstil konzentrieren kann - nicht zuletzt habe ich auch nicht anders angefangen. Aber mehr als ein müdes Lächeln rufen solche Themen kaum hervor, sicher regen sie selten nachhaltig zum Nachdenken an.
Das richtig dumme an Zukunftsgeschichten ist, dass wir längst in der Zukunft leben, vom Standpunkt der klassischen SF-Shortstory aus gesehen - in einer Zeit der sprechenden Computer, Handys, Mars-Raumfahrt und Gentechnik.
Mein Vorschlag ist, die heutige Zeit als Basis zu verwenden und einen scharfen Blick auf ein paar Minuten später zu werfen: Wie geht es weiter mit Gentechnik, mit den Medien, dem Internet, und nicht zuletzt mit den acht Milliarden Menschen, die damit umgehen müssen? Das interessiert mich, und da gibt es noch eine Menge Aspekte, die nicht in Geschichten beschrieben wurden. Es müssen doch nicht immer gleich die Computer die Weltherrschaft übernehmen, eine Kettenreaktion der Atomkraftwerke die Welt sprengen oder ein Virus alles Leben bis auf die Ratten vernichten.
Wie geht ein ganz normaler Niederländer mit dem Ansteigen des Meeresspiegels um, was denkt er, wenn er auf dem Deich steht und draußen das Wasser höher steht als das Dach seines Hauses drinnen?
Welche Formen nehmen Fernseh- und Internet-Werbung an, wenn die Medien noch interaktiver werden? Wie schütze ich mich davor, wie ist es um die Moral in der Werbeagentur bestellt, die mir mit unbewusster Wahrnehmung ein lebensgefährliches Produkt nahe bringt?
Lachen sich die Fernsehmacher ins Fäustchen, wenn zur Alkohol-Abhängigkeit eine TV-Abhängigkeit hinzu kommt? Was für Programme denken sich die Macher für uns aus? Wer hält die Fäden in der Hand, wer hat die Macht, wer das Geld, und was sind das für Menschen?
Wie geht ein Staat mit Kreationismus als Staatsreligion mit Gentechnik um? Was passiert bei einem überraschenden Staatsbesuch des Papstes in Mekka anno 2070 (1500. Geburtstag von Mohammed)?
Was für synthetische Drogen werden auf den Markt geworfen, und wie reagiert eine (natürlich allein erziehende) Mutter darauf, wenn ihre neunjährige Tochter anfängt, so ein Zeug zu nehmen? Und nicht zuletzt: Wie werde ich darauf reagieren, wenn ich am Arbeitsplatz durch einen Computer ersetzt werde; wird es eine Revolution geben, Progrome gegen Roboter oder eine absolute, hyperkonservative Regierung, die den technologischen Rückschritt als einzige Lösung aller Probleme betrachtet?
Als Anregung für alle SF-Autoren, sich mit diesen und Millionen anderen Themen auseinander zu setzen - im Vergleich zu einer simplen Zeitreise zweifellos eine große Herausforderung - habe ich mal einige Geschichten aufgelistet, die meiner Meinung nach in diese Richtung gehen und als Inspiration dienen können. Es ist kein Widerspruch, wenn sie witzig geschrieben sind, im Gegenteil: Dann halten sie den Leser bei der Stange, und wenn sie etwas zu sagen haben, dann kann nichts besseres passieren.
Hier die (unsortierte) Liste:
Besser als Hoodenbrock allemal von Poncher
Elternfreuden von Jismail
Ablösung von Claudio
Gottspieler von Roy Spitzke
Gummibärchen zum Frühstück von kolibri
Acht Monate, fünf Zorkmirds und sechs Dosen Bier von elaine
Ghost Story von slingshot
Der Pilot von FlicFlac
Herz der Finsternis, jetzt und auf ewig. von paranova
(Liste wird ggf.erweitert)
Solche Geschichten sind bisher wirklich in der Minderheit. Natürlich gibt es immer wieder lesenswerte Umsetzungen klassischer Ideen - aber Science Fiction kann deutlich mehr sein, als der Name sagt, es kann Utopie und Vision sein - Beschreibungen der Zukunft der Zukunft, SF des 21. Jahrhunderts eben.
In diesem Sinne, haut rein.
Uwe